Deutscher Präsident Frank-Walter Steinmeier und polnischer Präsident Andrzej Duda
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80 Jahre Aufstand in Warschauer Ghetto

Gedenken unter speziellen Voraussetzungen

Polen, Israel und Deutschland haben am Mittwoch gemeinsam mit letzten Überlebenden des Holocaust des Aufstands im Warschauer Ghetto vor 80 Jahren gedacht. Jüdische Widerstandskämpfer setzten sich damals gegen die Deportation in Vernichtungslager zur Wehr – obwohl der Kampf praktisch aussichtslos war. Die gemeinsame Gedenkfeier in Polen war im Vorfeld mit Spannung erwartet worden. Zuletzt hatten Reparations- und Eigentumsfragen die Beziehungen belastet.

Am Ghettodenkmal in der polnischen Hauptstadt hielten am Mittwoch die Staatspräsidenten Polens, Israels und erstmals auch Deutschlands – Andrzej Duda, Jizchak Herzog und Frank-Walter Steinmeier – Reden und legten Kränze nieder. Alle drei trugen Narzissenanstecker, die Blume gilt in Polen als Symbol des Gedenkens an den Aufstand im Warschauer Ghetto. Steinmeier bat in seinem Redebeitrag um Vergebung und bedankte sich zugleich für die Versöhnung beider Staaten mit den einstigen Tätern. Diese sei ein „unendlich kostbares Geschenk“.

Deutsche hätten das Menschheitsverbrechen der Schoah minutiös geplant und durchgeführt. „Deutsche haben Europas Jüdinnen und Juden, die Jüdinnen und Juden Warschaus mit einer Grausamkeit und Unmenschlichkeit verfolgt, versklavt, ermordet, für die uns die Worte fehlen“, sagte Steinmeier. „Ich stehe heute vor Ihnen und bitte um Vergebung für die Verbrechen, die Deutsche hier begangen haben.“ Er stehe hier „in Trauer und Demut“.

Zuschauer bei Zeremonie
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Anlässlich des 80. Jahrestags des Aufstandes im Warschauer Ghetto fand in Polen eine Gedenkfeier statt

Israels Staatspräsident Herzog hob den Aspekt der Versöhnung hervor. Die damals ermordeten Jüdinnen und Juden hätten es sich nicht vorstellen können, „dass wir 80 Jahre später hier stehen werden, die Präsidenten Polens, Israels und Deutschlands, ihr Heldentum würdigen und gemeinsam in ihrem heiligen Gedenken schwören werden: Nie wieder“, sagte Israels Staatschef. Die „Fackel der Verantwortung“ müsse an künftige Generationen weitergegeben werden.

„Nie wieder“ als wichtigste Lehre

Auch der deutsche Bundespräsident betonte, die Deutschen wüssten um ihre Verantwortung und um den Auftrag, den die Überlebenden und die Toten ihnen hinterlassen hätten. „Wir nehmen ihn an. Für uns Deutsche kennt die Verantwortung vor unserer Geschichte keinen Schlussstrich. Sie bleibt uns Mahnung und Auftrag in der Gegenwart und in der Zukunft.“

80 Jahre Aufstand in Warschauer Ghetto

Am Mittwoch erinnert Polen an den Aufstand im Warschauer Ghetto. Am 19. April 1943 begann dort der größte jüdische Aufstand gegen die Gräueltaten der Nationalsozialisten.

Die wichtigste Lehre aus der deutschen Geschichte laute „Nie wieder!“, so Steinmeier. Die Deutschen hätten diese Lehre verinnerlicht. In Europa dürfe es keinen verbrecherischen Angriffskrieg wie den Russlands gegen die Ukraine geben, gemeinsam mit Polen und den Bündnispartnern wolle man sich dafür einsetzen.

Auch der polnische Auschwitz-Überlebende Marian Turski zog am Mittwoch Parallelen zwischen den von Nazi-Deutschland begangenen Taten im Zweiten Weltkrieg und Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Er könne nicht schweigen, wenn er die Verbrechen im ukrainischen Butscha sehe, wohl wissend, welche Gräueltaten Deutschland während des Zweiten Weltkrieges in besetzten Ländern begangen habe, sagte Turski in Warschau bei der Gedenkfeier.

Marian Turski bei Rede
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Der 96 Jahre alte Turski ist Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees

Über 56.000 Juden getötet oder deportiert

Das Warschauer Ghetto war im Herbst 1940 von den deutschen Besatzern errichtet worden. Rund 450.000 Menschen wurden dort auf engstem Raum eingeschlossen. 1942 begannen die Nationalsozialisten mit der Deportation der Juden in Vernichtungs- und Arbeitslager. Zwischen Juli und September wurden 250.000 bis 280.000 Menschen verschleppt oder ermordet.

