Helfer in der syrichen Stadt Latakia suchen in Trümmern nach Überlebenden des Erdbebens
AP/SANA
Suche nach Bebenopfern

Chance auf Rettung schwindet

Auf mehr als 11.700 Tote ist zwei Tage nach den verheerenden Erdstößen in der Türkei und Syrien die Opferzahl bereits gestiegen. Tausende Helferinnen und Helfer und Überlebende suchen unterdessen weiter nach Verschütteten. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, denn mit jeder Stunde sinkt die Wahrscheinlichkeit, Menschen noch lebend aus den Trümmern zu bergen.

Doch es gibt auch noch die Fälle von beinahe wundersamer Rettung: Am Mittwoch wurde 52 Stunden nach dem Beben der Stärke 7,8 eine Frau lebend aus den Trümmern geborgen. Bilder des Senders NTV zeigten, wie die Einsatzkräfte in der türkischen Provinz Kahramanmaras die Frau auf einer Trage zum Krankenwagen brachten. Sie ist 58 Jahre alt und wurde aus einem eingestürzten Hotel gerettet.

Hilfsteams retteten im südtürkischen Hatay nach 58 Stunden unter Trümmern ein vier Monate altes Mädchen. Die Helfer stiegen in eine Lücke zwischen den eingestürzten Hauswänden, wickelten das Baby in eine Decke und hoben es heraus, wie Aufnahmen zeigten. Die Kleine wimmerte. Die Retter versuchten, den Säugling zu beruhigen. Die Suche nach den Eltern geht nach Angaben der Nachrichtenagentur DHA weiter.

In Kahramanmaras wurde ein einjähriges Kind mit seiner schwangeren Mutter nach 56 Stunden lebend unter den Trümmern hervorgeholt, wie DHA berichtete. Das Gesicht des Mädchens war weiß vor Staub. Der Vater war schon zuvor gerettet worden.

Menschen wärmen sich auf der Straße an einem Feuer in Hatay, Türkei
Reuters/Kemal Aslan
Erschöpfte Menschen versuchen sich bei einem offenen Feuer etwas auszuruhen

Und 60 Stunden nach dem Beben konnte ebenfalls in der Provinz Hatay eine Frau aus den Trümmern befreit werden. Nach sechsstündigen Rettungsarbeiten sei die 75-Jährige aus einem eingestürzten Haus gerettet worden, berichtete die Onlinezeitung Gazete Duvar. Die Suche nach ihrem an Alzheimer erkrankten Ehemann brachen die Retter wegen fehlender technischer Ausrüstung schließlich ab.

Tödlichstes Beben seit 2012

Laut dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan stieg die Zahl der Toten in der Türkei auf 9.057. In Syrien wurden bisher mehr als 2.660 Todesopfer gemeldet. Mit einer Stärke von 7,8 (nach anderen Messungen 7,7) hatte das Beben in der Nacht auf Montag das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert. Montagmittag folgte ein weiteres Beben der Stärke 7,5 in derselben Region. Tausende Gebäude stürzten ein. In der Türkei sind zehn Provinzen mit 13,5 Millionen Menschen von dem Beben betroffen. Es ist das Beben mit den meisten Todesopfern weltweit seit mehr als einem Jahrzehnt. Fachleute und die WHO gehen davon aus, dass die Totenzahl noch weiter steigen wird. 2012 kamen beim Erdbeben auf Haiti 316.000 Menschen ums Leben.

Erdogan ruft zu Einheit auf

Erdogan rief zu Einheit auf – das betroffene Gebiet wird teils mehrheitlich von Kurden bewohnt. Niemand solle auf „Provokateure“ hören, sondern lediglich auf die offiziellen Angaben der Regierung, so Erdogan. Er räumte Probleme mit der Versorgung der Katastrophengebiete ein, betonte aber, diese seien nun behoben. „Natürlich gibt es Defizite. Die Zustände sieht man ja ganz klar.“ Es sei nicht möglich, „auf so ein Erdbeben vorbereitet zu sein“, fügte er allerdings hinzu.

Die Bevölkerung äußert mittlerweile lautstark Kritik an der nicht funktionierenden Rettung Vermisster und der Versorgung mit dem notwendigsten, angesichts klirrender Kälte. Erdogan versprach, dass die Aufräumarbeiten und der Wiederaufbau beschleunigt werden sollen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kündigte die Entsendung einer hochrangigen Delegation an, um die Hilfe in der Türkei und Syrien zu koordinieren. Die WHO warnte bereits vor langfristigen „massiven“ Folgen für die Gesundheitsversorgung in den Krisengebieten.

Papst Franziskus rief unterdessen zu Spenden auf: „Ich danke allen, die Hilfe schicken, und ermutige alle zu Solidarität mit diesen Gebieten, die zum Teil schon von einem langen Krieg heimgesucht werden“, so der Papst bei einer Generalaudienz im Vatikan.

Auch zwei Tage nach dem verheerenden Beben in der Türkei und Syrien werden unter den Trümmern immer noch Menschen vermutet. Für die Einsatzkräfte ist es ein Wettlauf gegen die Zeit, weil die Wahrscheinlichkeit, Menschen noch lebend aus den Trümmern zu bergen, mit jeder Stunde sinkt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan besuchte das türkische Katastrophengebiet und rief zu Zusammenarbeit und Einheit auf.

