„Kalush Orchestra“ mit ESC-Trophäe
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Song Contest

Politik und Trennungsschmerz

So unpolitisch der Song Contest auch sein will: Das Publikum in Europa ist es nicht. Dass das Kalush Orchestra mit „Stefania“ auch ohne den Angriffskrieg Russlands gewonnen hätte, ist nicht ausgeschlossen – die historische Punktezahl, mit der das passierte, ist aber eindeutig. Dass neben dem Krieg auch die Pandemie nicht ohne Spuren am Song Contest vorbeigegangen ist, zeigt sich vor allem musikalisch – mit dem Erfolg für eine große Dichte an traurigen Balladen.

Der Favoritensieg der Ukraine kam mit einem überwältigenden Ergebnis der Stimmen der Zuseherinnen und Zuseher zustande: Das Kalush Orchestra gewann gleich 28 der 39 Publikumswertungen in den Ländern. In acht Ländern landeten sie auf Platz zwei – in nur drei waren sie schlechter platziert, mit sieben Punkten aus Serbien als schlechtestem Ergebnis. Das ergab 439 von 468 möglichen Punkten. Nach der Jurywertung war das Land „nur“ auf Platz vier gelegen.

Das Ergebnis ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Kritiker, die behaupteten, der Bewerb werde von politischen Ereignissen verzerrt oder gar entwertet. Tatsächlich nutzte Sänger Oleh Psiuk den Auftritt für eine kurze Botschaft nach dem Song – ein Hilferuf für das belagerte Stahlwerk in Mariupol. In ähnlichen Fällen verhängte die Europäische Rundfunkunion (EBU) als Veranstalter einige Monate später eine Geldstrafe.

Bei den Jurywertungen war zudem auffällig, dass gerade aus jenen Ländern die höchste Punktewertung kam, die sich durch den russischen Angriff auf die Ukraine ebenfalls bedroht fühlen, also Polen, Moldawien, Rumänien, Lettland und Litauen. Doch auch ohne diese Punkte hatte die Ukraine gewonnen.

Verklärung von Kultur und Vergangenheit

Wer abfällig über die angebliche „Schiebung“ redet, sitzt zudem meist dem Missverständnis auf, dass es eine „reine“ Kunst gibt, die nach ästhetischen oder handwerklichen Kriterien irgendwie objektiv messbar wäre. Tatsächlich wird Kunst (und auch wenn es manchmal schwerfällt, das zu sagen, die Musik beim Song Contest fällt in diese Kategorie) und vor allem Populärkultur nie unter einem Glassturz produziert, sondern in Gesellschaften, die von politischen Ereignissen geprägt sind.

Und das war beim Song Contest immer so. Als Beispiel: 1969 boykottierte Österreich den Bewerb in Spanien, weil man dem Regime von Diktator Francisco Franco keine Bühne bieten wollte. Im Jahr darauf schlossen sich weitere Länder an. Und auch das Argument, dass früher die Musik „besser“ gewesen sei, basiert wohl auf einer Verklärung der (eigenen) Vergangenheit: Studien belegen, dass Menschen jene Musik am besten finden, mit der sie sozialisiert wurden – und mit neuen Stilen im fortgeschrittenen Alter größere Probleme haben.

Eine – musikalische – Erfolgsgeschichte

Das der Mutter gewidmete Siegerlied „Stefania“ kann man jetzt gut finden oder auch nicht. Faktum bleibt, dass die Ukraine beim Song Contest eine fast unglaubliche Erfolgsgeschichte vorweisen kann. Bei 17 Antritten gab es drei Siege, fast 50 Prozent Top-Fünf-Platzierungen und kein einziges Mal verpasste man das Finale – und das durchwegs mit Songs, mit denen man nicht auf Nummer sicher ging.

Das heißt, dass die Ukraine als eines von wenigen Ländern, den Song Contest auch ernst nimmt und entsprechende Qualität liefert. Auch deshalb kann man den Sieg als musikalisch verdient ansehen. Allerdings: Ob der Song Contest tatsächlich nächstes Jahr in der Ukraine stattfinden kann, wie sich das das Kalush Orchestra wünscht, steht in den Sternen. Über mehrere Alternativen wird bereits spekuliert, etwas dass das bestplatzierte „Big Five“-Land einspringen könnte – das wäre ausgerechnet Großbritannien.

Die Ukraine gewinnt den ESC

Mit überragender Punktezahl hat die Ukraine den Song Contest gewonnen. Das Kalush Orchestra präsentierte im Anschluss an das Voting sichtlich überwältigt den Siegerbeitrag.