Als am 19. April 1943 SS-Einheiten in das Ghetto einmarschierten, begann der Aufstand des nur schwach bewaffneten jüdischen Widerstandes. Die Kämpfe dauerten bis Mitte Mai. Der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen und das Ghetto niedergebrannt, nur wenige Menschen überlebten. Mehr als 56.000 Juden wurden getötet oder in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.

Polens Präsident Duda nannte die Teilnehmenden des Warschauer Ghettoaufstandes gemeinsame Helden Israels und Polens. „Sie sind für mich und viele Polen vor allem ein Symbol für Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut“, so Duda am Mittwoch in Warschau. Die Aufständischen seien mit ihrem Mut ein Vorbild für israelische und polnische Soldaten, die die Grenzen ihrer Länder bewachen.

Eine Gruppe von Juden werden weggeführt, 1943
AP
Die Kämpfe rund um das Warschauer Ghetto dauerten bis Mitte Mai 1943

Aktuell angespannte Beziehungen

Der gemeinsame Auftritt der drei Länder sende ein Zeichen der Einigkeit trotz aktuell angespannter Beziehungen, schreibt die „Financial Times“ („FT“). Die Beziehungen zwischen Israel und Polen seien zwar zuletzt aufgetaut, die polnische Regierungspartei PiS propagiere jedoch nach wie vor eine nationalistische Darstellung der Rolle des Landes im Zweiten Weltkrieg und verbiete Aussagen wie „polnische Konzentrationslager“.

Zudem schüre die PiS auch antideutsche Ressentiments und gehe damit mit Blick auf die anstehenden Parlamentswahlen auf Stimmenfang. Erst am Dienstag, wenige Stunden vor Steinmeiers Ankunft in Warschau, verabschiedete Polens Regierung eine Resolution, welche die Regelung der Reparationsfrage zu einer Notwendigkeit erklärte. Sie sei die formale Antwort auf das diplomatische Schreiben, mit dem Berlin die Reparationsforderungen Polens abgelehnt habe, hieß es aus Polen.

Zuvor hatte es auch mit Israel langjährige Spannungen über die Art und Weise, wie an die Rolle Polens während der Kriegsgräuel erinnert werden soll, gegeben. Der Streit flammte 2021 wieder auf, als Warschau ein Gesetz verabschiedete, das die Möglichkeiten von Jüdinnen und Juden einschränkte, im Krieg verlorenes Eigentum zurückzufordern.

Letztes „rundes“ Gedenken mit Zeitzeugen

Die Gedenkfeier sollte wohl nach den Meinungsverschiedenheiten die Aufmerksamkeit wieder auf den Aufstand selbst legen, schreibt die „Financial Times“ („FT“). Pawel Dobrosielski, Holocaust-Gedenkwissenschaftler an der Universität Warschau, sagte, die Veranstaltung sei „eine Geste des guten Willens von Deutschland, Israel und Polen“.

Er habe jedoch das Gefühl, dass der Holocaust in den internationalen Beziehungen immer noch „ein Druckmittel“ sei, weshalb er die Veranstaltung nicht als solide Grundlage für mehr Einigkeit bei der Erinnerung an den Holocaust sehe.

Jüdisches Kind, 1943
AP/B.i. Sanders
Das Warschauer Ghetto war im Herbst 1940 von den deutschen Besatzern errichtet worden

„Abgesehen von den politischen Spannungen dürfen wir nicht vergessen, dass das mit ziemlicher Sicherheit der letzte ‚runde‘ Jahrestag des Aufstands ist, an dem noch Menschen teilnehmen können, die diese Zeit miterlebt haben. Es ist also der Moment, in dem die Erinnerung zur Geschichte wird“, erinnerte Konstanty Gebert, Mitglied der jüdischen Gemeinde Polens und Autor eines Buches über die Völkermorde des 20. Jahrhunderts, gegenüber der „FT“.

Antisemitismus nimmt zu

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, begleitete Steinmeier nach Warschau und rief den deutschen Bundespräsidenten im Vorfeld dazu auf, in Bezug auf aktuelle Entwicklungen ein „klares Zeichen“ zu setzen. „Wir sehen leider, dass Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus auch in Deutschland zunehmen.“

Auch in Österreich haben die Folgen der vergangenen und aktuellen globalen Krisen antisemitische Verschwörungsmythen befeuert. Das belegt der am Dienstag präsentierte Antisemitismus-Bericht des Parlaments. So sagten etwa mehr als ein Drittel der Befragten, dass Juden und Jüdinnen die „internationale Geschäftswelt“ beherrschten.