Geflüchtete auf einem Schlauchboot, Schiff im Hintergrund
AP/Petros Karadjias
In der Grauzone

Europas Problem mit humanitärer Hilfe

Ob Italien, Griechenland oder Polen: Menschen, die Geflüchteten helfen, werden in der EU zunehmend kriminalisiert. Das sagen mehrere NGOs gegenüber ORF.at. Helferinnen und Helfer würden vielfach mit Schleppern auf eine Stufe gestellt – ihnen drohten Verleumdungskampagnen wie Klagen. Die Verantwortung für den Missstand liege bei der EU, heißt es. Brüssel will prüfen.

Sean Binder weiß, was es heißt, für humanitäre Hilfe kriminalisiert zu werden. Vor fast fünf Jahren nahm die griechische Justiz Ermittlungen gegen den in Irland aufgewachsenen Deutschen auf. Die Behörden werfen ihm, seiner syrischen Kollegin Sarah Mardini und anderen humanitären Helfern unter anderem Spionage, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Menschenhandel und Geldwäsche vor. Bis zu 25 Jahre Haft drohen bei einer Verurteilung. Über dreieinhalb Monate hatte Binder 2018 deshalb bereits in Untersuchungshaft verbracht.

Der inzwischen 28-Jährige hatte bis zu seiner überraschenden Festnahme im Februar 2018 auf der Insel Lesbos Rettungseinsätze für in Seenot geratene Menschen koordiniert – und das im ständigen Austausch mit der griechischen Küstenwache und der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, wie er gegenüber ORF.at betont. Er war damals für die NGO Emergency Response Center International tätig. Die Causa sorgte für einen Aufschrei: Es handle sich um den „größten Fall der Kriminalisierung von Solidarität in Europa“, hieß es in einem Bericht des Europäischen Parlaments.

Vorwürfe „hängen wie Damoklesschwert über uns“

Die Vorwürfe „hängen wie ein Damoklesschwert über uns“, sagt Binder. Er steht am 10. Jänner unter anderem wegen angeblicher Spionage vor Gericht. Mit einem baldigen Urteil rechnet der Jurist nicht. Schon einmal sei der Prozess wegen Verfahrensfehlern vertagt worden. Und auch ein weiterer Prozess zu den schwerer wiegenden Verbrechen, die ihm ebenfalls vorgeworfen werden, könnte drohen.

Sarah Mardini und Sean Binder
privat
Sarah Mardini und Sean Binder

Für den ausgebildeten Rettungsschwimmer ist damit kein Ende der psychischen und finanziellen Belastung in Sicht. Doch die Folgen reichen viel weiter, sagt er: „Dadurch, dass Such- und Rettungsaktionen so ungewiss und beängstigend gemacht werden, kommt es (vor Lesbos, Anm.) zu keiner Suche und keiner Rettung.“ Das sei auch kein Problem, das nur Lesbos oder Griechenland betreffe – es sei ein Problem der Europäischen Union, so Binder.

Italien nimmt Seenotretter ins Visier

Dem geben zahlreiche NGOs im Gespräch mit ORF.at recht: Die Seenotretter Sea-Watch und SOS Humanity, die polnische NGO Ocalenie, aber auch die internationalen Organisationen Ärzte ohne Grenzen und Amnesty International berichten von einer zunehmenden Kriminalisierung humanitärer Arbeit an den europäischen Außengrenzen.

Wie akut die Thematik ist, zeigt sich im Mittelmeer. Unzählige Menschen sind in den Gewässern in den vergangenen Jahren ertrunken. Fast täglich klagen zivile Seenotretter über mangelnde Kooperation der Behörden und Festsetzungen ziviler Rettungsschiffe in europäischen Häfen. Der Ärger über die Politik von Staaten wie Italien und Malta ist groß.

Die neue italienische Regierung um Giorgia Meloni verschärfte die Gangart gegen Seenotretter zuletzt auch noch. Melonis Kabinett schränkte „systematische Rettungsaktionen“ von NGO-Schiffen per Dekret ein. Bei Verstößen droht eine Strafe von 50.000 Euro und die Konfiszierung der Schiffe. Dabei wurden Rettungsaktionen schon von den Vorgängerregierungen erheblich behindert und kriminalisiert, sagen Seenotretter. Und das, obwohl es eine völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung gibt.

