Sessel auf den Tischen in einer Schulklasse
ORF.at/Wolfgang Rieder
Nach 10. Schuljahr

Weggabelung für Kinder mit Behinderung

Neun Jahre und mehr: Für die meisten Jugendlichen ist eine Bildungskarriere, die über die Schulpflicht hinausgeht, selbstverständlich. Allerdings trifft das nicht auf Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) zu. Denn nach zehn Jahren ist für sie vorerst Schluss. Eine Bürgerinitiative will das nun ändern, die Parteien im Parlament zeigen sich gesprächsbereit.

Für alle Schulkinder gilt hierzulande die neunjährige Schulpflicht. Ein zehntes Jahr kann freiwillig angehängt werden. Doch während die einen darüber hinaus noch weitere Jahre eine Schule besuchen können und auch dürfen (etwa die Sekundarstufe II), heißt es für Jugendliche mit kognitiven Beeinträchtigungen (z. B. Trisomie 21) erstmal warten. Zwar sieht das entsprechende Schulunterrichtsgesetz ein freiwilliges elftes und zwölftes Schuljahr vor, doch Schüler und Schülerinnen mit SPF müssen sich eine längere Schullaufbahn von der zuständigen Bildungsdirektion in den Bundesländern bewilligen lassen.

Voraussetzungen und Kriterien, auf die eine Bewilligung aufbauen könnte, regelt das Schulunterrichtsgesetz ebensowenig wie einen Rechtsanspruch auf einen längeren Schulbesuch. Das bedeutet, so die Kritik vieler Behindertenverbände, dass Eltern von Schülerinnen und Schülern mit SPF zu Bittstellenden degradiert werden. Durch eine neue Initiative, die derzeit im Parlament aufliegt und unter anderem einen Rechtsanspruch auf einen längeren Schulbesuch fordert, ist nun wieder etwas Wind in die Debatte gekommen. Viele Betroffene erhoffen sich mehr Bewegung in Sachen inklusiver Bildung.

Status SPF:

Ein SPF ist dann vorgesehen, wenn Kinder und Jugendliche wegen einer längerfristigen körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung dem Unterricht nicht ohne sonderpädagogische Förderung folgen können. Sie werden nach einem anderen Lehrplan unterrichtet. Nicht vorgesehen ist ein SPF, wenn Kinder zu Beginn der Volksschule zum Beispiel nicht altersentsprechend entwickelt sind, die Unterrichtssprache nicht beherrschen oder Lernprobleme haben.

Behindertenrat: Klare Diskriminierung

Rückenwind bekommt die Petition auf alle Fälle vom Behindertenrat. Die Dachorganisation vertritt über 80 Mitgliedsorganisationen und 1,4 Millionen Menschen mit Behinderungen. Im Gespräch mit ORF.at sagt Behindertenrat-Präsident Klaus Widl, dass es ihm grundsätzlich um das Recht auf Bildung und inklusiven Unterricht gehe. Bildung, so Widl, sei ein Menschenrecht, der Ausschluss von Schülern und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf stelle eine klar Diskriminierung dar und könne nicht akzeptiert werden.

„Wir halten daher grundsätzlich eine Ausweitung der Ressourcen für inklusiven Unterricht und inklusive Bildung auf allen Ebenen für notwendig, wäre es doch nach vielen Jahren des Stillstands an der Zeit, die von Österreich ratifizierte UNO-Behindertenrechtskonvention endlich umzusetzen“, betont Widl. Ende September hatten in ganz Österreich Tausende Menschen gegen die mangelnde Umsetzung der Konvention protestiert. Kritisiert wurde etwa, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen noch immer nicht den gleichen Zugang zu Bildung haben wie jene ohne Behinderungen.

So sieht es auch Wilfried Prammer, Lehrbeauftragter am Institut Inklusive Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich. Wenn es um Inklusion im Bildungsbereich geht, bestünden hierzulande noch zu viele Baustellen, die nicht angegangen werden, sagt Prammer im ORF.at-Gespräch. Die Bestimmung für einen längeren Schulbesuch sei zwar hauptsächlich ein „wienspezifisches Problem“, wo Anträge häufiger abgelehnt werden als in den restlichen Bundesländern. Aber dass abgelehnt werde, weil es an Ressourcen für die Kinder mangelt, sei ein Skandal.

