Luftaufnahme von überfülltem Flüchtlingsboot
Reuters/Hellenic Coast Guard
Bootsunglück

Vorwürfe gegen Küstenwache erhärten sich

Rund um das verheerende Schiffsunglück mit vermutlich Hunderten Toten im Mittelmeer verdichten sich Hinweise, wonach die griechische Küstenwache nicht nur schwere Fehler begangen haben könnte, sondern auch die Aufklärung behindere. Das legen jüngst etwa Recherchen mehrerer Medien, darunter „Spiegel“ und Lighthouse Reports, nahe. Die Enthüllungen sorgten neuerlich für Kritik an der Asyl- und Migrationspolitik der EU.

Die Enthüllungen basieren auf Interviews mit Überlebenden sowie Insidern und Auswertungen von Ermittlungsakten, Videos und Geodaten. Beteiligt waren neben dem deutschen Magazin „Spiegel“ und dem Recherchenetzwerk Lighthouse Reports auch das ARD-Magazin „Monitor“, das Netzwerk Reporters United, die spanische Zeitung „El Pais“ und die syrische Plattform SIRAJ.

Bereits kurz nach dem Kentern des Schiffes am 14. Juni vor der griechischen Küste gab es erste Aussagen, wonach das Unglück durch die Küstenwache – konkret durch ein riskantes Abschleppmanöver – verursacht worden sei. 16 Überlebende bekräftigten das nun in Interviews. Sieben sind dem „Spiegel“ zufolge überzeugt, dass die Küstenwache nur zögerlich versuchte, sie zu retten. Die Behörden dementierten das stets.

Das marode und überladene Fischerboot war in Libyen in Richtung Europa gestartet und in der Nacht auf den 14. Juni vor der Halbinsel Peloponnes an einer der tiefsten Stellen des Mittelmeers gekentert, nachdem zuvor der Motor ausgefallen war. 82 Leichen wurden bisher geborgen. 104 Menschen konnten nach offiziellen Angaben gerettet werden. Nach Angaben von Überlebenden waren Hunderte Menschen an Bord, darunter auch Frauen und Kinder, die im Laderaum untergebracht waren.

Überlebende widersprechen Küstenwache

Zwei Versionen der Ereignisse, die wohl Hunderte Menschen das Leben kosteten, stehen also im Raum. Erstere stammt von Überlebenden, die schildern, dass die Küstenwache das überfüllte Boot – dessen Motor wiederholt ausgefallen war – eine Weile eskortierte, ehe die Beamten ein Tau an dem Boot anbrachten.

„Die Küstenwache habe den Kutter nun bei hohem Tempo gezogen, erst nach rechts, dann nach links, schließlich wieder nach rechts – dann sei er gekentert“, schilderten Überlebende laut „Spiegel“. Viele Menschen sprangen oder fielen ins Wasser.

Die Küstenwache soll die Menschen daraufhin im Wasser weiter gefährdet haben, indem sie mit Manövern hohe Wellen erzeugte, schilderten vier Überlebende. Als das Boot sank, habe sich die Küstenwache dann Hunderte Meter davon entfernt. Mehrere Überlebende kritisierten, dass erst zu spät Schlauchboote zur Rettung ins Wasser gelassen worden seien.

Griechen weisen Vorwürfe zurück

Die Küstenwache widersprach dem. Laut Protokoll vom 14. Juni – aus dem der „Spiegel“ zitiert – meldete das Schiff am Vorabend, dass sich die Geflüchteten „auf stabilem Kurs“ befänden. Die Angaben wurden laut „Spiegel“ durch ein Video und Trackingdaten widerlegt.

Hilfe habe das Boot der Küstenwache zufolge abgelehnt – ferner sei erklärt worden, dass es nicht abgeschleppt, sondern lediglich zwischenzeitlich per Seil stabilisiert worden sei. Unter den Geflüchteten sei womöglich Panik ausgebrochen, wodurch der Kutter Schlagseite bekommen habe, wie ein Sprecher zu CNN sagte.

Vor knapp zwei Wochen hatte bereits die BBC Angaben der Behörden infrage gestellt. Die BBC verwies auf Schiffsbewegungsdaten, die darauf hinwiesen, dass sich das Boot in sieben Stunden praktisch nicht von der Stelle bewegt hatte, ehe es unterging.

Skepsis bei Frontex?

Endgültige Beweise gibt es bisher nicht – doch auch in der EU-Grenzschutzagentur Frontex scheint zuletzt die Skepsis an den griechischen Schilderungen gewachsen zu sein. Das belegen jüngste Angaben der Grenzschutzagentur. Ein Frontex-Flugzeug hatte das überfüllte Boot bereits am 13. Juni gegen Mittag entdeckt, bevor es zum Auftanken umkehren musste.

Die Agentur habe an jenem Tag und Stunden vor dem Sinken des Kutters zweimal angeboten, ebenjenes Flugzeug nochmals zum Boot zu schicken. Eine Reaktion der griechischen Rettungsleitstelle in Piräus blieb laut Frontex aus.

Frontex habe den griechischen Behörden eigenen Angaben zufolge überdies die Entsendung einer Drohne zur Beobachtung der Ägäis angeboten, hieß es weiter. Diese hätten Frontex jedoch angewiesen, die Drohne bei einer anderen Rettungsaktion südlich der Mittelmeer-Insel Kreta einzusetzen.