Seenotretter: EuGH-Urteil ohne Folgen

„Zivile Seenotrettungsorganisationen sind seit 2018 vielfältigen Blockadeversuchen ausgesetzt, wie unbegründeten Strafverfahren und Verleumdungskampagnen“, so SOS Humanity zu ORF.at. „Vor allem werden unsere Schiffe immer wieder durch fadenscheinige Begründungen wie angebliche technische Mängel festgesetzt. Diese Praxis der willkürlichen Schiffsfestsetzungen wurde durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Sommer untersagt.“ Geändert habe das wenig, erklärt die NGO.

Ähnliches geht aus einer Antwort der deutschen NGO Sea-Watch hervor: „In den Jahren 2020 und 2021 wurden unsere Schiffe ‚Sea-Watch 3‘ und ‚Sea-Watch 4‘ insgesamt 297 Tage festgehalten. Die ‚Sea-Watch 3‘ wird aktuell seit dem 21. 9. in Italien blockiert.“ EU-Küstenstaaten würden geltendes Seerecht brechen, „indem sie unsere Rettungen nicht koordinieren, wie es ihre Aufgabe wäre“, kritisiert SOS Humanity auch.

Schiff „Humanity 1“ von SOS Humanity
Max Cavallari/SOS Humanity
Seenotretter wie SOS Humanity und Sea-Watch klagen über festgesetzte Schiffe, Strafverfahren und Verleumdungskampagnen

Pandemie verschärfte Lage

Das Problem ist nicht unbekannt: Die europäische Forschungsplattform ReSOMA stellte vor Pandemiebeginn fest, dass die Kriminalisierung humanitärer Helferinnen und Helfer europaweit seit der Flüchtlingskrise 2015 stark zugenommen habe. 171 Personen wurden zwischen 2015 und 2019 im Zusammenhang mit humanitärer Hilfe für Geflüchtete kriminalisiert.

Analysen der Plattform für internationale Kooperation bei nicht dokumentierten Migranten (PICUM) und der International Commission of Jurists (ICJ) zufolge scheint seither kaum Besserung eingetreten zu sein. Laut der Medienanalyse von PICUM wurde das Problem während der Pandemie um eine Facette reicher – viele Coronavirus-Maßnahmen hätten zivilgesellschaftliches Engagement unterbunden oder unter Strafe gestellt.

Humanitäre Helfer und der Schleppervorwurf

Die PICUM-Analyse, die die Europäischen Grünen in Auftrag gegeben hatten, stellte fest, dass in der EU zwischen Jänner 2021 und März 2022 mindestens 89 Personen aufgrund humanitärer Hilfe für Migrantinnen und Migranten kriminalisiert wurden. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen, da viele Fälle von Medien gar nicht dokumentiert würden und es auf europäischer Ebene kein Monitoring gebe, so Marta Gionco von PICUM zu ORF.at.

„Menschen wurden für Handlungen wie die Bereitstellung von Nahrung, Unterkunft, medizinische Unterstützung, Transport und andere humanitäre Hilfe für Migranten, die sich in schlimmen Zustand befanden, für Hilfe bei Asylanträgen und für die Rettung von Migranten auf See kriminalisiert“, heißt es in dem PICUM-Bericht.

Als Schlepper

gilt, wer Fremde bei der rechtswidrigen Ein- oder Durchreise des Hoheitsgebietes eines Mitgliedsstaates oder auch beim unerlaubten Aufenthalt fördert – eine finanzielle Bereicherung ist dazu nicht nötig.

Der häufigste Vorwurf lautet den Analysen zufolge auf Schlepperei. Konkret gehen die meisten Ermittlungen und formellen Strafverfolgungsmaßnahmen auf die „EU-Richtlinie zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt“ aus dem Jahr 2002 zurück. Obwohl sich in der Richtlinie eine Ausnahmeklausel für humanitäre Hilfe findet, machen viele Mitgliedsstaaten davon keinen Gebrauch. Der Schlepperbegriff ist NGOs und auch Fachleuten wegen des unzureichenden Schutzes für humanitäre Helfer seit Anbeginn ein Dorn im Auge.