Erlösung mit Jesus-Lookalike

Mit dem zweiten Platz ist Großbritannien heuer so etwas wie ein Erlösungsmoment nach einer sehr, sehr langen Durststrecke beim Song Contest gelungen. Nachdem die Briten ewig auf den hinteren Plätzen herumdümpelten und sich (teils wirklich berechtigt) anhören mussten, auch keine Ambition zu zeigen, ging man es heuer mit ganz klarem Siegeswillen an. Und siehe da: Ohne Ukraine-Krieg hätte die Rechnung sogar aufgehen können.

Nicht nur, dass mit TikTok-Liebling und Chartstürmer Sam Ryder ein Jesus-Lookalike als Messias mit großer internationaler Fanbase engagiert wurde, überließ man auch beim Marketing nichts dem Zufall. Wie der „Guardian“ berichtete holte man sich Musicalgott Andrew Lloyd Webber als Berater – und bekam Tipps wie: Das Werbebudget bringt in kleinen Ländern wie San Marino und Malta eingesetzt viel mehr als in großen, weil jedes Land gleich viele Punkte zu vergeben hat. Und überall, wo es ging, feuerte die britische PR-Maschine aus allen Rohren – in sozialen Netzwerken mit Unterstützung von Stars wie Justin Bieber, Alicia Keys und Elton John, in klassischen Medien und mit Liveauftritten.

22 Großbritannien: Sam Ryder „Space Man“

Ambitionen lohnen sich

Ehrgeiz macht sich bezahlt, wenn man ihn bezahlen kann – das konnte heuer auch Spanien unter Beweis stellen. Mit ähnlichen Voraussetzungen wie Großbritannien (als größtes Beitragszahlerland fix im Finale und trotzdem lange ohne großen Erfolg) stellte das Land die Vorauswahl heuer auf neue Beine und kürte beim Benidorm Festival Chanel mit dem Song „SloMo“ zu seiner Kandidatin.

Dass ihr Auftritt mit schneller Choreografie und knappsten Kostümen höchst professionell ausfiel, zeigte auch ihr Erfolg bei vielen internationalen Jurys, die traditionell per se nicht so große Fans von Danceaction sind. Allerdings: Spanien hatte auch Glück – mit der schnellen Nummer hatte es heuer ein Alleinstellungsmerkmal unter den Beiträgen mit Siegerpotenzial.

Verlustthema als Spiegel der Gesellschaft

Schon in den Halbfinal-Shows aber auch im Finale war das Tempo heuer stark zurückgenommen. Balladen mit mehr oder weniger Power reihten sich aneinander – über unglückliche Liebe, Trennung und Tod. Was wie ein starker Gegensatz zur Partyatmosphäre in der Song-Contest-Stadt Turin wirken mag und auch in sozialen Netzwerken bekrittelt wurde, bestätigte sich aber in der Wertung von Publikum und Jury: Die Häufung von traurigen Liedern und musikalischer Trennungsbewältigung kann fast kein Zufall sein.

Nach zwei Jahren Pandemie mit den damit einhergehenden psychischen Belastungen spiegelt der Bewerb quasi den Zustand einer Gesellschaft wider, in der Zwischenmenschliches auf eine harte Probe gestellt wurde.

Fotostrecke mit 25 Bildern

Kalush Orchestra aus der Ukraine
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Ukraine: Kalush Orchestra mit „Stefania“
Sam Ryder aus Großbritannien
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Großbritannien: Sam Ryder mit „Space Man“
Sängerin Chanel aus Spanien
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Spanien: Chanel mit „SloMo“
Cornelia Jakobs aus Schweden
EBU/Sarah Louise Bennett
Schweden: Cornelia Jakobs mit „Hold Me Closer“
Konstrakta aus Serbien
EBU/Sarah Louise Bennett
Serbien: Konstrakta mit „In corpore sano“
Mamhmood & Blanco aus Italien
AP/Luca Bruno
Italien: Mahmood & Blanco mit „Brividi“
Zdob si Zdub & Advahov Brothers aus Moldawien
EBU/Corinne Cumming
Moldawien: Zdob si Zdub & Fratii Advahov mit „Trenuletul“
Amanda Georgiadi Tenfjord aus Griechenland
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Griechenland: Amanda Georgiadi Tenfjord mit „Die Together“
Maro aus Portugal
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Portugal: Maro mit „Saudade, saudade“
Subwoolfer aus Norwegen
EBU/Sarah Louise Bennett
Norwegen: Subwoolfer mit „Give That Wolf a Banana“
S10 aus den Niederlanden
EBU/Corinne Cumming
Niederlande: S10 mit „De diepte“
Ochman aus Polen
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Polen: Ochman mit „River“
Stefan aus Estland
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Estland: Stefan mit „Hope“
Monika Liu aus Litauen
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Litauen: Monika Liu mit „Sentimentai“
Sheldon Riley aus Australien
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Australien: Sheldon Riley mit „Not the Same“
Nadir Rustamli aus Aserbaidschan
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Aserbaidschan: Nadir Rustamli mit „Fade to Black“
Marius Bear aus der Schweiz
EBU/Corinne Cumming
Schweiz: Marius Bear mit „Boys Do Cry“
WRS aus Rumänien
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Rumänien: WRS mit „Llamame“
Jeremie Makiese aus Belgien
EBU/Sarah Louise Bennett
Belgien: Jeremie Makiese mit „Miss You“
Rosa Linn aus Armenien
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Armenien: Rosa Linn mit „Snap“
The Rasmus aus Finnland
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Finnland: The Rasmus mit „Jezebel“
We Are Domi aus Tschechien
AP/Luca Bruno
Tschechien: We Are Domi mit „Lights Off“
Systur aus Island
AP/Luca Bruno
Island: Systur mit „Med haekkandi sol“
Alvan & Ahez aus Frankreich
AP/Luca Bruno
Frankreich: Alvan & Ahez mit „Fulenn“
Malik Harris aus Deutschland
EBU/Corinne Cumming
Deutschland: Malik Harris mit „Rockstars“

