Niederländischer Präsident Mark Rutte, EU-Komissionspräsidentin Ursula von der Leyen, italienische Premierministerin Giorgia Meloni, und tunesischer Präsident Kais Saied
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Migration

Möglicher Pakt mit Tunesien zweischneidig

Seit Monaten versuchen zahlreiche Migrantinnen und Migranten, von Tunesien über das Mittelmeer in die EU zu gelangen. Brüssel will das eindämmen: Im Ringen um ein Migrationsabkommen boten europäische Spitzenpolitikerinnen und -politiker der Regierung in Tunis zuletzt viel Geld an. Doch wie sinnvoll ist so ein Abkommen, wie es am Wochenende von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ins Spiel gebracht worden war, tatsächlich?

Verhandlungen mit Tunesien zu verweigern sei nicht nur „realpolitisch“, sondern auch moralisch „nicht wirklich koherent“, sagte der Migrationsexperte Gerald Knaus, der die Denkfabrik European Stability Initiative (ESI) leitet, im Gespräch mit ORF.at. Er begründet das einerseits mit bereits stattfindenden Gesprächen zwischen Italien und Tunesien und andererseits mit der stets steigenden Zahl an ertrunkenen Geflüchteten im Mittelmeer. „Aber das heißt nicht, dass jeder Deal legitim oder zu rechtfertigen ist“, so Knaus.

Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger kann einem Pakt hingegen wenig abgewinnen. „Man macht sich damit wiederum von einem Drittstaat mit zweifelhafter Menschenrechtslage abhängig“, sagte die Expertin der Wirtschaftsuniversität Wien im Ö1-Morgenjournal.

EU-Gelder für Tunesien?

Zur Erinnerung: In der Hoffnung, Lösungen im Umgang mit irregulärer Migration zu finden, war EU-Kommissionschefin von der Leyen am Wochenende gemeinsam mit Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni und dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte nach Tunis gereist. Tunesiens Präsident Kais Saied wurde dabei eine verstärkte Partnerschaft angeboten.

Die EU scheint darauf zu bauen, dass das wirtschaftlich stark angeschlagene nordafrikanische Land im Gegenzug für Geld Geflüchtete davon abhalten wird, nach Europa zu gelangen. Ähnliches hatte die EU mit der Türkei 2016 vereinbart. De facto wird dieses Abkommen aber seit 2020 nicht mehr umgesetzt.

Tunis wird für ein ähnliches Abkommen nun also eine Mrd. Euro in Aussicht gestellt. Davon wolle man gut 100 Mio. Euro zur Grenzkontrolle, Suche und Rettung von Migrantinnen und Migranten zur Verfügung stellen, sagte von der Leyen am Sonntag. Das entspricht der dreifachen Summe, mit der Brüssel Tunis zuletzt im Durchschnitt jährlich unterstützte. Bis zum Ende Juni stattfindenden EU-Gipfel solle das Abkommen nach Wunsch der EU-Kommission unterzeichnet werden.

Libyen-Kooperation als ungewolltes Vorbild?

Knaus, der mitunter als „Architekt“ des EU-Türkei-Deals bekannt ist, befürchtet, dass eine mögliche Kooperation mit Tunesien „der Kooperation (der EU, Anm.) mit Libyen ähnelt“, wie er ORF.at sagte. An der Zusammenarbeit zwischen der EU, der EU-Grenzschutzagentur Frontex und der libyschen Küstenwache gibt es immer wieder scharfe Kritik. Geflüchtete würden auf hoher See abgefangen und zurück in Libyen misshandelt werden, kritisierte etwa Human Rights Watch (HRW).

Schwerwiegende Vorwürfe gibt es auch gegen die tunesische Küstenwache: Berichte legen nahe, dass die tunesische Küstenwache in der Vergangenheit Motoren von Flüchtlingsbooten abmontiert und Migrantinnen und Migranten auf hoher See zurückgelassen habe. Dazu komme, dass es in Tunesien kein Asylsystem gebe, so Knaus.

Möglichkeiten für sinnvolle Verhandlungen sieht der Experte dennoch. Tunesien könne einerseits seine eigenen Bürgerinnen und Bürger davon abhalten, in Boote gen Europa zu steigen, und andererseits die Schlepperkriminalität bekämpfen. Die EU könne wiederum Investitionen in Projekte – wie etwa den Ausbau von erneuerbaren Energiequellen – sowie Kontingente für tunesische Arbeitsmigration anbieten, sagte der Experte.

Warnung vor „Instrumentalisierung“ von Migranten

Seitens der EU stellen sich noch weitere Fragen – darunter jene nach einer möglichen Erpressbarkeit. Für Kohlenberger ist das Risiko, dass sich die EU durch ein Abkommen mit Tunesien erpressbar mache, „sehr hoch“, wie sie mit Verweis auf eine „Instrumentalisierung“ von Migrantinnen und Migranten in den vergangenen Jahren sagte. „Denken wir an Belarus, das bewusst Geflüchtete aus unterschiedlichen Ländern des Globalen Südens an die polnische Grenze geschickt hat“, so die Forscherin.

