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Sommerbücher

Romane für den ganzen Sommer

Sommerzeit ist Lesezeit! Vom 900-seitigen Monumentalroman bis zu pfiffigen Notizen zu Topfpflanzen, Tschick und Leben warten die ORF.at-Romanempfehlungen mit dem ganzen Spektrum auf. Divers auch die Neuerscheinungen der heimischen Autorinnen und Autoren: Neben dem literarischen Nachlass von Gerhard Roth lohnen Bücher von Mareike Fallwickl und Fiston Mwanza Mujila.

Kammerspiel als Achterbahnfahrt

In seinen bisherigen Romanen hat Gary Shteyngart seine Antihelden gern auf bizarre Reisen geschickt. In „Landpartie“ verfrachtet er seine Wendungen in ein Kammerspiel irgendwo zwischen Tschechow und Boccaccios „Decamerone“: Der russischstämmige Schriftsteller Senderovsky lädt mit Pandemiebeginn eine Handvoll Freunde in ein ländliches Refugium. In potenziell feindlicher Umgebung von Trump wählenden Hinterwäldlern geht es bald um alles: Lebenswürfe und Enttäuschungen, migrantische Herkunft und das Sterben des liberalen Amerikas, Sex und ein bisschen Coronavirus – gespickt mit leichtfüßiger Ironie, bei der die flachen Pointen genauso sitzen wie die tiefgehenden. (Christian Körber, ORF.at)

Gary Shteyngart: Landpartie. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Penguin, 480 Seiten, 25,70 Euro.

Monumentalroman über hippes Judentum

Joshua Cohen gilt nicht erst seit dem Pulitzer-Preis 2022 als Ausnahmeschriftsteller. Bis sein gerade prämierter Roman („The Netanjahus“) nächstes Jahr auf Deutsch erscheint, kann man sich die Wartezeit mit seinem 900-seitigen Opus Magnum „Witz“ vertreiben. Mit opulenter sprachlicher Erfindungsgabe und groteskem Humor entwirft Cohen eine Welt, in der eine mysteriöse Seuche fast die gesamte jüdische Weltbevölkerung sterben lässt. Als einer der wenigen überlebt Benjamin, der plötzlich zur Kultfigur wird, ist doch plötzlich nichts hipper als authentisches Judentum. Ein bitterböser Roman voller Umkehrungen, Wortspiele und hinter Scherzen verborgener Kritik. (Florian Baranyi, ORF.at)

Joshua Cohen: Witz. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Schöffling & Co, 908 Seiten, 39,10 Euro.

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New-York-Ikone mit bösem Witz

Essays quasi über alles, geschrieben in den 70er Jahren. Was erst einmal langweilig klingt, entpuppt sich als ideale Zwischendurchlektüre: In der Sammlung „New York und der Rest der Welt“ greift die New Yorker Stilikone Fran Lebowitz Umgebung und Alltag cool, böse, lustig und immer auch überraschend an, vom Rauchen über die Topfpflanzen bis zu „Kinder: pro oder kontra?“ „Entdeckt von Andy Warhol“, ist Lebowitz in New York längst ein Fixstern. Hierzulande kennt man sie durch die Netflix-Hommage „Pretend It’s a City“ ihres Freunds Martin Scorsese. (Paula Pfoser, ORF.at)

Fran Lebowitz: New York und der Rest der Welt. Aus dem Englischen von Sabine Hedinger und Willi Winkler. Rowohlt Berlin, 352 Seiten, 22,95 Euro.

Jazz, Diamanten und eine Madonna

In „Tram 83“ ging es beim auf Französisch schreibenden Grazer Autor Fiston Mwanza Mujila um eine Zusammenschau afrikanischer politischer Verhältnisse und Lebenslust, die sich in einer Jazzbar konzentrierten. In „Tanz der Teufel“ treffen Abenteurer und Tagediebe im kongolesischen Lubumbashi zusammen. Alle wollen ein Stück vom Reichtum, den die Diamantenminen versprechen. Als zentrale Figur sticht Tshiamuena, eine mythische „Madonna“, hervor. Mujila stellt ihr den niederösterreichischen Schriftsteller Franz zur Seite, der ihre Lebensgeschichte aufzeichnet. Ein energetisches, rhythmisches Buch mit ganz eigener Erzählstimme. (Florian Baranyi, ORF.at)

Fiston Mwanza Mujila: Tanz der Teufel. Aus dem Französischen von Katharina Meyer und Lena Müller. Zsolnay, 288 Seiten, 25,70 Euro.