Berichte: Suspendierung von Frontex-Einsatz vorgeschlagen

Der „Spiegel“ berichtete zudem, dass Frontex ein eigenes Team nach Griechenland geschickt habe, da die bisherigen Untersuchungsergebnisse laut Schilderungen von Insidern der griechischen Version widersprächen.

Im vergangenen Monat war die griechische Regierung international in die Kritik geraten, nachdem auf Videoaufnahmen die gewaltsame Zurückweisung von Flüchtlingen auf dem Meer zu sehen war. Der Frontex-Grundrechtsbeauftragte Jonas Grimheden brachte in einem vertraulichen Bericht, über den zuletzt etwa „Le Monde“ und „New York Times“ berichteten, angesichts der vielen Vorwürfe eine Suspendierung des Frontex-Einsatzes in Griechenland ins Spiel. „Schärfste Maßnahmen“ seien nötig, damit sich die Griechen wieder an geltendes Recht hielten, hieß es etwa.

Griechenlands Regierungschef Kyriakos Mitsotakis weiß nichts von Plänen über einen Abzug von Frontex aus seinem Land. Das sagte er am Freitag bei einer Pressekonferenz nach Abschluss des EU-Gipfels in Brüssel.

Vernehmungsprotokolle werfen Fragen auf

Zum Bootsunglück schreiben ARD und „Spiegel“ von weiteren Ungereimtheiten, etwa, was die Ermittlungsakten betrifft. Einige Überlebende hätten „in einer ersten Vernehmung durch die Küstenwache nichts von einem Tau am Flüchtlingsschiff erzählt; jedenfalls wird in den Protokollen der Küstenwache nichts dazu erwähnt“, schreibt der „Spiegel“. Aber: „Später, im Gespräch mit der Staatsanwaltschaft, machten sie dann die Küstenwache und ihr Abschleppmanöver für das Kentern verantwortlich.“

Weiters fänden sich in den Protokollen beinahe wortgleiche Angaben und Formulierungen mehrerer Überlebender – obwohl die Gespräche offenbar von unterschiedlichen Übersetzern geführt wurden. Die ARD berichtete zudem, dass den Überlebenden die Handys, auf denen sich mutmaßlich Beweismittel wie Videos befinden sollen, abgenommen und diese bisher nicht zurückgegeben worden seien. Andere beschwerten sich, dass ihre Aussagen – etwa zum Abschleppmanöver – nicht in den Vernehmungsprotokollen vorkommen.

Rufe nach Vertragsverletzungsverfahren

Der Jurist Maximilian Pichl von der deutschen Universität Kassel hält die Vorwürfe keinesfalls für abwegig: Griechenland habe schon in der Vergangenheit dafür gesorgt, „dass solche Vorfälle vertuscht werden“, sagte er der ARD. Die EU-Kommission solle aktiv werden, sagte er. Er brachte ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland ins Spiel.

Auch die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, und der ÖVP-EU-Abgeordnete Othmar Karas riefen zu solch einem Verfahren auf. Die EU-Kommission äußerte sich bisher nur zurückhaltend.

Kritik an „Abschreckungspolitik der EU“

„Der Tod der Menschen ist eine direkte Folge der Abschreckungspolitik der EU, die Menschen dazu zwingt, lebensgefährliche Routen zu nehmen“, kritisierte die NGO Ärzte ohne Grenzen in einer Aussendung. „Der fehlende politische Wille, Kapazitäten für die Seenotrettung bereitzustellen, hat zu dem tödlichsten Schiffsunglück im Mittelmeer seit 2015 beigetragen“, sagte Duccio Staderini, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen für Griechenland und den Balkan.

„Es geht hier nicht ‚nur‘ um das Recht auf ein faires Asylverfahren“, kritisierte Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination in einer Reaktion auf die neuen Vorwürfe auf Twitter. „Es geht um Rechtsstaat als solches. Wenn in diesem Fall Regeln egal sind, warum soll man sich in anderen Bereichen dran halten?“

Die jüngsten Berichte erschienen rund um den am Donnerstag und Freitag stattfindenden EU-Gipfel der 27-Staats- und -Regierungschefs und -chefinnen in Brüssel. Auch dabei wurde das Thema Migration erneut kontroversiell diskutiert – allerdings deshalb, weil Polen und Ungarn Kritik an dem jüngsten Beschluss des EU-Innenministertreffens äußerten.

Der Beschluss des EU-Innenministertreffens sieht Vorprüfungen von Asylanträgen von Menschen mit geringen Aufnahmechancen an EU-Außengrenzen und verpflichtende Solidarität bei der Aufnahme von Geflüchteten vor. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, würden zu Ausgleichszahlungen verpflichtet.

Überfülltes Lager auf Lampedusa

Griechenland gilt wie Spanien und Italien als eines der Hauptankunftsländer für Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten, die nach Europa gelangen wollen. Athen, Rom und Co. klagen seit Langem darüber, dass sie mit den Geflüchteten von Europa alleingelassen werden.

Helferinnen und Helfer im Erstaufnahmelager auf der italienischen Insel Lampedusa schlugen indes Alarm. Am Freitag wurden in dem Hotspot mehr als 3.250 Menschen gezählt, wie die Nachrichtenagentur ANSA meldete. Eigentlich ist das Camp im Inneren der Insel nur für 400 Menschen auslegt.