Jurys als Problemfall?

Die hohe Balladendichte kann aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass viele Länder bei der Songauswahl auf die Präferenzen der Expertenjurys schielen. Denn die bewerten ordentlich gesungene Nummern ohne Rücksicht auf den Rest häufig überproportional hoch. Das mag dem von Castingshows verbreiteten Irrglauben geschuldet sein, dass schönes Singen, also Kunsthandwerk oder im dem Fall Kunststimmwerk, automatisch hohe Kunst ist.

Deutlich wurde das heuer etwa bei Australien und Aserbaidschan, die von den Jurys hoch bewertet, vom Publikum aber fast punktelos abgestraft wurden. Die Zuseherinnen und Zuseher stimmten überproportional für flotte, rhythmische Nummern – neben der Ukraine allen voran für den moldawischen Polka-Rock-Verschnitt von Zdob si Zdub & Fratii Advahov. Auch das wirklich gewitzte norwegische Konzept des Duos Subwoolfer mit „Give That Wolf a Banana“ wurde von den Jurys nicht gewürdigt.

07 Norwegen: Subwoolfer „Give That Wolf a Banana“

Angesichts der teils eklatanten Unterschiede zwischen Publikums- und Jurywertung wird wohl einmal mehr die Frage anzustoßen sein, ob man fünf als „Experten“ ausgewählten Menschen pro Land wirklich 50 Prozent der Stimmen in die Hände legen will. Dass es im zweiten Semifinale gleich bei sechs Ländern „Unregelmäßigkeiten“ bei der Jurywertung gab, sollte die Debatte zusätzlich befeuern. Im Vorjahr hatte es ähnliche Vorfälle gegeben, weil etwa ein Juror seine Ergebnisliste einfach falsch ausgefüllt hatte.

Wenig Trash

Erfahrungsgemäß gehen die Einschätzungen jedes Jahr auseinander, ob der Jahrgang musikalisch besonders gut oder besonders schlecht war. Am ehesten kann man heuer feststellen, dass es zwar eine qualitativ hochwertige Spitzengruppe aus zehn bis zwölf Acts gab – die hinter einem schmalen Mittelfeld aber sehr rasch ausdünnte.

Auffällig wenig klassischer „Eurovision-Trash“ war heuer zu sehen, also überkandidelte Beiträge und Auftritte. Auch die Fraktion der Folklore-Elektrodance-Kracher blieb klein. Lediglich der unvermeidbare Glitzer-look war weit verbreitet. Für einige mag das alles genau den Reiz des Bewerbs ausmachen, umgekehrt kann man aber auch sagen, dass das Fehlen solcher Beiträge vielleicht ein Schritt in eine neue und richtige Richtung ist. Dass stattdessen viel Meterware präsentiert wurde, könnte man optimistisch als Kinderkrankheit so einer Veränderung interpretieren.

Auch Mut macht sich bezahlt

Denn dass innovative Beiträge punkten können, auch wenn sie Publikum und Jurys gleichermaßen spalten, zeigte sich schon im Vorjahr – und auch heuer: Serbien schickte mit Konstrakta und „In corpore sano“ den wahrscheinlich ausgerissensten Beitrag. Tiefgründig – sie singt unter anderem über das serbische Gesundheitssystem – mit schräger Inszenierung, keinem Mainstreammuster entsprechend und trotzdem eingängig reicht das für einen überraschenden fünften Platz.

