Flüchtlingsboot
Reuters/Helenic Coast Guard
Griechenland

Küstenwache im Sog der Vorwürfe

Die genauen Umstände, die vor einem Monat vor der griechischen Küste zu einem Schiffsunglück mit mutmaßlich mehreren hundert toten geflüchteten Menschen geführt haben, liegen immer noch im Dunklen. Doch die Zweifel an der Version der griechischen Küstenwache wachsen – und die BBC berichtet nun von neuen Vorwürfen: Überlebende seien eingeschüchtert und dazu angehalten worden, andere verantwortlich zu machen.

Das marode und überladene Fischerboot war in Libyen in Richtung Europa gestartet und in der Nacht auf den 14. Juni vor der Halbinsel Peloponnes an einer der tiefsten Stellen des Mittelmeers gekentert, nachdem zuvor der Motor ausgefallen war. 82 Leichen wurden bisher geborgen. 104 Menschen konnten nach offiziellen Angaben gerettet werden. Nach Angaben von Überlebenden waren Hunderte Menschen an Bord, darunter auch Frauen und Kinder, die im Laderaum untergebracht waren.

Bereits kurz nach dem Kentern des Schiffes gab es erste Aussagen, laut denen das Unglück durch die Küstenwache – konkret durch ein riskantes Abschleppmanöver – verursacht worden sei. Das wurde von mehreren Überlebenden bekräftigt, vor wenigen Tagen untermauerten neue Untersuchungen des britischen „Guardian“ mit der ARD und Investigativjournalistinnen und -journalisten der griechischen Plattform Solomon diese Version. Die Anbringung eines Seils dürfte zum Kentern des Bootes geführt haben.

Boot der Küstenwache
AP/Thanassis Stavrakis
Die griechische Küstenwache steht schon länger unter Verdacht, Menschenrechten geringen Stellenwert einzuräumen

Fataler Seileinsatz

Die griechische Küstenwache hatte zunächst geleugnet, ein Seil benutzt zu haben, räumte später aber ein, dass sie es doch tat. Das sollte allerdings nur dazu dienen, das Schiff zu stabilisieren und die Situation zu beurteilen, und sei mindestens zwei Stunden vor dem Kentern des Trawlers erfolgt.

Gegenüber der BBC berichteten nun zwei Überlebende: „Sie befestigten ein Seil von links. Alle gingen auf die rechte Seite unseres Bootes, um es auszubalancieren. Das griechische Schiff entfernte sich schnell und brachte unser Boot zum Kippen. Sie zogen es noch eine ganze Weile mit sich.“ Die Männer sagten, sie hätten dann zwei Stunden im Wasser verbracht, ehe sie von der Küstenwache aufgegriffen worden sein. Einer der beiden sagte, seine Uhr habe noch funktioniert, daher könne er das mit Sicherheit sagen.

„Ihr habt überlebt! Stellt keine Fragen mehr!“

An Land, in Kalamata, habe die Küstenwache den Überlebenden gesagt, sie sollten den Mund halten, als sie den griechischen Behörden vorwarfen, die Katastrophe verursacht zu haben. Den Geretteten sei gesagt worden, sie sollten dankbar sein, dass sie nicht gestorben seien. „Ihr habt überlebt! Hört auf, über den Vorfall zu sprechen! Stellt keine Fragen mehr dazu!“

Kurz nach dem Untergang wurden neun ägyptische Männer zwischen 20 und 40 Jahren festgenommen, die zu den Überlebenden gehörten. Sie wurden als Drahtzieher einer Schlepperbande ermittelt und wegen Totschlags und Menschenschmuggels angeklagt. Nach Angaben der griechischen Behörden seien sie von Mitreisenden identifiziert worden – man rühmte sich für die effiziente Ermittlungsarbeit.

Einige Überlebende behaupteten, dass die Verdächtigen die Menschen an Bord misshandelt hätten, andere Zeugenaussagen besagten, dass sie eigentlich nur helfen wollten. Gegenüber der BBC gaben die beiden interviewten Männer jedenfalls zu Protokoll, dass die Küstenwache alle Überlebenden angewiesen hätte, die neun Ägypter für den Menschenhandel verantwortlich zu machen. „Sie wurden inhaftiert und von den griechischen Behörden zu Unrecht beschuldigt, um ihr eigenes Verbrechen zu vertuschen.“

Vergleichbare Fälle

Ein Dolmetscher und eine Anwältin aus Kalamata berichteten der BBC von ähnlich gelagerten Fällen. Der Dolmetscher sagte, er habe miterlebt, wie die griechische Küstenwache im vergangenen Jahr zwei unschuldige iranische Männer des Menschenschmuggels bezichtigt habe, nachdem sie 32 Geflüchtete gerettet hatte. Der Fall wurde schließlich fallen gelassen. „Es endete damit, dass ich dachte, ich will das nicht noch einmal machen, weil sie nicht versucht haben, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Sie haben versucht, ein paar Leute herauszupicken und sie zu beschuldigen, Menschenschmuggler zu sein.“

Die Anwältin Chrysanthi Kaouni sagte, sie sei in mehrere Strafverfahren gegen mutmaßliche Menschenschmuggler involviert gewesen und sie glaube nicht, dass in diesen der „Gerechtigkeit Genüge getan wird“. „Meine Bedenken betreffen die Übersetzungen, die Art und Weise, wie Beweise gesammelt werden, und schließlich die Möglichkeit der Angeklagten, diese Beweise anzufechten.“

Eine neue Studie hat laut BBC ergeben, dass der durchschnittliche Prozess in Griechenland für Migranten, die des Menschenschmuggels beschuldigt werden, nur 37 Minuten dauerte und die durchschnittliche Haftstrafe 46 Jahre betrug. Die Urteile würden oft nur auf Grundlage der Aussage einer einzigen Person aus dem Team der Polizei oder der Küstenwache gefällt.

EU-Parlament will effektivere Seenotrettung

Das EU-Parlament reagierte am Donnerstag mit einer Resolution auf das Unglück Mitte Juni. Darin fordern die Abgeordneten aktivere und koordiniertere „Such- und Rettungseinsätze“ (SAR) der EU und der Mitgliedsstaaten, bei denen die Grenzschutzagentur Frontex eine Schlüsselrolle spielen sollte. Ausreichend Kapazitäten in Form von Schiffen, Ausrüstung und Personal müssten bereitgestellt werden.

Zudem wird die Kommission aufgefordert, umfassende Informationen über alle Arten der Unterstützung zu liefern, die die EU und ihre Mitgliedsstaaten der Grenz- und Küstenwache in Drittländern, einschließlich Libyen, der Türkei, Ägypten, Tunesien und Marokko, gewähren. Vorwürfe von schweren Grundrechtsverletzungen durch die libysche Küstenwache seien zu überprüfen und gegebenenfalls die Zusammenarbeit zu beenden.