Laut Christina Meierschitz vom Behindertenrat scheitert vieles in erster Linie am mangelnden politischen Willen. „In Österreich gibt es eine Ausbildungspflicht bis 18 Jahre. Während Jugendliche ohne SPF weiter in die Schule gehen können, sind Schülern und Schülerinnen mit SPF von der Bildungsdirektion abhängig“, so die Rechtsexpertin. Lehnt die Behörde einen Antrag auf ein elftes bzw. zwölftes Schuljahr ab, würden Schüler und Schülerinnen einen Ort ihres Soziallebens verlieren. Für Eltern sei die Suche nach Alternativen herausfordernd. Oft blieben nur Privatschulen oder die oft kritisierten Tageswerkstätten übrig.

ÖVP will prüfen, Grüne unterstützen „nachdrücklich“

In ihrem Koalitionsübereinkommen haben sich ÖVP und Grüne darauf geeinigt, dass alle Menschen mit Behinderung „einen freien Zugang zu allen Bildungsformen“ haben sollen. Dafür müssten jedoch genügend personelle und finanzielle Ressourcen bereitgestellt werden, wie die Initiatoren und Initiatorinnen der Petition „Recht auf Bildung für ALLE Kinder“ fordern. Von einem Rechtsanspruch für das elfte und zwölfte Schuljahr ist im Regierungsprogramm allerdings keine Rede. Trotzdem wird das Parlament die Petition demnächst behandeln. Der Ausschuss für Petitionen und Bürgerinitiativen tagt erneut Anfang Dezember.

Menschen demonstrieren vor dem Parlament in Wien
ORF
Ein Recht auf Bildung verlangen Eltern von Schülern und Schülerinnen mit Behinderungen

ÖVP-Behindertensprecherin Kira Grünberg hält sich gegenüber ORF.at mit einer Zustimmung oder Ablehnung der Petitionsforderung zurück. Sie verweist auf den „Nationalen Aktionsplan Behinderung“ und sagt, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen „so gut wie möglich gefördert werden und auch über die Schulpflicht hinaus geeignete Angebote für eine Weiterbildung bekommen“. Man werde die Petition „sorgfältig prüfen“. Ziel sei es, „bedürfnisgerecht zu helfen und zu unterstützen und dies konstant zu evaluieren und zu verbessern.“

Die Grünen unterstützen die Forderung auf einen Rechtsanspruch „nachdrücklich“, wie es heißt. „Jugendliche, die mehr Zeit in der Schule benötigen, um ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen, müssen diese Zeit auch bekommen“, sagt die Bildungssprecherin der Grünen, Sibylle Hamann. Behindertensprecherin Heike Grebien merkte mit Blick auf die derzeitige gesetzliche Regelung im Gespräch an, es sei „untragbar, dass Eltern in die Rolle der Bittsteller gedrängt werden“.

Opposition sieht wenig Diskussionsbedarf

Auch die SPÖ signalisiert gegenüber ORF.at ihre Unterstützung. „Für mich ist klar, dass es für Menschen mit Behinderungen die gleichen Chancen im Leben geben muss wie für Menschen ohne Behinderung. Damit einher geht auch das Recht auf eine gute Bildung“, betont Behindertensprecherin Verena Nussbaum. Sie werde daher die Forderungen unterstützen. Mit einem Rechtsanspruch auf zwei weitere Schuljahre müsse aber auch das Bildungssystem ausreichend ausgestattet werden, um Inklusion gewährleisten zu können.

Diese Petition sei „unterstützenswert“, sagt Dagmar Belakowitsch, Behindertensprecherin der FPÖ im Parlament. Man werde das Anliegen der Petition „auf alle Fälle“ befürworten, weil „alle Kinder die Chance haben sollten, lange lernen zu können.“ Die Abgeordnete kenne „viele Fälle“, in denen die Bildungsdirektionen die weiteren Schuljahre ablehnten. „Derzeit hängt die Entscheidung ein bisschen vom ‚Good Will‘ der Behörden ab“, sagt Belakowitsch zu ORF.at. Klar sei, dass es mehr Geld im Bereich brauche, um die Schulen auszubauen.