Niemand mag wütende Frauen

Meret ist Krankenschwester in einer Klinik, die Eingriffe an den Gehirnen psychiatrischer Patientinnen durchführt. Das Ziel ist, unerwünschtes Verhalten wie Wutanfälle besonders bei jungen Frauen zu eliminieren. Meret glaubt an die Methode, doch ihre charismatische Kollegin Sarah streut Zweifel. Yael Inokai skizziert eine dystopische Gesellschaft, deren Vorstellungen davon, wie eine Frau zu sein hat, beunruhigend vertraut sind. Mit schmuckloser Sprache schafft sie eine schwebende Atmosphäre, in der Liebe, Vertrauen und Solidarität wie Verbrechen anmuten. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Yael Irokai: Ein simpler Eingriff. Hanser Verlag, 192 Seiten, 22,95 Euro.

Gott und die Liebe

Das lesbische Paar, das sich fern ihrer Familien ein neues Nest zu bauen versucht. Die Frau, die der unbekannten Stiefschwester brieflich die komplexe Familie des verstorbenen Hallodri-Vaters erläutert. Das 14-jährige Mädchen, das die Frau des Pfarrers begehrt. Die Protagonistinnen der Geschichtensammlung „Church Ladies“ sind allesamt große Liebende, miteinander verbunden durch ihre Beziehung zur schwarzen Kirche – schwärmerisch, zornig, stolz, verschmitzt. Ein literarisches Vergnügen in neun Kurzgeschichten. (Magdalena Miedl, für ORF.at)

Deesha Philyaw: Church Ladies. Aus dem Englischen von Sabine Roth und Elke Link. Ars Vivendi, 200 Seiten, 22,90 Euro.

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Alltag essen Liebe auf

Bei der Premiere eines ihrer Stücke lernt eine junge Schriftstellerin einen jungen Theatermacher kennen, die beiden verlieben sich, eine bedingungslose Amour fou entflammt. Doch mit den Jahren und dem Alltag erlischt das Feuer der Verliebtheit, am Ende bleibt die universelle Frage: Was ist Liebe und warum stirbt sie so oft? Die dänische Autorin Madame Nielsen hat mit „Lamento“ einen autobiografischen Roman geschrieben und blickt auf ihr früheres Leben und ebendiese Liebesbeziehung zurück, die sie noch als Mann führte. Eine ungewöhnliche und leidenschaftliche Geschichte, die unter die Haut geht. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Madame Nielsen: Lamento. Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. Kiepenheuer & Witsch, 208 Seiten, 16,99 Euro.

Gerhard Roth legt einen Nebel über die Welt

Im Februar ist Gerhard Roth verstorben, nicht jedoch, ohne ein letztes Monumentalwerk zu hinterlassen: „Die Imker“, eine Dystopie, die, ganz Roth, unter Zuhilfenahme der Vergangenheit die Gegenwart seziert, obwohl sie in der Zukunft angelegt ist. In dieser Zukunft ist nichts mehr, wie es war. Der Ich-Erzähler Franz Lindner berichtet über diese Zukunft, in der sich ein gelber Nebel über die Welt legt, der Menschen und Tiere verschwinden lässt, außer jene, die in Gefangenschaft waren. Viele Bezugspunkte von Roth werden hier noch einmal konsultiert (Lindner etwa ist Patient einer Nervenklinik); ein sprach- und ideengewaltiger Roman, ein würdiges Vermächtnis. (Simon Hadler, ORF.at)

Gerhard Roth: Die Imker. S. Fischer, 554 Seiten, 32,95 Euro.

Sommerreise durch den Kontinent der Fiktion

In seinem dritten Roman verwickelt der Literaturwissenschaftler und Autor Stefan Kutzenberger abermals sein Alter Ego in gröbere Wirren. Mutierte dieser in „Jokerman“ zum Propheten einer Verschwörung von Bob-Dylan-Fans, die einen Anschlag auf Donald Trump ausheckte, wird er diesmal zum Flüchtling. Krieg bricht aus in Europa, und Kutzenberger wird als Exilschriftsteller in Lateinamerika sein Ende finden. Davon wird bereits auf der ersten Seite erzählt. Bis sich der Kreis schließt, bietet „Kilometer null“ eine abgedrehte und vergnügliche Reise durch Lateinamerika und seine Literaturgeschichte. (Florian Baranyi, ORF.at)

Stefan Kutzenberger: Kilometer null. Berlin Verlag, 400 Seiten, 24,70 Euro.

Was es heißt, Frau zu sein

Kein Brief. Kein Geheimnis. Keine Erklärung. Nichts von alledem hinterlässt Helene, als sie eines Tages ohne Vorwarnung auf den Balkon tritt und hinunterspringt. Ihre Familie und ihre beste Freundin bleiben in Schockstarre zurück und müssen mit dem Unfassbaren umgehen. Die österreichische Autorin Mareike Fallwickl – Meisterin des Perspektivenwechsels – behandelt in „Die Wut, die bleibt“ die Frage, was es bedeutet, in unserer Gesellschaft Frau zu sein und ständig an der Grenze der Belastbarkeit funktionieren zu müssen. Ein aufwühlender, schmerzhafter und wahrer Roman mit einem Hoffnungsschimmer am Ende. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Rowohlt, 384 Seiten, 22,95 Euro.

