Proteste in Tiflis
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Georgien am Scheideweg

„Agenten“, Proteste und ein Oligarch

Für die Georgier und Georgierinnen ist die Zukunft ihres Landes klar: Umfragen zufolge befürworten rund 85 Prozent einen EU-Beitritt ihres Landes. Die klar prowestliche Haltung der Bevölkerung steht allerdings zunehmend im Widerspruch zu jener ihrer Regierung. Diese fährt einen zweigleisigen Kurs gegenüber Russland und dem Westen. Im Hintergrund zieht der milliardenschwere Oligarch Bidsina Iwanischwili die Fäden.

Ähnlich wie in Russland wollte die georgische Regierungspartei Georgischer Traum ein Gesetz gegen „ausländische Agenten“ auf den Weg bringen. Eine Mehrheit im Parlament sprach sich bereits dafür aus. Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen, die zu mehr als 20 Prozent aus dem Ausland finanziert werden, hätten sich als „ausländische Agenten“ registrieren müssen oder eine Geldstrafe riskiert. Eine eklatante Schwächung der Zivilgesellschaft wäre die Folge gewesen.

Donnerstagfrüh vollzog die Regierung überraschend eine Kehrtwende und zog den Gesetzesentwurf zurück. Sie wolle mit diesem Schritt eine „Konfrontation“ in der Gesellschaft verringern. Denn das Vorhaben der Regierung hatte am Dienstag und Mittwoch Zehntausende Georgier und Georgierinnen in Tiflis dagegen demonstrieren lassen. Es gab auch gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei.

Proteste in Tiflis
APA/AFP/Vano Shlamov
Die große Mehrheit der georgischen Bevölkerung ist proeuropäisch eingestellt, die Regierung agiert stärker prorussisch

„Relativ gut organisierte Zivilgesellschaft“

Für den Kaukasus-Experten Johannes Leitner, einen der Leiter der auf den postsowjetischen Raum spezialisierten Risiko- und Strategieberatung LM Prisk, ist dieser Schritt ein Zeichen einer für die Region noch „relativ gut organisierten Zivilgesellschaft“: „Die Regierung will hier offensichtlich nicht weiter eskalieren und Wind aus den Segeln nehmen“, sagte er gegenüber ORF.at.

Offen bleibt aber, ob das Gesetz in anderer Form wiederkommen soll. Die Regierungspartei beklagte, dass das Gesetz „in einem schlechten Licht und auf irreführende Weise“ dargestellt worden sei. Die Absicht hinter dem Vorhaben solle in öffentlichen Gesprächen „besser erklärt“ werden. Die Regierung hatte zuvor mit einer höheren Transparenz für das Gesetz argumentiert. Die Opposition äußerte sich skeptisch über die Ankündigung der Regierung und will die Proteste fortsetzen.

Kritik aus Moskau

Am Freitag lehnten die Abgeordneten im Parlament das Gesetz nun formell in zweiter Lesung ab – mit 35-Nein- und einer Ja-Stimme. Viele Abgeordnete der Regierungspartei, die am Dienstag noch für das Gesetz gestimmt hatten, blieben der neuerlichen Abstimmung fern. Zugleich fand eine neue proeuropäische Kundgebung vor dem Parlamentsgebäude statt.

Heftige Kritik am Rückzieher der georgischen Regierung gab es indes aus Russland. Der Präsident des russischen Parlaments, Wjatscheslaw Wolodin, kritisierte die geplante Rücknahme des Gesetzes im Nachbarland. „Mit dem Verzicht auf seine Erörterung im Parlament hat Georgien seine Chance auf Souveränität verpasst“, schrieb Wolodin in seinem Telegram-Kanal. Wie Wolodin beschuldigte auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow die USA, hinter den Protesten zu stecken. Es gebe eine „sichtbare Hand“ von jemandem, der „eifrig“ versuche, „antirussische Elemente hinzuzufügen“.

Vorreiter bei Westorientierung

Eigentlich galt Georgien in der Region mit seinen Ambitionen Richtung Westen als Vorreiter. Eine starke Westorientierung leitete der frühere Präsident Micheil Saakaschwili in den 2000er Jahren ein. Seit 2012 ist allerdings nicht mehr Saakaschwilis Vereinte Nationale Bewegung an der Macht, sondern der Georgische Traum. Gemeinsam mit Moldawien und der Ukraine stellte die aktuelle Regierung im vergangenen Jahr auch einen EU-Beitrittsantrag.

Die Regierung machte das allerdings nur nach Protesten der Bevölkerung. Sie hatte den Antrag erst 2024 geplant, so Schiffers. Im Gegensatz zu den anderen beiden Staaten, die einen Kandidatenstatus erhielten, wurde Georgien mit der europäischen Beitrittsperspektive vertröstet und bekam einen Zwölfpunkteplan als Hausaufgabe mit. Dazu zählen die Funktionsweise staatlicher Institutionen sowie die „Deoligarchisierung“ der georgischen Innenpolitik.