NEOS-Behindertensprecherin Fiona Fiedler will die Forderungen der Petition „natürlich“ unterstützen. „Es ist extrem wichtig, dass Kinder länger in die Schule gehen können. Sie brauchen den Rechtsanspruch, und deshalb sehe ich da nicht viel Diskussionsbedarf“, sagt sie und verweist auf einen Antrag, den NEOS schon 2020 eingebracht hatte. Darin wurde etwa die Streichung der Genehmigungspflicht gefordert – und dass Jugendliche mit SPF bis zu 14 Jahre die Schule besuchen können. Der Antrag wurde auf unbestimmte Zeit vertagt.

Kleine Änderung mit großer Wirkkraft?

Damit Jugendliche mit einem SPF das elfte bzw. zwölfte Schuljahr ohne behördliche Bewilligung besuchen können, braucht es nach Ansicht von Prammer ohnehin nicht die großen Würfe. Nur zehn Wörter („mit Zustimmung des Schulerhalters und mit Bewilligung der zuständigen Schulbehörde“) müssten aus dem Gesetz gestrichen werden, sagt er. Dass das in den vergangenen Jahrzehnten nicht passiert ist – obwohl der entsprechende Paragraf auch einige Male (auch mit Blick auf inklusiven Unterricht) novelliert wurde – sei bedauerlich.

Die aktuelle Regelung ist in ihren Grundzügen 25 Jahre alt. Zunächst war das freiwillige elfte und zwölfte Schuljahr nur für den Besuch von Sonderschulen vorgesehen. Das galt auch für jene Jugendlichen mit SPF, die während ihrer Pflichtschuljahre integrativ unterrichtet wurden. 2017 wurde die Passage geändert, damit für den Inklusionsgedanken „die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden“ können, hieß es damals im Antrag. Zwar müssen das elfte und zwölfte Schuljahr noch immer bewilligt werden, aber diese können seither auch in der „besuchten allgemeinen Schule“ absolviert werden.

Wien bewilligte 194 von 312 Ansuchen

Nach diversen Angaben ist die Quote der Ablehnung in Wien am höchsten. Auf ORF.at-Anfrage teilte die Bildungsdirektion Wien mit, dass für das laufende Schuljahr in Summe 312 Ansuchen für das elfte und zwölfte Jahr gestellt wurden. „Davon erfüllten 118 die gesetzlichen Kriterien für einen verlängerten Schulbesuch nicht (z. B. wurde die neunte Schulstufe bereits positiv abgeschlossen) oder haben sich selbstständig nach anderen Möglichkeiten im Anschluss an die Pflichtschulzeit umgesehen“, heißt es weiter. 194 Ansuchen seien bewilligt worden.

Die Bildungsdirektion argumentierte, dass es aufgrund von Schulgesetzen keine höhere als die neunte Stufe einer Sonderschule geben dürfe und man deshalb auch über keinen Lehrplan für weitere Schuljahre verfüge. Man prüfe jeden Einzelfall, aber: „Wer das neunte Schuljahr erfolgreich abgeschlossen hat, hat ein fertiges Abschlusszeugnis einer Pflichtschule und beendet die Schullaufbahn“, so die Bildungsdirektion.

Man ist sich aber offenbar auch bewusst, dass Forderungen nach einem längeren Schulbesuch für Jugendliche mit SPF lauter werden. „Für eine dauerhafte Abhilfe (…) benötigt es einen Lehrplan, der für alle Schülerinnen und Schüler Lernangebote auf der zehnten bis zwölften Schulstufe vorsieht, und des grundsätzlichen Rechtes auf einen längeren Schulbesuch, der nicht von einer Bewilligung abhängen darf“, erklärt die Bildungsdirektion. So ähnlich lauten auch die Anliegen der Bürgerinitiative und der Behindertenverbände.