Wagner-Soldaten in Rostov
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Wagner-Gruppe

Aufstand mit schwer absehbaren Folgen

Nach dem Aufstand der Privatarmee Wagner auf Moskau hat Söldnerchef Jewgeni Prigoschin Samstagabend plötzlich den Rückzug befohlen. Damit wurde eine weitere Eskalation zwar vermieden, offen bleibt aber, was mit Prigoschin und seiner Gruppe passiert – und welche Auswirkungen es auf Länder geben wird, in denen Wagner bisher tätig war. Auch für Russlands Präsidenten Wladimir Putin dürfte der Vorfall langfristige Folgen haben.

Die mehrere Zehntausend Mann umfassende Privatarmee wird in ihrer bisherigen Form wohl aufgelöst. Im Kern drehte sich der Konflikt darum, ob sich die Söldner dem Verteidigungsministerium in Moskau unterzuordnen haben oder als selbstständige Kraft erhalten bleiben. Letzteres wollte Prigoschin. Jetzt soll ein Teil der Wagner-Kämpfer in die regulären russischen Streitkräfte übernommen werden und damit weiter beim Angriffskrieg gegen die Ukraine dabei sein.

Dem Kreml zufolge sollen Prigoschin und alle seine Leute trotz des Aufstands ohne Strafe davonkommen. Doch viele Wagner-Offiziere haben sich bewusst gegen den Dienst bei dem durch starre Befehlsketten und Bürokratie gelähmten Verteidigungsministerium entschieden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Krieg nicht mehr mitmachen, ist groß – zugleich kann sich der Kreml ihrer Loyalität nicht sicher sein.

Denn Prigoschin hat eine der schlagkräftigsten und wohl auch skrupellosesten Truppen innerhalb Russlands zusammengestellt. Schlagzeilen machten vor allem die Zehntausenden Verbrecher, die er in den Gefängnissen für den jetzt schon 16 Monaten dauernden Krieg in der Ukraine rekrutierte. Doch sie galten nur als „Kanonenfutter“ für die blutige Erstürmung der ostukrainischen Stadt Bachmut und für andere Schlachtfelder.

Prigoschin kritisierte mangelnde Unterstützung

Tatsächlich wurden von den Ex-Häftlingen viele getötet, was letztlich wohl auch zu der Eskalation des Konflikts beitrug. Frustriert über Nachschubprobleme und nach seinen Angaben mangelnde Unterstützung durch Moskau entwickelte sich Prigoschin zuletzt zu einem der vehementesten Kritiker der militärischen Führung Russlands.

Am Freitagabend hatte Prigoschin die offizielle Begründung Russlands für den Krieg in der Ukraine als Lügengeschichte bezeichnet und Verteidigungsminister Sergej Schoigu beschuldigt, einen Militärangriff zur Zerstörung seiner Söldnertruppe Wagner angeordnet zu haben.

Kämpfer der von Prigoschin geführten Söldnertruppe hatten in der Folge die Grenze nach Russland überquert und am Samstag die militärischen Einrichtungen in Rostow und in der Stadt Woronesch 500 Kilometer südlich von Moskau kontrolliert. Knapp vor der russischen Hauptstadt hatte Prigoschin seine Truppen in ihre Stützpunkte zurückbeordert. Damit wolle er Blutvergießen vermeiden, hieß es in einer Audiobotschaft von Prigoschin am Samstag. Der Kreml bestätigte eine Vereinbarung mit dem Wagner-Chef.

Wagner-Plakat in Russland wird entfernt
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Bei einer Autobahn in St. Petersburg wird ein Plakat der Söldner-Gruppe entfernt

Auch in internationalen Konflikten aktiv

Daneben sind in der Privatarmee hochprofessionelle Söldner mit langer Kampferfahrung im Einsatz. Manche dienten bei den russischen Streitkräften in verschiedenen Konflikten. Andere waren bei früheren Wagner-Einsätzen dabei. Am deutlichsten war ihre Rolle zuletzt in Mali und der Zentralafrikanischen Republik, deren Regierungen bisher Kommentare zu den Entwicklungen in Russland abgelehnt haben.

Beide Länder hatten sich seit Jahren um engere Beziehungen zu Russland und um militärische Unterstützung im Kampf gegen islamistische Aufständische und innenpolitische Gegner bemüht. „(Wagners) Präsenz in Mali wird vom Kreml unterstützt, und wenn Wagner mit dem Kreml im Streit liegt, wird Mali natürlich unter den Folgen an der Sicherheitsfront leiden“, sagt der malische Politologe Bassirou Doumbia.

