Wagner-Soldaten in Rostov
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Wagner-Aufstand

US-Geheimdienste hatten vorab Hinweise

Nach dem Aufstand und dem letztlich von Minsk vermittelten Rückzug der Wagner-Truppen sind viele Fragen offen. Auch etwa, wie es zu der für viele überraschenden Offensive kam. Informationen dazu gab es offenbar vorab: Berichten zufolge hatten US-Geheimdienste Hinweise darauf, dass Jewgeni Prigoschin einen Aufstand gegen die Militärführung plante. Auch der russische Präsident Wladimir Putin sei davon zumindest nicht völlig überrumpelt worden.

Geheimdienstvertreter hätten bereits einen Tag vor Beginn des Wagner-Aufstands Vertreter des Weißen Hauses, des US-Verteidigungsministeriums und des Kongresses über die Möglichkeit von Unruhen in Russland informiert, berichteten die „Washington Post“ und die „New York Times“ („NYT“) am Samstagabend (Ortszeit).

Erste Hinweise auf ein geplantes Vorgehen Prigoschins und seiner Söldnergruppe gegen die Militärführung hatten die Geheimdienste der „Washington Post“ zufolge bereits Mitte des Monats. Mitte der Woche hätten sich die Hinweise dann derart verdichtet, dass es in Washington eine Reihe von Geheimdienstbriefings gab, hieß es in der „NYT“.

Putin soll mindestens einen Tag vorab Infos gehabt haben

Vielfach war am Tag der Eskalation die Frage gestellt worden, wann die russische Führung von den Plänen Bescheid wusste. Vor allem die hektisch anmutenden Versuche, Sperren und Hindernisse auf den Straßen nach Moskau zu errichten (vielfach wurden Straßen aufgegraben), ließen den Verdacht aufkommen, der Kreml sei überrumpelt worden.

Der „Washington Post“ zufolge gehen die US-Geheimdienstler davon aus, dass Putin selbst bereits mindestens einen Tag vor dem Beginn des Aufstands über die geplante Rebellion informiert war.

Söldner bahnten sich Weg nach Moskau

Der seit Monaten schwelende Machtkampf zwischen Prigoschin und der russischen Militärführung war am Freitagabend dramatisch eskaliert. Wagner-Kämpfer marschierten von der Ukraine aus nach Russland ein, mit dem Ziel, die Militärführung in Moskau zu stürzen. In der Stadt Rostow am Don nahmen die Söldner das Armeehauptquartier für Südrussland ein. Im Laufe des Samstags drangen die Söldner bis in die Region Lipezk rund 400 Kilometer südlich von Moskau vor.

Gespannte Ruhe in Moskau

Nach dem von Minsk vermittelten Rückzug der Wagner-Truppen scheint sich die Lage in Moskau nach dem Aufstand am Samstag vorerst beruhigt zu haben. Laut russischen Angaben werden Söldnerführer Jewgeni Prigoschin und seine Gefolgschaft straffrei bleiben.

Am Samstagabend machte Prigoschin dann überraschend eine Kehrtwende und kündigte die Rückkehr seiner Söldner in ihre Feldlager an. Im Gegenzug für die Beendigung ihres Aufstands werden Prigoschin und seine Kämpfer nach Angaben des Kreml nicht strafrechtlich verfolgt, Prigoschin soll nach Belarus ausreisen. Damit werde „ein Blutbad vermieden“, wie er sagte.

Lächelnder Prigoschin, gefeierte Kämpfer

Den ganzen Tag des Aufstands über hatte Prigoschin in Rostow am Don verbracht, bevor er in den Abendstunden in einem Militärfahrzeug den Schauplatz mit einem Lächeln im Gesicht verließ. Wie er waren zuvor auch seine Kämpfer auf den Straßen der Stadt von Zivilisten gefeiert worden, wie Bilder und Videos zeigten. Die Kämpfer hatten sich am Samstagabend bereits großteils aus Rostow zurückgezogen.

