Ein Mähdrescher in der Ukraine
Reuters
Vor Ablauf

Moskau stoppt vorerst Getreideabkommen

Moskau hat das in der Nacht auf Dienstag ablaufende Getreideabkommen gestoppt. Sobald alle Forderungen für den Export seines eigenen Getreides erfüllt seien, kehre Russland zur Erfüllung der Vereinbarung zurück, hieß es. In der Nacht gab es einen Angriff auf die Kertsch-Brücke auf die von Russland annektierte Krim mit zwei Toten, für die Russland die Ukraine verantwortlich macht.

Das Abkommen werde nach seinem Auslaufen in der Nacht (23.00 Uhr MESZ) nicht verlängert, teilte die Sprecherin des Außenministeriums in Moskau laut der Agentur RIA mit. Sie begründete den Schritt damit, dass die Forderungen Russlands nach einer Lockerung der westlichen Wirtschaftssanktionen wegen des Ukraine-Krieges nicht erfüllt worden seien. Davor hatte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gesagt, das Abkommen sei „de facto“ beendet.

Die Sprecherin sagte, die Entscheidung habe nichts mit dem Angriff auf die Krim-Brücke zu tun. In der Nacht auf Montag wurde die Kertsch-Brücke wegen eines „Notfalls“ gesperrt. Die Brücke sei von Überwasserdrohnen attackiert worden, teilte das russische Anti-Terror-Komitee am Vormittag mit.

Auch Peskow dementierte, dass die Attacke auf die Krim-Brücke der Grund für die Entscheidung gewesen sei. „Das sind zwei nicht miteinander verbundene Ereignisse. Sie wissen, dass noch vor dem Terroranschlag die Position von Präsident (Wladimir, Anm.) Putin geäußert wurde“, sagte er am Montag. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums teilte mit, dass die Türkei und die Ukraine bereits über die Entscheidung informiert worden seien.

Zwei Menschen getötet

Ein Mann und eine Frau seien in der Nacht auf der Krim-Brücke getötet, ihre Tochter verletzt worden, so die russischen Behörden. Russland schrieb den „Terrorakt“ der Ukraine zu und machte ukrainische Geheimdienste dafür verantwortlich. Bilder zeigen mindestens einen beschädigten Brückenteil, der Autoverkehr auf der Brücke wurde gesperrt. Wegen der Ferienzeit ist auf der Halbinsel Krim derzeit Hochbetrieb.

Auch ukrainische Medien meldeten, dass der Angriff von der Ukraine ausgegangen sei. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU und die Marine hätten in der Nacht auf Montag die Attacke mit unbemannten Wasserfahrzeugen durchgeführt. Die ukrainische Regierung wollte sich nicht zu den Berichten äußern, auch der SBU und die Marine nicht. Der Geheimdienst selber teilte mit: „Erneut hat sich die Brücke ‚schlafen‘ gelegt. Und eins … zwei!“

Krim-Brücke nach Explosion geschlossen

Auf der Kertsch-Brücke auf die von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim ist es offenbar zu einer Explosion gekommen. Die Brücke wurde laut russischen Behörden wegen eines „Notfalls“ geschlossen. Es seien zwei Menschen getötet und ein Kind verletzt worden, so Russland.

Abkommen unter Vermittlung der Türkei beschlossen

Das Getreideabkommen war nach monatelanger Blockade der ukrainischen Getreideausfuhren im Juli des Vorjahres unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei geschlossen worden. Die Ukraine – vor dem Krieg einer der weltweit wichtigsten Getreideexporteure – konnte damit in den vergangenen zwölf Monaten 33 Millionen Tonnen verschiffen.

Die UNO und allen voran der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bemühten sich in den vergangenen Wochen intensiv darum, Putin von einer Verlängerung zu überzeugen. Viele ärmere Länder sind von den Lieferungen der Ukraine abhängig. Putin sah zuletzt auch dieses Hauptziel des Abkommens, diese Länder zu versorgen, nicht erreicht. Am Sonntag lief das offenbar vorerst letzte Schiff mit Getreide aus dem Hafen von Odessa am Schwarzen Meer aus.

Kiew will Korridor weiter nutzen

Die Ukraine und Russland sind wichtige Lieferanten von Weizen, Gerste, Sonnenblumenöl und anderen Nahrungsmitteln für Länder in Afrika, im Nahen Osten und in Teilen Asiens. Vor Kriegsbeginn im Februar 2022 lieferten sie fast ein Viertel der Getreideexporte weltweit. Russland war außerdem der weltweit größte Exporteur von Düngemitteln.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, die Ukraine könne ihre Getreideexporte über das Schwarze Meer trotz allem fortführen. „Auch ohne Russland muss alles getan werden, damit wir diesen Schwarzmeer-Korridor nutzen können. Wir haben keine Angst“, so Selenskyj am Montag in von seinem Sprecher im Internet verbreiteten Äußerungen. „Wir wurden von Unternehmen angesprochen, die Schiffe besitzen“, sagte Selenskyj. Diese hätten sich bereit gezeigt, die Lieferungen fortzusetzen.

