NATO-Flagge
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Nach Ja zu Schweden

NATO sucht gemeinsame Ukraine-Linie

Der Streit über Schwedens Beitritt zur NATO ist kurz vor Beginn des zweitägigen NATO-Gipfels in Litauen beigelegt worden. Das Spitzentreffen scheint das zu beflügeln: NATO-Chef Jens Stoltenberg sieht das Bündnis mit dem Ende der türkischen Blockade des Beitritts Schwedens gestärkt. An die Ukraine will er ein klares Signal senden. Ob das gelingt, ist unklar. Die Verbündeten sind nämlich uneins, was die Beitrittsperspektive der Ukraine betrifft.

Als Zugeständnis an Kiew will die NATO auf den formellen Aktionsplan für die Mitgliedschaft (Membership Action Plan, MAP) verzichten, betonte Stoltenberg kurz vor Beginn des Gipfels am Dienstag. Es handelt sich dabei um ein Programm, mit dem Beitrittsanwärter ihre Aufnahmereife nachweisen, etwa im Militär- und Geheimdienstbereich und bei der Korruptionsbekämpfung. Im Fall Finnlands und Schwedens hatte die NATO ebenfalls darauf verzichtet, um das Verfahren zu beschleunigen.

„Die Ukraine ist weit gekommen, seit wir 2008 die Entscheidung getroffen haben, dass der nächste Schritt ein Mitgliedschaftsaktionsplan sein würde“, sagte er. Die Ukraine stehe der NATO viel näher, so der NATO-Chef. „Daher glaube ich, dass es an der Zeit ist, dies in den NATO-Entscheidungen widerzuspiegeln“, sagte Stoltenberg. Angereichert werde der Gipfelbeschluss mit bilateralen Sicherheitsgarantien für die Ukraine, sagte er.

Ukraine fordert NATO-Beitrittsperspektive

Die Ukraine hofft auf eine NATO-Beitrittsperspektive auf dem Gipfel des Militärbündnisses in Litauen, der am Dienstag beginnt. Jetzt herrsche Krieg, aber man brauche ein klares Signal, so der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft.

Die Gruppe sieben großer Industriestaaten (G-7) plant nach Angaben des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz eine gemeinsame Erklärung zu „Sicherheitszusagen“ für die Ukraine. Diese werde dann konkret von den einzelnen Ländern ausgefüllt, sagte Scholz.

Weißes Haus: NATO will „Reformweg“ für Kiew ausarbeiten

Die NATO will der Ukraine nach Angaben des Weißen Hauses einen „Reformweg“ für einen möglichen Beitritt zum Verteidigungsbündnis aufzeigen. Das sagte der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am Dienstag in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Er könne jedoch keinen Zeitplan nennen.

Sullivan sagte zudem, Biden werde am Mittwoch den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj treffen. Einen sofortigen Beitritt der Ukraine zur NATO schloss Sullivan aus. Das würde die NATO „in einen Krieg mit Russland“ hineinziehen. Auch Scholz plant nach Angaben aus deutschen Regierungskreisen am Mittwoch ein bilaterales Treffen mit Selenskyj.

Es werde keine Einladung für Kiew geben, sagte der litauische NATO-Botschafter Deividas Matulionis. „Aber es wird ein viel klareres Verfahren eingeführt, wie diese Einladung zustande kommen könnte, wenn die Bedingungen stimmen.“ Die Endfassung der Gipfelerklärung werde noch verhandelt, sagte er.

Selenskyj mit mahnenden Worten

Von der Ukraine kam scharfe Kritik: „Es ist beispiellos und absurd, wenn es keinen Zeitplan gibt, weder für die Einladung noch für die Mitgliedschaft der Ukraine“, sagte Selenskyj via Telegram. „Und zugleich gibt es vage Formulierungen über Bedingungen, sogar für eine Einladung der Ukraine“, schrieb er auf Englisch weiter. Ein Zögern der NATO würde Russland nur dazu motivieren, „den Terror fortzusetzen“. Gleichwohl werde er zu dem NATO-Gipfel reisen, bestätigte Selenskyj.

Frankreich will Marschflugkörper liefern

Für die von Selenskyj geforderte Beitrittseinladung an die Ukraine gibt es bisher keinen Konsens im Militärbündnis. Die USA und Deutschland halten das für verfrüht, solange der Krieg anhält. Am Rande des Treffens wurde indes aus Regierungskreisen bekannt, dass Deutschland der Ukraine weitere Waffen und Munition im Wert von knapp 700 Millionen Euro liefern werde.

