Ein Mann sitzt auf Trümmern
Reuters/Guglielmo Mangiapane
Türkei und Syrien

Bereits fast 26.000 Tote

Die Zahl der Toten nach den Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist auf fast 26.000 gestiegen. Wie der türkische Gesundheitsminister Fahrettin Koca am Samstag sagte, liegt die Zahl allein für die Türkei nun bei 22.327. Aus Syrien wurden zuletzt 3.553 Tote gemeldet.

Mindestens 80.278 Menschen seien in der Türkei verletzt worden, so Koca. Mehr als 1,5 Millionen Menschen suchten in Zelten, öffentlichen Notunterkünften oder Hotels Schutz. Die Such- und Rettungsarbeiten gingen auch am Samstag weiter. Vereinzelt gab es noch Berichte, dass Menschen lebend aus Trümmern gerettet wurden. Die betroffenen Gebiete sind teilweise schwer zugänglich, mit dem Fortschreiten der Bergungsarbeiten steigen die Opferzahlen. Die Chance, noch Überlebende zu finden, sinkt stündlich.

Unterdessen musste das österreichische Bundesheer seine Rettungsaktionen aufgrund einer zunehmend schwierigen Sicherheitslage drastisch reduzieren. Nach einer kompletten Unterbrechung der Arbeiten durften zwei Hundeführer mit ihren Tieren Samstagnachmittag wieder nach Vermissten suchen, wie das Bundesheer mitteilte.

Rettungsaktivitäten unter Schutz

„Momentan hat die türkische Armee den Schutz unseres Kontingents übernommen“, sagte Marcel Taschwer, Sprecher des Verteidigungsministeriums. Die Situation werde laufend evaluiert. Noch sei nicht abzuschätzen, ob der Rest der Soldaten und Soldatinnen bald wieder eingesetzt werden könne. Insgesamt seien sechs Hundeführer mit ihren Vierbeinern in der Türkei.

Rettungskräfte in Kahramanmaras
Reuters/Stoyan Nenov
Fünf Tage nach den Beben finden Retter noch vereinzelt Überlebende

Samstagfrüh musste die Truppe ihre Suche nach verschütteten Menschen im Krisengebiet stoppen. „Der erwartbare Erfolg einer Lebendrettung steht in keinem vertretbaren Verhältnis zu dem Sicherheitsrisiko“, sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis Samstagvormittag.

„Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein“, so Kugelweis. Die österreichische Katastrophenhilfseinheit halte sich nach Informationen des Bundesheeres gemeinsam mit zahlreichen anderen Hilfsorganisationen in einem Basiscamp in der türkischen Provinz Hatay bereit. Seit Dienstag waren 82 Soldaten und Soldatinnen der Austrian Forces Disaster Relief Unit (AFDRU) im Einsatz und bargen bisher neun verschüttete Menschen.

„Trauer weicht langsam der Wut“

Wegen Sicherheitsbedenken unterbrachen auch das deutsche Technische Hilfswerk (THW) und die Hilfsorganisation I.S.A.R. Germany die Rettungsarbeiten in der Türkei. In den vergangenen Stunden habe sich nach verschiedenen Informationen die Sicherheitslage in der Region Hatay geändert, teilten die Organisationen am Samstag mit.

Grund dafür scheinen unter anderem die Verknappung von Lebensmitteln und die schwierige Wasserversorgung im Erdbebengebiet zu sein, so die Organisationen. „Es ist festzustellen, dass die Trauer langsam der Wut weicht“, sagte I.S.A.R.-Einsatzleiter Steven Bayer. Auch THW sprach von „tumultartigen Szenen“.

Die Zahl der Toten nach den Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist auf mehr als 25.000 gestiegen. Wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in einem im TV übertragenen Auftritt in der Provinz Sanliurfa sagte, liegt die Zahl allein für die Türkei nun bei 21.848. Aus Syrien wurden zuletzt 3.553 Tote gemeldet.

Nach Angaben des türkischen Vizepräsidenten Fuat Oktay von Samstagfrüh wurden in den vergangenen 24 Stunden noch 67 Menschen gerettet. 122 Stunden nach den Erdbeben wurden eine 70-jährige Frau in der Provinz Kahramanmaras und eine 55-Jährige in Diyarbakir lebend geborgen. Auch eine Schwangere und eine Neunjährige konnten gerettet werden. Am Samstag konnten die Einsatzkräfte eine fünfköpfige Familie aus den Trümmern retten. Menschen überleben nur in seltenen Fällen länger als drei Tage ohne Wasser. Viele Menschen werden noch unter den Trümmern vermisst.

Hunderttausende obdachlos

Die Katastrophe erstreckt sich über ein 450 Kilometer breites Gebiet. Seit dem ersten Beben Montagfrüh wurden mehr als 2.000 Nachbeben registriert. Laut UNO sind 24,4 Millionen Menschen von der Naturkatastrophe betroffen. Viele müssen trotz Kälte im Freien, in Autos oder Zeltnotlagern ausharren, weil die Häuser zerstört wurden oder einsturzgefährdet sind. Es mangelt an vielen Stellen an Lebensmitteln, Trinkwasser und funktionierenden Toiletten.