Österreich verurteilt Russlands Entscheidung

Erdogan hingegen geht weiterhin von einer Verlängerung des Abkommens aus. „Ich glaube, dass der russische Präsident Putin trotz der heutigen Mitteilung für eine Fortsetzung dieser humanitären Brücke ist“, sagte Erdogan am Montag vor Journalisten. Er kündigte Gespräche mit Putin an. Eine Verlängerung des Abkommens könne noch vor dem für August geplanten Besuch des russischen Präsidenten in der Türkei möglich sein, sagte Erdogan weiter. Verhandlungen diesbezüglich seien bereits im Gange.

Österreich verurteilte die Entscheidung Russlands. Das bedeute, dass Millionen von Tonnen von lebenswichtigem Getreide und Nahrungsmittel für Entwicklungsländer blockiert werden. Russland missbrauche damit „zynisch“ Nahrung als Waffe, hieß es in einer Mitteilung des Außenministeriums vom Montag. Das Ministerium forderte Russland „dringend auf, diese Entscheidung zu überdenken und einer weiteren Fortsetzung des Getreideabkommens zuzustimmen“.

Weiters plädierte das Ministerium für eine langfristige Lösung für die Implementierung des Getreideabkommens. „Wir unterstützen die Bemühungen seitens der Vereinten Nationen und der Türkei voll und ganz.“ Deutschland appellierte ebenfalls an Russland, eine Verlängerung des Abkommens möglich zu machen. Darüber hinaus warb die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann dafür, derartige Vereinbarungen künftig nicht mehr auf einen kurzen Zeitraum zu beschränken, sondern der Ukraine einen langfristigen Getreideexport zu ermöglichen.

Russland sieht Forderungen nicht erfüllt

In den vergangenen Tagen hatte es immer wieder Berichte über eine Verlängerung gegeben, die vom Kreml unkommentiert blieben. Putin hatte am Wochenende allerdings erneut Bedingungen für eine Verlängerung gestellt. Die vereinbarten Rahmenbedingungen seien immer noch nicht erfüllt, „nicht eine“.

Das russische Außenministerium erhob am Montag in diesem Zusammenhang schwere Anschuldigungen gegen die Ukraine, den Westen und die Vereinten Nationen. „Entgegen den Erklärungen zu den humanitären Zielen wurde die Ausfuhr ukrainischer Lebensmittel praktisch sofort auf rein kommerzielle Basis gestellt und richtete sich bis zuletzt auf die Erfüllung selbstsüchtiger Interessen Kiews und des Westens“, hieß es in der Presseerklärung des Ministeriums. Zudem sei der für die Getreideexporte eingerichtete Korridor auf See mehrfach für den Beschuss russischer ziviler und militärischer Ziele missbraucht worden. Die UNO wiederum habe alle Verstöße gegen das Abkommen von Kiewer Seite schweigend ignoriert, so die Vorwürfe aus Moskau.

Forderungen Moskaus

Russland fordert etwa, Strafmaßnahmen gegen die staatliche russische Landwirtschaftsbank zu lockern, um den Export eigenen Getreides und Düngers in gewünschtem Umfang abzuwickeln. Deswegen fordert Moskau die Wiederaufnahme der Landwirtschaftsbank in das internationale SWIFT-Zahlungssystem.

Zudem sollen Ersatzteillieferungen nach Russland wieder gestattet werden. Schließlich pocht Russland darauf, dass eine Pipeline für den Transport von Ammoniak wieder in Betrieb genommen und der Dünger über den ukrainischen Hafen Odessa exportiert wird. Probleme gebe es auch bei der Versicherung der Frachten. Russland hatte zuletzt erklärt, dass der Westen für eine Lösung ein Jahr Zeit gehabt habe.

Folgen vor allem für ärmere Länder

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres zeigte sich zutiefst enttäuscht über den russischen Ausstieg. Das Abkommen sei eine „Rettungsleine für die globale Ernährungssicherheit und ein Leuchtturm der Hoffnung in einer aufgewühlten Welt“ gewesen, sagte Guterres am Montag in New York. „Man hat die Wahl, an solchen Abkommen teilzunehmen. Aber leidende Menschen überall und Entwicklungsländer haben keine Wahl. Hunderte Millionen Menschen sind vom Hunger bedroht und Konsumenten von einer globalen Krise der Lebenshaltungskosten.“

Guterres hatte Putin in der vergangenen Woche noch einen Brief mit Vorschlägen geschrieben, um das Abkommen zu retten. „Ich bin zutiefst enttäuscht, dass meine Vorschläge unbeachtet blieben“, sagte er.

US-Außenminister Antony Blinken warnte, wenn Moskau nicht in eine Verlängerung des Getreideabkommens einwillige, dann würden die Entwicklungsländer in Form „höherer Lebensmittelpreise wie auch größerer Nahrungsmittelknappheit“ darunter zu leiden haben.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach davon, dass Hunger als Waffe eingesetzt werden sollte. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einem „zynischen Schritt“.