„Schachfigur des Kreml“

Gemeint ist damit wohl der Oligarch Iwanischwili. „Er ist eine Figur, die sich gemeinsam mit Russland als Reaktion auf die starken Ambitionen Richtung Westen etabliert hat“, analysiert Leitner. Er handle als „Schachfigur des Kreml“ und sorge dafür, „dass Georgien nicht zu stark Richtung Westen abdriftet“.

Ähnlich argumentierte auch der Georgien-Bericht des European Council on Foreign Relations (ECFR). Oligarchen aus einer der früheren Sowjetrepubliken, die einen Großteil ihres Reichtums durch ihre Verbindungen zu Russland erlangt haben, „haben wahrscheinlich wenig Freiheit, wirklich unabhängig vom Kreml zu handeln“. Das ermögliche Russland neue Formen der – auch indirekten – Einflussnahme.

Georgiens Ex-Premier Bidsina Iwanischwili
Reuters/Irakli Gedenidze
Der Oligarch Iwanischwili gilt als Drahtzieher im Hintergrund

Iwanischwili baute sein Vermögen vor allem in Russland auf und gilt nun, obwohl er sich wiederholt offiziell aus der Politik zurückzog, als Drahtzieher der Regierung. „Mehrere Premierminister und Minister kamen meist aus dem Geschäftsumfeld von Iwanischwili“, sagte Sonja Schiffers, Leiterin des Büros der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis. So ist etwa der derzeitige Premier Irakli Garibaschwili ein ehemaliger Angestellter des Oligarchen. Laut „Forbes“-Magazin umfasst Iwanischwilis Vermögen rund 4,8 Mrd. Dollar (4,5 Mrd. Euro) – vor allem aufgebaut im Metall-, Banken- und Immobiliensektor in Russland.

Komplexe Offshore-Konstruktionen

Schiffers sieht Iwanischwili nicht „absolut prorussisch im engeren Sinn“: „Er ist Geschäftsmann, nicht besonders liberal und verfolgt vor allem kurzfristige wirtschaftliche und Sicherheitsinteressen.“ Das führe in der aktuellen Situation jedoch zu einer prorussischen Politik. Nach seinem Eintritt in die Politik behauptete Iwanischwili 2013, sein Vermögen in Russland verkauft zu haben.

Allerdings gehörten dem Oligarchen laut Recherchen der Organisation Transparency International auch zwischen 2012 und 2019 zumindest zehn russische Unternehmen über Offshore-Firmen. Auch die Recherchen des International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ)im Rahmen der Pandora-Papers führte zwölf Unternehmen, die zwischen 1998 und 2016 auf den Britischen Jungferninseln gegründet wurden, auf Iwanischwili zurück.

Neben den Offshore-Konstruktionen ließ Iwanischwili zudem Verwandte und enge Vertraute seine Wirtschaftsinteressen in Russland vertreten, so Transparency. Zumindest eine der Firmen soll über Offshore-Konstruktionen noch im vergangenen Jahr in seinem Besitz gewesen sein.

Ambivalente Außenpolitik

2012 gründete der gebürtige Georgier Iwanischwili die Partei Georgischer Traum, siegte und war selbst einige Monate Premier. Wenn auch nicht mehr an vorderster Front aktiv, kontrolliert Iwanischwili in Georgien nicht nur die Regierungspartei. Über die Besetzung von Posten mit ihm loyalen Personen habe er in vielen Bereichen des Landes einen indirekten, aber starken Einfluss, sagte Leitner.

Mit Georgischer Traum in der Regierung vollführt das Land seit Jahren einen ständigen Balanceakt zwischen dem Westen und dem starken Nachbarn Russland. Leitner: „In der offiziellen Rhetorik gibt es eine starke Ausrichtung zu EU und NATO. Hinter den Kulissen wird an der Unterminierung des westlichen Systems gearbeitet.“ Einige Beobachter orten in den letzten eineinhalb Jahren verstärkt offen antiwestliche Aussagen.

Protestierende in Tbilisi
Reuters/Irakli Gedenidze
Bei den Protesten kam es in den Abendstunden zu Ausschreitungen zwischen Demonstranten und Polizei

Viele Politiker aus der Regierungspartei, die einen liberalen, prodemokratischen und proeuropäischen Zugang hatten, hätten inzwischen Georgischer Traum verlassen, so Schiffers: „Die Regierung geht den Weg der euro-atlantischen Integration wider Willen. Der Georgische Traum will nicht für den EU-Prozess Privilegien und Kontrolle aufgeben.“ Die von Iwanischwili finanzierte Partei habe sich gewandelt.