Menschen machen Fotos von Wagner-Kämpfern in Rostov
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Die Wagner-Kämpfer stießen in Rostow am Don durchaus auf Interesse

Am Sonntag wurden nach Angaben des Ministeriums für Notsituationen alle Beschränkungen wieder aufgehoben, die wegen des Aufstands auf den Autobahnen in der Region Rostow verhängt worden waren. Auch der Betrieb von Bahn- und Busbahnhöfen wurde den örtlichen Behörden zufolge in der Region wieder aufgenommen. Auch aus der südrussischen Region Woronesch wurde am Sonntag der Rückzug der Kämpfer gemeldet.

Aufgedeckte Schwächen

Wie Prigoschin und dessen Kämpfer nun weiterverfahren können, scheint völlig unklar. Am Samstag hieß es, dass Teile dem Verteidigungsministerium unterstellt werden. Ein Vorgang, den Prigoschin nicht im Sinn gehabt haben kann. Das US-Institut für Kriegsstudien (ISW) aus Washington schreibt, Prigoschin habe wahrscheinlich darauf gesetzt, dass ein Marsch gegen das Ministerium der einzige Weg sei, die Wagner-Gruppe als unabhängige Kraft zu erhalten. Dabei habe er seine eigenen Chancen überschätzt.

Dennoch habe der Aufstand gegen die eigene Staatsführung nach Meinung von Fachleuten gravierende Schwächen des russischen Sicherheitssystems aufgedeckt. Das könne die Moral der russischen Soldaten an der Front schwächen, schreibt das ISW in einem Bericht. Die vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko ausgehandelte Vereinbarung sei nur eine kurzfristige Lösung.

Nach Einschätzung des ISW hätten die Wagner-Söldner bei ihrem Vorstoß die Vororte von Moskau erreichen können, wenn Prigoschin das gewollt hätte. Die Aktion habe den Mangel an russischen militärischen Reserven im Hinterland deutlich gemacht. „Prigoschins Rebellion hat illustriert, dass den russischen Streitkräften in vielen rückwärtigen Gebieten Reserven fehlen“, heißt es in dem Bericht.

Prigoschin nun „dem Untergang geweiht“

„Viele innerhalb der Elite werden Putin persönlich dafür verantwortlich machen, dass alles so weit gekommen ist“, schrieb die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja auf ihrem Telegram-Kanal, bevor die Nachricht von der Kehrtwende Prigoschins um die Welt ging. Die Gründerin des Analysezentrums R.Politik urteilte, der ganze Vorgang bedeute „einen Rückschlag für Putins Positionen“. Zugleich zeigte sie sich überzeugt, dass Prigoschin nun „dem Untergang geweiht“ sei.

Yevgeny Prigozhin bei seinem Abzug aus Rostov
Reuters/Alexander Ermochenko
Einige Fachleute glauben nicht an ein Ende für Prigoschins Ambitionen

Warnung vor Wagner-Angriff aus Belarus

Doch hinsichtlich Prigoschins weiteren Schicksals gibt es auch gegenteilige Erwartungen: So schloss der britische Ex-General Richard Dannatt einen Angriff Wagners auf die Ukraine aus Belarus nicht aus, sollten viele Söldner ihrem Anführer in das Land folgen. Dass Prigoschin nach dem Ende des Aufstands gegen den Kreml nach Belarus ziehe, sei Anlass zur Sorge, sagte der frühere Generalstabschef am Sonntag dem Sender Sky News.

Sollte Prigoschin in Belarus eine „effektive Streitmacht“ um sich sammeln, wäre das erneut eine Bedrohung, meinte der Ex-General. „Obwohl es den Anschein macht, dass diese Angelegenheit abgeschlossen ist, denke ich, dass sie alles andere als das ist und dass die Nachbeben noch eine ganze Weile zu spüren sein werden“, betonte der Ex-General. „(Die Ukraine) muss ihre Flanke genau beobachten und sichergehen, dass (…) sie einen erneuten Angriff aus Richtung Belarus abwehren kann.“