Belarussischer Machthaber Alexander Lukaschenko
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Wagner-Aufstand

Lukaschenkos fragwürdige Rolle

Belagerte Militäreinrichtungen in einer russischen Stadt und ein Tausende Soldaten starker Tross der Söldnereinheit Wagner, der sich in bedrohlicher Weise den Weg nach Moskau bahnt – die Entwicklungen in Russland am Wochenende werfen viele Fragen auf. Gleichermaßen gilt das auch für das plötzliche Ende des Aufstands. Eine zentrale Rolle nahm dabei überraschend der weißrussische Machthaber Alexander Lukaschenko ein. Er trat als Vermittler auf, der Wagner-Anführer Jewgeni Prigoschin zum Einlenken bewogen habe. Doch wieso ausgerechnet Lukaschenko?

Die offizielle russische Darstellung auf diese Frage war folgende: „Tatsache ist, dass Alexander Lukaschenko Prigoschin seit Langem persönlich kennt, seit etwa 20 Jahren. Und es war sein persönlicher Vorschlag, der mit Präsident Wladimir Putin abgestimmt wurde. Wir sind dem weißrussischen Präsidenten für diese Bemühungen dankbar“, hieß es von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow noch am Samstag, unmittelbar nach dem abgebrochenen Marsch.

Ein Statement, das freilich mehr Fragen aufwarf, als es beantwortete. Denn gemeinhin gilt der belarussische Machthaber als Vasall und Marionette Putins und steht seit dessen Unterstützung gegen die Proteste der belarussischen Opposition 2020 auch noch in der Schuld Putins. Entsprechend sind die meisten Fachleute skeptisch, dass das Engagement für die Deeskalation im großen Nachbarland tatsächlich Lukaschenko zuzuschreiben ist.

Alles auf Geheiß Russlands?

Dennoch steht der 68-jährige Lukaschenko, der sich mit Gewalt seit fast 30 Jahren an der Macht hält, zumindest in dieser Darstellung als Sieger da – es wirkt, als sei ihm ein Coup gelungen oder ihm zumindest zugestanden worden, eine solch tragende Rolle zu übernehmen. Lukaschenko selbst behauptete am Samstag, er habe die Verhandlungen übernommen, weil er Prigoschin schon lange Jahre kenne.

Gleichzeitig gibt es die Einschätzung, dass Lukaschenkos Rolle auf Geheiß der russischen Führung entstand (und nicht – wie vom belarussischen Präsidialamt dargestellt – auf Initiative des belarussischen Machthabers), und zwar vor allem vor dem Hintergrund, dass es für Putin nicht mehr möglich gewesen wäre, ohne Gesichtsverlust mit dem offen gegen ihn agierenden Prigoschin zu sprechen.

Russlands Präsident Wladimir Putin und der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko
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Putin verbindet mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko eine jahrzehntelange Beziehung

Prigoschin „abgeladen“?

Dass Lukaschenko diese zumindest nach außen dargestellte Vermittlerrolle freiwillig übernahm und damit am Ende Prigoschin ins eigene Land zuwies, erscheint für Fachleute als unrealistisch. „Ich denke, er (Lukaschenko, Anm.) wurde vom Kreml benutzt“, sagt Belarus-Expertin Katia Glod vom European Leadership Network (ELN) in London. Putin habe den aufmüpfigen Milizenführer bei Lukaschenko „abgeladen“.

Prigoschins Anwesenheit berge „zahlreiche Risiken“ in einem Land, in dem die Loyalität der Sicherheitskräfte für den Staatschef von größter Bedeutung sei, sagte Expertin Glod mit Verweis auf die Massenproteste nach der Wahl 2020, die Lukaschenko brutal niederschlagen ließ. „Der einzige Vorteil, den es für Lukaschenko geben könnte, ist, dass er Prigoschin als persönliche Armee gegen eine mögliche Revolte einsetzen möchte.“ Laut Berichten sollen in Belarus bereits Lager für 8.000 Wagner-Kämpfer in Bau sein.

„Nicht genug Einfluss“

Was Lukaschenkos Rolle betrifft, haben auch belarussische Analysten (im Ausland) Zweifel an Minsks offizieller Darstellung. „Ich glaube nicht, dass wir einen wirklichen Grund für die Annahme haben, dass Prigoschin auf Lukaschenko und seine Zusicherungen hören würde und dass er (Lukaschenko, Anm.) genug Einfluss und Stimme in der russischen Innenpolitik hat, um als Vermittler solcher Deals aufzutreten“, sagte Artyom Shraibman vom Carnegie Russia Eurasia Centre im britischen „Guardian“.

Wahrscheinlicher sei, so Shraibman, dass der Gouverneur der Region Tula, Alexei Djumin, der sowohl zu Prigoschin als auch zu Putin enge Beziehungen unterhält, der eigentliche Vermittler war. „Es gibt Hinweise darauf, dass Lukaschenko den ganzen Tag über nicht wirklich an den Verhandlungen beteiligt war und erst kurz nach der Ankündigung ins Spiel kam“, wurde Olga Onuch, Politologin an der Universität Manchester, zitiert.

Alexei Dyumin
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Der Gouverneur der Region Tula, Alexei Djumin – der wahre Vermittler?