Ukraine-Krieg erhöht Druck

Das Modell – prowestlich nach außen, illiberal nach innen – sei mit dem Ukraine-Krieg noch mehr unter Druck geraten, sagte Schiffers. Die Regierungspartei Georgischer Traum verurteilte zwar die russische Invasion, reiste aber zum Jahrestag trotz Einladung nicht nach Kiew.

Etwa die Hälfte der Bevölkerung begrüßt trotz dominanter Pro-EU-Einstellung Umfragen zufolge diesen vorsichtigen Kurs der Regierung. Zumal Georgien selbst beim Kaukasus-Krieg 2008 in einem militärischen Konflikt mit Russland gestanden war. Seitdem sind die georgischen Hoheitsgebiete Südossetien und Abchasien von Russland besetzt.

An den westlichen Sanktionen gegen Russland nimmt Georgien nun im aktuellen Ukraine-Krieg nicht teil, sagte aber Kontrollen zu. Diese Aussagen stünden aber in Widerspruch zu den stark gestiegenen Handelsvolumina aus der EU und Großbritannien in die gesamte Region, gab Leitner zu bedenken. Das werde derzeit von EU und USA untersucht.

Übersichtskarte von Georgien, Ukraine und Russland
Grafik: APA/ORF

Hohe wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland

Wirtschaftlich brachten die Folgen des Ukraine-Krieges einen Aufschwung für Georgien. Laut Weltbank wuchs die Wirtschaft im vergangenen Jahr um rund zehn Prozent. Das Land nahm Zehntausende Russen, darunter viele wohlhabend und gut ausgebildet, auf. „Das brachte viel Geld ins Land, befeuerte aber auch den Immobilienmarkt und ließ damit die Inflation steigen“, so Leitner.

Viel Spielraum, sich von Russland zu emanzipieren, hat Tiflis nicht. Obwohl die EU wichtigster Handelspartner wurde, ist Georgien bei einigen entscheidenden Produkten wie Weizen, Öl und Gas völlig abhängig von Russland. Erst Ende vergangenen Jahres beklagte Transparency in Georgien die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes von Russland.

Allein in den ersten neun Monaten 2022 habe Georgien mehr als 2,2 Mrd. Dollar (2,1 Mrd. Euro), rund zwölf Prozent des georgischen BIP, von Russland lukriert – über Überweisungen, Tourismus und Exporte. Das sei 2,6-mal mehr als im Vergleichszeitraum 2021.

Korruption und Klientelismus sind zurück

In Georgien hätten sich Korruption und klientelistische Netzwerke wieder verfestigt, analysierte Leitner. Das sei unter Saakaschwilis Präsidentschaft von 2004 bis 2013 auf den unteren Ebenen aufgebrochen worden. Das Vertrauen in staatliche Institutionen war gewachsen, die Alltagskorruption gesunken. Unumstritten war der Ex-Präsident allerdings nicht. So wurde sein Führungsstil im Laufe seiner Amtszeit zunehmend autoritärer. Proteste gegen die Regierung wurden gewaltsam niedergeschlagen.

Saakaschwili habe allerdings noch eine „symbolische Kraft“, ist Leitner überzeugt. Er gilt als Hauptgegner Iwanischwilis. Nach dem Machtwechsel ging er ins Exil, zunächst in die USA, dann mischte Saakaschwili in der ukrainischen Politik mit, wurde in Georgien 2018 aber in Abwesenheit zu sechs Jahren Haft verurteilt. Als er 2021 kurz vor den Lokalwahlen nach Georgien zurückkam, wurde er verhaftet.

Micheil Saakaschwili, 2013
Reuters/David Mdzinarishvili
In Haft verschlechterte sich der Zustand des Ex-Präsidenten Saakaschwili. Er wird seit Monaten im Spital behandelt.

Saakaschwili in schlechtem Zustand

Seit Monaten wird er aufgrund seines sich verschlechternden Gesundheitszustands im Spital behandelt. Vertreter von Menschenrechtsorganisationen und er selbst sprechen von „psychischer“ Folter und Misshandlungen. Die georgischen Behörden weisen diese Vorwürfe zurück. Politische Beobachter und Menschenrechtsorganisationen bewerten den Umgang mit Saakaschwili als politisch motiviert.

Schiffers beobachtet inzwischen eine abnehmende Mobilisierung der Anhänger und Anhängerinnen des Ex-Präsidenten. Daher brauche die Regierung ihn inzwischen kaum zu fürchten. Doch hat die Causa Saakaschwili Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Georgien und der Ukraine. Denn der Georgier war vor der Rückkehr in sein Heimatland ein enger Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Kiew stellt sich nun demonstrativ auf die Seite Saakaschwilis und fordert von der georgischen Regierung vehement dessen Freilassung.