Über eine Million sei in Notunterkünften untergebracht, sagte Oktay. Ziel sei, dass diese Menschen innerhalb eines Jahres wieder zu einem normalen Leben zurückkehren könnten. Die Wohnungen sollen wieder aufgebaut werden. Ein türkisches Unternehmen will zwei Wohnschiffe für insgesamt 3.000 Menschen in die Erdbebenregion im Süden der Türkei entsenden.

Ein Mann vor Trümmern in Kahramanmaras
Reuters/Stoyan Nenov
Hunderttausende Menschen verloren ihre Wohnung

Wut auf Erdogan

Die Wut der Menschen richtet sich zunehmend gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Erdogan habe so wie die Behörden zu langsam und unzureichend auf die Katastrophe reagiert. Bei einem Besuch im Erdbebengebiet räumte Erdogan selbst ein, dass die Hilfe nicht so schnell geleistet worden sei wie gewünscht.

Die Regierung werde gegen diejenigen vorgehen, die an Plünderungen und anderen Verbrechen in der betroffenen Katastrophenregion beteiligt sind, betonte Erdogan am Samstag. Zudem teilte er mit, dass Hunderttausende Gebäude im Süden der Türkei unbewohnbar seien. Innerhalb der nächsten Wochen solle mit dem Wiederaufbau begonnen werden.

Festnahmen nach Gebäudeeinstürzen

Unterdessen wurden im Süden des Landes nach Gebäudeeinstürzen mindestens 14 Menschen wegen mutmaßlicher Fahrlässigkeit festgenommen. Ein Haftbefehl sei auch gegen 33 Menschen in der Stadt Diyarbakir ergangen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Strafverfolger. Sie sollen für etwaige Bauschäden wie das Entfernen von Betonsäulen verantwortlich sein, die den Einsturz der Gebäude begünstigten.

Einer der Verdächtigen wurde den Angaben zufolge am Flughafen in Istanbul gefasst. Er soll versucht haben, mit Bargeld nach Montenegro zu fliehen. Neun weitere Verdächtige wurden in den Städten Sanliurfa und Osmaniye verhaftet.

Katastrophenschutz: Erdbeben dauerten fast zwei Minuten

Nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde sind die immensen Zerstörungen auch auf die Dauer der Erschütterungen zurückzuführen. Das erste der beiden Erdbeben am vergangenen Montagmorgen habe etwa 65 Sekunden gedauert, das zweite 45 Sekunden, sagte der Chef der Abteilung für Erdbeben und Risikoverminderung in der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad, Orhan Tatar, am Samstag laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.

Grenzübergang zu Armenien geöffnet

Die Türkei öffnete indes trotz Feindschaft zu Armenien einen Grenzübergang ins Nachbarland, um die Überlebenden nach der Erdbebenkatastrophe besser versorgen zu können. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Samstag berichtete, passierten fünf Lastwagen mit humanitärer Hilfe einen Grenzposten in der türkischen Provinz Igdir. Zuletzt sei das 1988 nach einem Beben in der Ex-Sowjetrepublik Armenien möglich gewesen.

Schwierige Hilfe in Syrien

Im Bürgerkriegsland Syrien ist der Hilfseinsatz besonders schwierig. Zur Erdbebenkatastrophenregion zählen Landesteile, die von der Regierung kontrolliert werden, aber auch Rebellengebiete. Am Freitag traf ein erster Hilfskonvoi der Vereinten Nationen im Norden Syriens ein. UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths bezeichnete am Samstag die Erdbeben in der Türkei und in Syrien als schwerste Katastrophe in dieser Region seit 100 Jahren. Bei einer Pressekonferenz lobte er die Reaktion der Türkei als außergewöhnlich.

Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, erreichte am Samstag das schwer von den Erdbeben getroffene Aleppo in Syrien – mit 35 Tonnen medizinischer Ausrüstung. Er will sich vor allem in Krankenhäusern und Notunterkünften ein Bild von der Lage machen. Die WHO schätzt, dass alleine in Aleppo mehr als 200.000 Menschen nach den Erdbeben obdachlos geworden sind.

Grenzübergang als „Nadelöhr“

Das Welternährungsprogramm der UNO hatte zuvor gewarnt, dass seine Lagerbestände im Nordwesten Syriens zur Neige gingen. 90 Prozent der Bevölkerung sind dort auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Der Grenzübergang Bab al-Hawa ist derzeit der einzige Zugang in die Rebellengebiete. Immer wieder wird befürchtet, dass auch dieser Grenzübergang geschlossen wird.

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen appelliert, diesen Übergang offenzuhalten, spricht zugleich aber von einem „Nadelöhr“, das den Hilfsgütertransport nach Nordsyrien stark verzögere. Zusätzlich erschweren zerstörte Straßen, Überflutungen und fehlender Treibstoff den Hilfseinsatz.