In Mali, wo sich das Militär 2020 und 2021 an die Macht geputscht hatte, bezeichnen sich russische Militärs nach eigenen Angaben nicht als Wagner-Söldner, sondern als Ausbildner, die den einheimischen Truppen mit aus Russland gekaufter Ausrüstung helfen. Gerade von diesen international tätigen Veteranen dürften viele aus dem Dienst ausscheiden.

Undatiertes Bild von Wagner-Soldaten in Mali
AP/French Army
Wagner-Söldner in Mali

Konsequenzen für Afrika befürchtet

Russland versprach sich von dieser Vorgehensweise bisher wohl mehr Einfluss in auch für Europa strategisch wichtigen Regionen. Malis Militärregime vertrieb Schritt für Schritt Frankreich, Deutschland und andere Europäer aus dem Land, die bisher im Anti-Terror-Kampf gegen Islamisten und bei der Stabilisierung des Landes geholfen hatten. Im Februar bezeichnete der französische Präsident Emmanuel Macron den Einsatz von Wagner-Truppen in Afrika als „Lebensversicherung für scheiternde Regimes in Afrika“, die nur Elend säe.

Seit 2018 unterstützen zudem Hunderte russische Agenten, darunter viele aus der Wagner-Truppe, die Regierung der Zentralafrikanischen Republik bei der Bekämpfung mehrerer Rebellenaufstände. Ein Stopp der Wagner-Operationen in Afrika könnte sich zudem erheblich auf Finanzströme auswirken. Unter anderem die USA hatten den Söldnern vorgeworfen, sich an Bodenschätzen in Afrika zu bereichern.

ORF-Korrespondenten über russischen Machtapparat

Die ORF-Korrespondenten Paul Krisai und Christian Wehrschütz sprechen unter anderem über den russischen Machtapparat, der am Samstag vorübergehend die Kontrolle verlor. Des Weiteren erörtern sie, ob die Angst wächst, Söldnerführer Jewgeni Prigoschin könnte von Belarus aus einen neuerlichen Angriff starten.

Auch Russland selbst beeinträchtigt

Das Verschwinden Wagners schwächt aber auch die russischen Streitkräfte im Ukraine-Krieg deutlich – denn die Befehlsstruktur bei Wagner war dezentral. Damit konnten Entscheidungen auf dem Schlachtfeld schneller getroffen werden als auf dem bürokratischen Weg der regulären Armee.

Die zu einem beträchtlichen Teil in russischen Gefängnissen rekrutierten Wagner-Söldner spielten zudem in den vergangenen Monaten eine wichtige Rolle im Ukraine-Krieg, vor allem bei dem langwierigen und verlustreichen Kampf um die ostukrainische Stadt Bachmut.

Marsch offenbarte Sicherheitsdefizit

Der Marsch auf Moskau hat jedenfalls unabhängig von seinem Ausgang ein enormes Sicherheitsdefizit offengelegt. Ein großer Teil der russischen bewaffneten Einheiten ist in der Ukraine gebunden. Diese fehlten im Hinterland, um sich der unerwarteten Gefahr entgegenzustellen. Rechtzeitig eingreifen hätte wohl ohnehin nur noch die Luftwaffe können. Doch diese wird von der russischen Armee benötigt, um die ukrainische Gegenoffensive zu bremsen. Ein Einsatz im eigenen Land hätte die Front gefährlich entblößt.

Die russische Nationalgarde hat sich beim ungebremsten Vormarsch der Wagner-Truppe als unfähig erwiesen. Die Führung brauchte viel zu lange, um der Wagner-Gruppe etwas entgegenzustellen. Lkw-Sperren und eilig aufgerissene Straßen konnten die Söldner nicht stoppen.

Für Putin ist der Aufstand die ernsthafteste Herausforderung und die größte Sicherheitskrise im Land seit seinem Aufstieg an die Macht im Jahr 1999. Fachleuten zufolge hat der Vorfall die Verwundbarkeit seiner Herrschaft offenbart. „Putins Position ist geschwächt“, sagte der Politikanalyst Konstantin Kalachew. Putin habe „Prigoschin unterschätzt, genauso wie er zuvor Selenskyj unterschätzt hat“.