Syrien bittet EU um Hilfe

Die syrische Regierung in Damaskus stellte unterdessen ein offizielles Hilfsansuchen an die Europäische Union. Durch den EU-Zivilschutzmechanismus wird die Hilfe einzelner EU-Staaten koordiniert. Das von jahrelangem blutigem Bürgerkrieg gebeutelte Land ist mit der Situation völlig überfordert. Ein Arzt in Aleppo sagte, die Lage sei schlimmer als zum Höhepunkt des Bürgerkriegs.

Damaskus, das zu Teilen der betroffenen Gebiete keinen Zugang hat, bat unter anderem um medizinische Ausrüstung, Medikamente und Lebensmittel. Das Hilfsansuchen zeigt die Notlage: Die EU hat wegen des Bürgerkrieges in Syrien Sanktionen gegen das Regime von Machthaber Baschar al-Assad verhängt.

Am Donnerstag könnten laut UNO-Angaben erstmals dringend benötigte Hilfsgüter von der Südtürkei in die syrischen Rebellengebiete geliefert werden. Es gebe einen Hoffnungsschimmer, dass die Straße wieder befahrbar sein werde.

El-Gawhary (ORF) zur Lage in Syrien

Der ORF-Korrespondent für den arabischen Raum, Karim El-Gawhary, spricht über die schwierigen Umstände in Sachen Unterstützung für die Erdbebenopfer in Syrien.

Rund 23 Millionen Menschen betroffen

Unter den Todesopfern befinden sich auch zwei Österreicher, wie das Außenministerium Dienstagmittag mitteilte. Weitere Vermisste gebe es aktuell nicht. Nach Schätzungen des Pacific Disaster Centers, einer US-Organisation für Katastrophenhilfe, sind insgesamt rund 23 Millionen Menschen betroffen.

Die Zahl der Toten dürfte Fachleuten zufolge weiter steigen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) befürchtet, dass Tausende Kinder darunter sein dürften. Das Beben in der Türkei war das schwerste seit einem Beben ähnlicher Stärke im Jahr 1999, bei dem mehr als 17.000 Menschen ums Leben kamen. „Es ist ein Wettlauf mit der Zeit“, sagte der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus. „Jede Minute, jede Stunde, die verstreicht, schmälert die Chancen, noch jemanden lebend zu finden.“

Zwei Tage nach den schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien mit mehr als 11.000 Toten wird das Ausmaß der Katastrophe immer deutlicher. Ohne Unterbrechung wurde die Suche nach Verschütteten fortgesetzt.

Katastrophenhilfeteam aus Österreich im Einsatz

Die türkische Katastrophenbehörde AFAD teilte mit, dass 60.0000 Such- und Rettungskräfte eingesetzt und mehr als 41.000 Zelte, 100.000 Betten und 300.000 Decken in die Region geschickt worden seien. Über das Zentrum für Katastrophenhilfe der EU sind bereits mehr als zwei Dutzend Such- und Rettungsteams mobilisiert worden.

Epizentren und Erdbebenstärke gemäß USGS (mmw) vom 6.2.2023 0.00 Uhr bis 8.2.2023 14.00 Uhr

Seit Mittwoch sind 85 Soldatinnen und Soldaten der Austrian Forces Disaster Relief Unit (AFDRU) in der Türkei im Einsatz. Am Mittwoch konnten Soldaten eine verletzte Person aus den Trümmern retten. „Ihm musste ein Arm amputiert werden“, sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis, der sich aktuell im Katastrophengebiet aufhält. „Die Einsatzkräfte, die für das österreichische Bundesheer in der Türkei vor Ort sind, haben mir soeben einen direkten Bericht über die Situation in den Katastrophengebieten gegeben. Die Lage ist sehr ernst, die Soldatinnen und Soldaten leisten Beeindruckendes“, schrieb Bundespräsident Alexander Van der Bellen auf Twitter.

Neben den Bundesheerkräften wurde aus Österreich nach einer Anfrage der Türkei beim Zivilschutzmechanismus der Europäischen Union ein Team aus Vorarlberg in das Gebiet geschickt. Bei den 25 Spezialisten handelt es sich um Feuerwehrleute, vier Hundeführer der Bergrettung mit speziell ausgebildeten Hunden sowie um drei Notärzte.

Grafik zu schwersten Erdbeben seit 1999
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: USGS/APA

Niederösterreichs FPÖ-Chef Udo Landbauer kritisierte am Mittwoch österreichische Hilfe – angekündigt wurden drei Millionen Euro – scharf. Es sei „unglaublich, mit welcher Unverfrorenheit gerade grüne Politiker immer wieder unser Steuergeld an das Ausland verschenken“ würden. SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch sprach von einer „barbarischen Aussage“, wenn Landbauer Hilfsgelder für Bebenopfer als „Millionengeschenk“ bezeichne. In der FPÖ würden offenbar „alle Dämme brechen“, so Deutsch unter Verweis auf jüngste ausländerfeindliche Aussagen des FPÖ-Landesrats Gottfried Waldhäusl gegenüber Schülerinnen und Schülern.

Während der FPÖ-Politiker humanitäre Hilfe als „verschenkt“ abtut, helfen weltweit Regierungen und Hilfsorganisationen – und überwinden dabei, zumindest vorübergehend, auch Feindschaften: Griechenland hilft der Türkei ebenso wie Armenien. Die EU hilft dem Regime in Syrien, gegen das es wegen des Bürgerkriegs Sanktionen verhängt hat.