„Lukaschenkos Macht wird von Moskau garantiert“

Tatsächlich gibt es derzeit eine Vielzahl weiterer Deutungen – auch solche, die Lukaschenko eine aktive Rolle zuerkennen. Eine sagt etwa, dass Lukaschenko einen Deal für dessen Selbstzweck vorantrieb. „Für Lukaschenko ist eine Destabilisierung Russlands oder Putins eine existenzielle Bedrohung, denn seine Macht wird von Moskau garantiert“, sagte Pavel Slunkin vom European Council for Foreign Relation (ECFR) gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Lukaschenko stütze sich hauptsächlich auf seine Geheimdienste und auf die finanzielle, politische und militärische Unterstützung Moskaus. So hält es der Experte für möglich, dass es auch im persönlichen Interesse Lukaschenkos gelegen sein könnte, die Lage in Russland zu beruhigen, weil Lukaschenko spätestens seit den Massenprotesten im eigenen Land für sein politisches Überleben auf den Kreml angewiesen sei.

Lukaschenko warnt vor Zusammenbruch Russlands

Am Dienstag bezeichnete Lukaschenko den Wagner-Aufstand als Gefahr für Russland. „Wenn Russland zusammenbricht, werden wir unter den Trümmern zurückbleiben, wir werden alle sterben“, sagte Lukaschenko nach Angaben der staatlichen belarussischen Nachrichtenagentur Belta bei einer Auszeichnungszeremonie für hochrangige Militärs in Minsk.

Er habe während des Wagner-Aufstandes in Russland die Streitkräfte seines Landes sofort in Kampfbereitschaft versetzt, sagte Lukaschenko. Die Armee sowie auch Polizei und Spezialeinheiten seien innerhalb eines Tages „in volle Gefechtsbereitschaft“ gebracht worden.

Lukaschenko räumte ein, dass alle Beteiligten die Gefahr der Eskalation des Konflikts anfangs falsch eingeschätzt hätten. Die Beteiligten hätten geglaubt, dass sich die Situation so lösen lasse. Daher seien weder er noch Putin oder Prigoschin als „Helden“ zu bezeichnen. Zwei Menschen seien „aufeinandergeprallt“, sagte er mit Blick auf Putin und Prigoschin. „In diesem Fall gibt es keine Helden“, fügte Lukaschenko hinzu und kritisierte damit auch Kreml-Chef Putin.

Unberechenbarer Faktor

In den vergangenen drei Jahren wurde Lukaschenko seinem Ruf als Vasall Moskaus gerecht: So stimmte er einer engeren Anbindung an Russland zu, ließ sein Land als Sprungbrett für die Invasion dienen und bot an, russische Atomsprengköpfe in Belarus zu lagern, während ständig Gerüchte über seinen Gesundheitszustand kursierten.

Und jetzt hat Belarus mit Prigoschin und möglicherweise dessen Gefolgschaft einen weiteren unberechenbaren und fremdbestimmten Faktor auf das eigene Territorium bekommen. Noch dazu sagte Putin am Montag, dass die Aufständischen entweder der russischen Armee beitreten oder „nach Belarus gehen“ könnten.

Rolle des Gewinners hängt ihm jedenfalls an

Doch unabhängig davon, ob Lukaschenko nun tatsächlich Vermittler war oder nicht, in der Darstellung Russlands ist er es jedenfalls. Somit erscheint er auf der russischen Bühne zumindest wieder mehr als eigenständige Führungspersönlichkeit. „Jetzt kann man sagen, dass er einer der Gewinner dieses gescheiterten Staatsstreichs ist, und das wird ihm zumindest in naher Zukunft etwas von seiner Handlungsfähigkeit in seinen Beziehungen zu Russland zurückgeben“, sagte Ryhor Astapenia, Direktor der Belarus-Initiative beim Thinktank Chatham House, dem „Guardian“.

Propaganda ergeht sich in Jubel über Lukaschenko

Nach innen lief Lukaschenkos Propaganda nach dem abgesagten Aufstand jedenfalls wie geschmiert, wie die exilrussische Nachrichtenwebsite Medusa unter Bezug auf eine Auswertung der unabhängigen belarussischen Zeitung „Serkalo“ berichtete.

Der staatliche TV-Sender Belarus 1 feierte Lukaschenko und ließ etwa auch den russischen Propagandisten Wladimir Solowjow über ihn schwärmen. Er sprach von einer „erstklassigen Leistung“ – und weiter: „Wir kennen nicht alle Nuancen, alle Details, aber die Rolle des belarussischen Präsidenten (…) ich denke, darüber werden Bücher geschrieben und Filme gedreht werden“, sagte er.

Solowjow zufolge spielte Lukaschenko eine „herausragende Rolle“, indem er „einen Bürgerkrieg verhinderte“. Der russische Propagandist Armen Gasparjan stieß in dasselbe Horn: „Wir haben nie an Lukaschenko gezweifelt. Wir haben die Qualitäten gesehen, die ihn als Politiker auszeichnen und als Mensch“, sagte er.

Nach den Worten des Nachrichtensprechers Jewgeni Pustowoj des staatlichen Senders STV (Capital TV) „wird Minsk jetzt zum Friedensstifter der slawischen Zivilisation“. „Das Leben von Hunderten, vielleicht Tausenden von Russen wurde gerettet. Die territoriale Integrität und die soziale Harmonie des großen Russlands wurden (bewahrt).“