Weit mehr als ein Zeitzeuge

Erich Hackl ist ein Meister darin, Lebensgeschichten zu erzählen, die weit über sich selbst hinausweisen. Diesmal widmet er sich der Biografie von Rudolf Schönwald: ein Leben mit aberwitzigen Volten, vom Durchstehen des Martyriums der NS-Diktatur als jüdischer Knabe bis zum Dasein als Künstler im bewegten Nachkriegswien an der Seite etwa Alfred Hrdlickas. Als Basis dienen Interviews mit Schönwald von Hackl und Barbara Coudenhove-Kalergi sowie Aufzeichnungen Schönwalds. Hackl hat den humorvollen Ton Schönwalds gut getroffen, der nie um Bedeutung ringt, aber immer bedeutungsvoll ist. (Simon Hadler, ORF.at)

Rudolf Schönwald: Die Welt war ein Irrenhaus. Meine Lebensgeschichte. Nacherzählt von Erich Hackl. Zsolnay, 302 Seiten, 26,80 Euro.

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Nach Mitternacht

Furcht, Schrecken und die Banalität des Mitläufertums in Nazi-Deutschland: Irmgard Keuns „Nach Mitternacht“, geschrieben 1937 im Exil, zeichnet ein intimes Bild vom Alltag nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Das heuer wieder aufgelegte Buch hat kein Fitzelchen Staub angesetzt: Kaum eine andere schrieb mit so viel Witz, ironischen Spitzen und so viel literarischem Verstand über eine Welt, die dem Untergang entgegenraste. Schon Anfang der 1930er Jahren galt die Deutsche als literarische Sensation. 1936 verließ sie Deutschland Richtung Amsterdam, wo sie mit ihrem ersten Exilroman die Absurdität der Gewaltherrschaft aus der Innenansicht bloßstellte. (Paula Pfoser, ORF.at)

Irmgard Keun: Nach Mitternacht. Claassen, 208 Seiten, 22,70 Euro.

Ein Sommer, der alles verändert

Sommer 1936: Die achtjährige Margaret hat es nicht leicht. Ihre Mutter hat nur noch Augen für den neugeborenen Bruder, der Vater predigt unausgesetzt die Bibel, Bigotterie und Langeweile prägen den Alltag. Nur die Ausflüge zum Strand mit dem lebenslustigen Kindermädchen Lydia sind ein Lichtblick. Durch Zufall lüftet Margaret ein altes Familiengeheimnis – und tritt eine Lawine von Ereignissen los, die alles für immer verändert. Gardams brillanter, erst jetzt ins Deutsche übersetzter Debütroman spürt den grausamen Auswirkungen der britischen Klassengesellschaft nach. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Jane Gardam: Mädchen auf den Felsen. Aus dem Englischen von Isabel Bogdan. Hanser Berlin, 224 Seiten, 22,95 Euro.

Familienroman über Migration und Gesellschaft

Gerade als der Familienvater Hüseyin, der jahrzehntelang in Deutschland arbeitete, sich seinen Lebenstraum erfüllt und eine Wohnung in Istanbul gekauft hat, stirbt er an einem Herzinfarkt. Sein Tod ist der Ausgangspunkt für den zweiten Roman der deutschen Journalistin und Autorin Fatma Aydemir. Besonders an „Dschinns“ sind die Wechsel in der Erzählperspektive, durch die die Autorin jedem Familienmitglied nicht nur eine eigene Sprache mitgibt, sondern auch gesellschaftliche Streitthemen anschaulich illustriert. Aydemir ist ein sprachlich fulminanter Familienroman über Migration, Gesellschaft und die Vergangenheit gelungen. (Florian Kölsch, für ORF.at)

Fatma Aydemir: Dschinns. Hanser, 368 Seiten, 24,70 Euro.

Erinnerungen an eine französische Kindheit

Einen kleinen und feinen Band mit Erinnerungen an seine Kindheitsorte in der Bretagne und rund um Nizza legt der Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clezio mit „Bretonisches Lied“ vor. Nicht „chronologisch“ geht er vor, wenn er seine Eindrücke aus einer rauen, fast vormodernen Bretagne der Jahre von 1948 bis 1954 wachruft, denn: „Kindheitserinnerungen sind langweilig und Kinder haben keinen Sinn für Chronologie.“ Vielmehr beschreibt er soziale Spannungen und verloren gegangenen Stimmungen „etwas starrsinnig und monoton“, dabei aber höchst kunstvoll. (Florian Baranyi, ORF.at)

J. M. G. Le Clezio: Bretonisches Lied. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer & Witsch, 186 Seiten, 22,70 Euro.