Griechenlands Register und Polens Zaun

Tatsächlich bedienen sich Mitgliedsstaaten im Sinne der EU-Abschottungspolitik einer breiten Palette an Maßnahmen, wie die NGOs betonen. Griechenland verpflichtete Hilfsorganisationen 2020 beispielsweise dazu, sich beim Migrationsministerium zu registrieren und prüfen zu lassen. Viele Organisationen wurden in Folge gezwungen, ihre Arbeit einzustellen. Für Gionco seien derartige bürokratische Hindernisse ebenso eine Form der Kriminalisierung.

Mehrere Personen zwischen Zelten im Flüchtlingslager auf Lesbos
IMAGO/ANE Edition/Panagiotis Balaskas
Die Zustände in griechischen Flüchtlingslagern gelten als untragbar. 2020 dezimierte Athen die dort tätigen NGOs.

Polen geriet 2021 und 2022 wiederum aufgrund der Vorgänge an der Grenze zu Belarus in die Schlagzeilen: Tausende Menschen hatten teils in bitterer Kälte versucht, die Grenze zu überqueren, um in die EU zu gelangen. Brüssel warf Minsk daraufhin vor, den Andrang der Geflüchteten gezielt herbeizuführen. Polen verhängte den Ausnahmezustand und untersagte NGOs und Medien den Zutritt in das Gebiet. Berichte über Tote und Pushbacks machten die Runde.

„Wir wurden festgenommen und gestraft"

„Wir wurden festgenommen und gestraft, weil wir das Sperrgebiet betreten hatten“, erinnert sich Kalina Czwarnog von der polnischen NGO Ocalenie an einen Vorfall, bei dem Ocalenie einer Gruppe unterkühlter Iraker samt erkranktem Kind zur Hilfe geeilt war. Es war nicht das einzige derartige Ereignis. Auch größeren NGOs wie Ärzte ohne Grenzen (MSF) wurde der Zutritt untersagt, wie MSF-Mitarbeiterin Reem Mussa erzählt. Die Organisation zog sich schließlich Anfang 2022 aus dem Grenzgebiet zurück.

Im Juni wurde der Bau eines 187 Kilometer langen Grenzzauns abgeschlossen. Die Lage habe sich seither beruhigt – vor allem weil der Zaun den Menschen den Grenzübertritt erschwert, so Czwarnog. Zäune, wie sie die ÖVP zurzeit an den EU-Außengrenzen fordert, würden nach Sicht von NGOs nur kurzfristig Entlastung schaffen. Vor allem würden derartige Maßnahmen dazu führen, dass Menschen sich neue, gefährlichere Fluchtrouten suchten.

Soldat am Grenzzaun zwischen Polen und Belarus
IMAGO/NurPhoto/Artur Widak
Im Juni schloss Polen den Bau eines 187 Kilometer langen Grenzzauns zu Belarus ab

Expertin: Anfeindungen sind „Einfallstor“

In Österreich, das freilich keine EU-Außengrenze überwacht, könne laut Amnesty International Österreich „keine Kriminalisierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen“ beobachtet werden. Migrationsexpertin Judith Kohlenberger beobachtet hierzulande aber, dass Menschen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren, mit Anfeindungen konfrontiert und deshalb nicht selten von ihrem Engagement abgebracht werden. Das sei das „Einfallstor“, das zur Kriminalisierung humanitärer Hilfe und dem „langfristigen Untergraben von Rechtsstaatlichkeit“ führe, sagt sie zu ORF.at.

Europas paradoxe Asylpolitik

Doch wieso gerät humanitäre Hilfe derart in Verruf? Für die Migrationsexpertin Gionco ist die Wurzel des Problems, dass Migrantinnen und Migranten im Diskurs per se oft als problematisch und kriminell abgestempelt werden, und damit auch jene, die ihnen zur Hilfe kommen. Allein die Tatsache, dass es humanitäre Helfer gebe, würde Menschen dazu bringen, in kaum seetüchtige Boote von Schleppern zu steigen – so lautet zumindest der Vorwurf. Belege für einen derartigen Pull-Faktor gebe es nicht, sagen NGOs.