Frankreich will der Ukraine Marschflugkörper vom Typ SCALP-EG liefern. Das teilte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit – Details nannte er nicht. Im Mai bestätigte Großbritannien als erstes Land die Lieferung von Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow. Die luftgestützten Raketen, die von Großbritannien und Frankreich gemeinsam entwickelt wurden und in Frankreich SCALP-EG heißen, haben eine Reichweite von bis zu 560 Kilometern. Außerdem soll als Zeichen der Annäherung ein neuer NATO-Ukraine-Rat ins Leben gerufen werden, der mit Selenskyj zum ersten Mal tagen soll.

Russische Diplomaten drohen

Die Politik der NATO gegenüber Russland erhöhe das Risiko eines direkten Konfliktes, sagte der russische Botschafter in Belgien, Alexander Tokowinin.

Der in Wien ansässige russische Diplomat Konstantin Gawrilow sprach im Falle einer Eskalation des Krieges von katastrophalen Folgen für Europa. Die USA trieben eine solche Eskalation voran, sagte er. Warnungen sprach Russland auch im Zusammenhang mit den angekündigten Raketenlieferungen durch Frankreich aus. Das sei ein Fehler und werde Konsequenzen haben, sagte Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow.

Stoltenberg spricht von „historischem“ Gipfel

Stoltenberg sah das Bündnis am Dienstag mit dem Ende der türkischen Blockade gegen den Beitritt Schwedens insgesamt gestärkt. Die mit Präsident Recep Tayyip Erdogan am Vorabend getroffene Übereinkunft stärke die Verteidigung des Bündnisses deutlich und sei auch im Interesse der Türkei selbst, sagte Stoltenberg.

Er sei „absolut überzeugt“, dass die Türkei das Beitrittsprotokoll für Schweden nun ratifizieren werde und das Hauptproblem gelöst sei, sagte er. „Dieser Gipfel ist bereits historisch, bevor er begonnen hat“, sagte Stoltenberg. Erdogan hatte am Vorabend seine Blockade eines Beitritts Schwedens aufgegeben und will nach Angaben der NATO dem türkischen Parlament das Beitrittsprotokoll zur Entscheidung vorlegen.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Türkischer Präsident Tayyip Erdogan, Schwedens Premierminister Ulf Kristersson und türkischer Verteidigungsminister Yasar Guler
Reuters/Yves Herman
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Schwedens Premierminister Ulf Kristersson und der türkische Verteidigungsminister Yasar Guler (v. l. n. r.)

Schwedens Regierungschef „sehr glücklich“

Das NATO-Land Ungarn hatte den schwedischen Beitrittsakt wegen der ausstehenden türkischen Entscheidung ebenfalls nicht ratifiziert, will das aber nun nachholen. „Der Abschluss des Ratifizierungsprozesses ist eine rein technische Frage“, schrieb der ungarische Außenminister Peter Szijjarto auf Facebook. Der schwedische Regierungschef Ulf Kristersson zeigte sich „sehr glücklich“.

Schweden schloss im Gegenzug mit der Türkei einen „Sicherheitspakt“ und sagte regelmäßige Treffen und einen „anhaltenden Kampf gegen den Terrorismus“ zu. Zudem werde Schweden die Bemühungen zur Wiederbelebung der EU-Beitrittsgespräche „aktiv unterstützen“, einschließlich einer Modernisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei und Visaregeln, hieß es in der Erklärung weiter.

Biden will Transfer von Kampfjets in Türkei vorantreiben

Vor seinem Abflug zum Krisengespräch hatte Erdogan überraschend eine Belebung der Beitrittsgespräche mit der EU zur Bedingung für ein Ende des Vetos gemacht, woraufhin auch EU-Ratspräsident Charles Michel an den Beratungen in Vilnius teilnahm. Erdogans monatelanges Zögern in der Frage werteten einige NATO-Partner als Druckmittel auf die USA, der Türkei die seit Langem gewünschten F-16-Kampfflugzeuge zu liefern.

In der Frage gibt es jetzt Bewegung: Biden wird in Absprache mit dem Kongress in Washington den Transfer von F-16 in die Türkei vorantreiben. Biden habe „klar zum Ausdruck gebracht, dass er den Transfer unterstützt“, sagte Sullivan. „Er hat diesbezüglich keine Vorbehalte gemacht. … Er beabsichtigt, diesen Transfer voranzutreiben.“

Insbesondere auf den Wunsch der USA hin soll es zudem Gespräche über den weiteren Umgang mit China gehen. In Washington wird die Politik Pekings zunehmend auch als Sicherheitsgefahr gesehen. An dem Treffen in Vilnius werden neben den Staats- und Regierungschefs der 31 NATO-Staaten auch zahlreiche Gäste wie der ukrainische Präsident Selenskyj erwartet.