Sowohl bei den Publikumspunkten als auch bei der Jurywertung fällt aber trotzdem recht deutlich auf: Die Topwertungen kamen jeweils aus dem näheren geografischen Umfeld und aus Ländern mit großen Communitys der exjugoslawischen Diaspora.

24 Serbien: Konstrakta „In corpore sano“

Die ewigen Letzten

Zu den heuer weniger erklärlichen Phänomenen zählt, dass Deutschland einmal mehr seinen Abonnementplatz ganz hinten eingenommen hat. Nach einigen berechtigten Null-Punkte-Nummern ist an Malik Harris mit „Rockstar“ zwar kein Sieger verloren gegangen, dass er so deutlich abgeschlagen Letzter wurde, erklärt sich rein musikalisch aber auch wieder nicht. Die Analyse deutscher Fans im Netz spaltet sich auf in zwei Theorien: Deutschland sei im Ausland einfach unbeliebt, meinen die einen, die deutsche Vorauswahl eine Katastrophe die anderen.

Gegen die erste These spricht, dass es auch vor und nach dem Sieg von Lena Meyer-Landrut 2010 mit „Satellite“ Top-Ten-Platzierungen für Deutschland gab – zuletzt 2018 mit Michael Schulte und „You Let Me Walk Alone“ einen vierten Platz. Andererseits waren das jeweils Jahre, in denen Deutschland auf vielen Ebenen sichtlich mehr in den Bewerb investiert hatte – und das nicht nur bei der Auswahl von Kandidatin oder Kandidat. Der wahre Grund liegt wohl irgendwo dazwischen – und wie auch Großbritannien müsste sich Deutschland vermutlich trotzdem mehr anstrengen als andere Länder.

Italienische Verhältnisse

Zumindest im Bezug auf die Show lässt sich heuer allerdings feststellen: Es geht zurück in Richtung Normalität. Nach einer Absage und einer von CoV-Maßnahmen geprägten Ausgabe schien sich das Rundherum um die Turiner Show heuer wieder den alten Zirkusmaßstäben anzunähern. Das Klischee will aber natürlich, dass nicht alles streng nach Skript läuft, wenn Italien einlädt – neben sole, cuore und amore wird dann auch eine gewisse Entspanntheit der Gastgeber kolportiert.

So soll hinter der Bühne deutlich mehr improvisiert worden sein, als es die EBU gern sieht. Und dass das zentrale Bühnenelement, eine multifunktionale kinetische Sonne, nicht funktionierte, verärgerte einige Delegationen und ist der Grund für den in einigen Beiträgen unmotiviert im Hintergrund herumstehenden schwarzen Bogen.

Im Bau befindliche Song-Contest-Bühne
Eurovision/Atelier Montinaro
Die Bögen der kinetischen Sonne hätten sich bewegen sollen – taten sie aber nicht

Österreich hat sich verkalkuliert

Einen Nachdenkprozess wird es in Österreich geben, wie es nach dem dritten verpassten Finale infolge weitergeht. Die in der Nacht veröffentlichte Punktewertung aus dem Semifinale zeigt, dass LUM!X feat. Pia Maria mit ihrem „Halo“ auch nicht knapp gescheitert sind. Mit 42 Punkten wurde es der 15. Platz – von 17.

Die Idee, eine schnelle, eher untypische Elektropopnummer zu schicken, war angesichts der vielen langsamen Songs in der Konkurrenz eigentlich nicht die schlechteste. Doch dieses Alleinstellungsmerkmal konnte nicht genutzt werden, auch der Bekanntheitsgrad von LUM!X mit exorbitanten Streamingzahlen seiner Songs ließ sich nicht in eine Erfolgsgeschichte übersetzen: Seine Zielgruppe dürfte deutlich von jener des Song Contests abweichen.

13 Österreich: LUM!X feat. Pia Maria „Halo“

Im Unterschied zu den Beiträgen aus den Vorjahren zielte „Halo“ auch eher auf Publikumspunkte ab und weniger auf die Jurys. Der Grund für das Ausscheiden ist aber vor allem in der Frage zu suchen, ob sich ein derartiger Song für eine Bühnenperformance eignet. Ihn live fehlerfrei zu singen, war aufgrund des Tempos und der Notwendigkeit, zwischendurch auch zu atmen, praktisch eine unlösbare Aufgabe. Und das merken dann nicht nur die darauf fixierten Jurymitglieder, sondern auch das Publikum. Allerdings: Das österreichische Duo hat, das zeigen die Abrufzahlen des Songs, durchaus seine Fans gefunden.