Tatsächlich stehen flüchtende Menschen aufgrund des geltenden europäischen Rechts vor einem Dilemma: „Flüchtende müssen Recht brechen, um zu ihrem Recht zu gelangen“, schreibt die Migrationsforscherin Kohlenberger in ihrem Buch „Das Fluchtparadoxon“. Grob gesagt: Um einen Asylantrag stellen zu können, muss in den meisten Fällen erst „illegal“ die Grenze passiert werden. Das derzeitige System befeuere das Schlepperwesen und rufe NGOs – die nach ihren Worten „Symptombekämpfung“ betreiben – überhaupt erst auf den Plan, hält Kohlenberger gegenüber ORF.at fest.

Aktivisten werfen EU Doppelmoral vor

Binder und Gionco werfen Brüssel in dem Zusammenhang Doppelmoral vor: Die Werte, die von der Europäischen Union außerhalb der europäischen Grenzen eingefordert werden – also Einhaltung der Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit – würde sie innerhalb der eigenen nicht ausreichend verteidigen.

Das Dilemma der EU sei, dass diese einerseits für den Schutz humanitärer Arbeit – etwa mit einem Aktionsplan aus dem Jahr 2021 – werbe, andererseits aber einen harten Asylkurs fahre und Außengrenzschutz betreibe, der nach einem breiten Schlepperbegriff verlangt, führt Kohlenberger zudem aus.

EU-Kommission will Richtlinie überprüfen

Auch in Brüssel sprach man auf ORF.at-Anfrage von einem „zunehmend schwierigen Umfeld“ für humanitäre Helfer. Die EU-Kommission verwies auf Leitlinien, die Brüssel 2020 im Zusammenhang mit der Richtlinie aus dem Jahr 2002 veröffentlicht hatte. Darin steht, dass „humanitäre Hilfe in Form von Search and Rescue“ im Einklang mit internationalem Recht stehe. Im Zuge des EU-Aktionsplanes gegen die Schleusung von Migranten bekannte sich die EU dazu, die Anwendung der Richtlinie von 2002 – vor allem hinsichtlich der humanitären Ausnahmeklausel – besser zu beobachten.

„Die Kommission beabsichtigt 2023 über die Umsetzung der Beihilferichtlinie Bericht zu erstatten, einschließlich der Umsetzung der Leitlinien der Kommission von 2020 zur humanitären Hilfe“, teilte die Kommission auf Anfrage mit. Danach soll überprüft werden, „ob der im Jahr 2002 geschaffene Rechtsrahmen weiterhin angemessen ist, um den aktuellen Herausforderungen zu begegnen".

„Für immer tot“

Was die Zukunft und das Handeln der EU betrifft, zeigen sich der Aktivist Binder und die Aktivistin Gionco skeptisch. „Ich bin besorgt und zuversichtlich zugleich“, sagt Gionco. „Die Kriminalisierung nimmt zu. Nichtsdestoweniger gibt es weiterhin viele Menschen, die sich für Migranten einsetzen.“

Tatsache ist auch, dass viele der Klagen gegen humanitäre Helfer vor Gericht nicht standhalten. Bis es zu Freisprüchen kommt, können aber Jahre vergehen. Für Menschen wie Binder zerrt das an finanziellen wie mentalen Ressourcen. Und nicht nur das: Die NGO, für die der 28-Jährige tätig war, musste die Arbeit aufgrund der Ermittlungen einstellen. Rettungsaktionen vor der südlichen Küste von Lesbos gibt es damit nicht mehr, so Binder. „Wenn wir schließlich für unschuldig befunden werden, bedeutet das immer noch, dass alle, die in der Zwischenzeit ertrunken sind, für immer tot sind“, sagt er.

Wenige Tage nach dem Gespräch mit Binder meldete Ärzte ohne Grenzen bei Twitter, dass 34 Menschen aus den Gewässern vor Lesbos gerettet wurden. Ein zwei Monate alter Säugling starb. Der NGO zufolge seien zivile Rettungsschiffe auf dem Weg zu dem gekenterten Boot fast zwei Stunden lang von griechischen Behörden gestoppt worden. „Wir werden niemals wissen, ob diese zwei Stunden es uns erlaubt hätten, das Leben des Babys zu retten“, heißt es in einer Mitteilung von MSF.