Das sei nicht das einzige Beispiel – auch der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan habe in der Vergangenheit immer wieder die im Land befindlichen Syrerinnen und Syrer „über Griechenland losgeschickt“, so Kohlenberger. „Es kam zu sehr, sehr unschönen Szenen“, sagte sie.

„Nicht erpressbar ist man nur, wenn man entweder keine Kontrolle oder Gewalt an den Grenzen hat“, unterstrich Knaus. „Jede andere Lösung bedeutet Verhandlungen.“ Und da gelte: „Je mehr man anbietet, desto mehr Einfluss hat man auch“, sagte der Experte, der sich auch dafür aussprach, der Türkei in dem Kontext ein neues Angebot zu machen.

Präsident: Tunesien nicht „Wächter Europas“

Ob aber der Deal mit Tunesien zustande kommt, hängt nicht zuletzt vom tunesischen Präsidenten ab. Dieser hatte schon im Vorfeld des Besuchs angekündigt, dass sein Land nicht Grenzwächter für die EU werden wolle. „Wir können nicht Wächter für ihre Staaten sein“, sagte er.

Bereits ein Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Höhe von 1,9 Milliarden Dollar hängt in der Luft, weil Saied keine verbindliche Zusage zu den dafür verlangten Reformen machen will. Tunesien befindet sich derzeit in einer schlimmen Wirtschaftskrise. Die Bevölkerung kämpft mit steigenden Preisen und Knappheit bei Lebensmitteln.

EU-Verhandlungen zu Migration in Tunesien

Spitzenpolitikerinnen und -politiker der EU sind am Sonntag nach Tunesien gereist, um mit der Regierung in Tunis über ein Migrationsabkommen zu verhandeln. Vorbild für die EU ist der Flüchtlingsdeal mit der Türkei aus dem Jahr 2016.

„Das kann sehr böse enden“

Dazu kommen Spannungen zwischen der tunesischen Bevölkerung und den im Land befindlichen Migranten und Migrantinnen aus Ländern südlich der Sahara. Befeuert wurden diese von der Regierungsspitze in Tunis. Präsident Saied hatte im Februar fremdenfeindliche Töne angeschlagen und Migrantinnen und Migranten der Gewalt und Kriminalität beschuldigt.

Übergriffe gegen Geflüchtete nahmen daraufhin zu, mehrere afrikanische Länder flogen deshalb Hunderte ihrer Staatsbürgerinnen und -bürger aus. „Das ist eine sehr instabile Situation, und in dieser jetzt auch noch sehr viel europäisches Steuergeld zu zahlen, damit Migranten ferngehalten werden, das kann sehr böse enden“, so Kohlenberger.

Italiens restriktiver Asylkurs

In der EU war es vor allem die italienische Regierungschefin, die sich für einen Pakt starkgemacht hatte. Meloni – sie war vergangene Woche zweimal in Tunesien zu Besuch – rief mehrfach dazu auf, Staaten wie Tunesien dafür zu bezahlen, Boote mit Geflüchteten an Bord konsequent am Ablegen Richtung Italien zu hindern. Nicht nur das: Auch das Vorgehen gegen Seenotretterinnen und -retter wurde unter der Ägide der Postfaschistin verschärft.

Flüchtlingsboot im Mittelmeer
AP/Andoni Lubaki
In Italien waren zuletzt verstärkt aus Tunesien kommende Migrantinnen und Migranten gelandet

All das zielt auf eine Eindämmung irregulärer Migration ab. Nach offiziellen Zahlen des Innenministeriums in Rom erreichten seit Beginn des Jahres mehr als 53.800 Migranten und Migrantinnen Italien per Boot – im Vorjahreszeitraum waren es rund 21.700. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) kam die Mehrheit der in Italien registrierten Migranten aus Tunesien. Neben Geflüchteten aus Subsahara-Afrika wagen auch Tunesierinnen und Tunesier, die zu Hause angesichts hoher Arbeitslosigkeit ohne Perspektive sind, die Überfahrt.

EU-Innenminister für schärfere Asylregeln

Die Ankündigung über eine verstärkte Kooperation mit Tunesien kam nur wenige Tage, nachdem die 27 EU-Innenministerinnen und -minister sich für schärfere Asylregeln ausgesprochen hatten.

Die Innenminister der Mitgliedsstaaten vereinbarten unter anderem, dass Migrantinnen und Migranten aus Ländern, die im EU-Schnitt eine Anerkennungsquote von unter 20 Prozent haben – wie etwa Tunesien oder die Türkei – künftig nach dem Grenzübertritt in Aufnahmeeinrichtungen kommen und dort unter haftähnlichen Bedingungen ausharren, während ihre Bleibeperspektive geprüft wird. Erhalten die Menschen kein Asyl, sollen sie umgehend zurückgeschickt werden.

Demnach vorgesehen ist auch eine Rückführung in „sichere Drittstaaten“, sofern ein Schutzsuchender bzw. eine Schutzsuchende eine „Verbindung“ zu diesem Land aufweist. Die Entscheidung, ob eine derartige Verbindung vorliegt, soll jedem Land selbst überlassen sein. Möglich ist, dass das EU-Parlament noch Änderungen an der geplanten Reform durchsetzt.