Ukrainisches Militär bei Bachmut
AP/Roman Chop
Militärexperte zur Ukraine

Gegenoffensive bisher „kein Misserfolg“

Die ukrainische Offensive zur Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete läuft seit Juni und ist, so der Militärexperte Franz-Stefan Gady im ZIB2-Interview, „kein Misserfolg – bis dato“. Die Offensive gehe allerdings langsamer voran, als die ukrainischen Streitkräfte und einige Beobachter erwartet hätten. Viele hätten aber erwartet, dass es ein „harter, blutiger und langsamer Kampf wird – und da befinden wir uns jetzt.“

Derzeit finde ein Abnützungskrieg in der Ukraine statt, so Gady. „Ein Abnützungskrieg wird dadurch gewonnen, dass man dem Gegner disproportional mehr Verluste an Menschen und Material zufügt, als die eigene Seite erleidet.“ Gebietsgewinne seien natürlich wichtig, aber nicht ausschlaggebend, erklärte der Experte.

Die Ukraine versuche, mit der Taktik des „Kampfes der verbundenen Waffen“ gegen Russland vorzugehen. Das sei „die Königsdisziplin im militärischen Gewerbe“ und stehe für die „effektive Integration und Synchronisierung von militärischen Operationen“ und werde aktuell von keinem Land der Welt abgesehen von den USA beherrscht. Die Ukraine versuche also zu erreichen, was keine einzige europäische Armee zu erreichen in der Lage wäre.

Militärexperte Gady zu Gegenoffensive der Ukraine

Die Ukraine braucht nach eigenen Angaben zur Rückeroberung russisch besetzter Gebiete Hunderte zusätzliche Panzerfahrzeuge und F-16-Kampfjets. Zur militärischen Lage in der Ukraine war Franz-Stefan Gady (Militärexperte, London) in der ZIB2.

Ukraine nun in schwierigerer Angriffsposition

Anders als zu Beginn des Krieges, als die ukrainische Armee die russischen Angriffe überraschend stark abwehren konnte, sei sie nun bei der Gegenoffensive in der Position des Angreifers und dadurch in der schwierigeren Lage. Zu Beginn des Krieges seien die russischen Streitkräfte auch gar nicht auf den starken Widerstand vorbereitet gewesen – man habe gedacht, es sei „ein Staatsstreich, eine politische Aktion“, analysierte Gady.

Dass die USA vor zwei Wochen beschlossen haben, der Ukraine sehr umstrittene Streumunition zu liefern, erfolgte laut Gady, da die ukrainischen Munitionsvorräte früher oder später zur Neige gehen würden. Mit Streumunition könne man breitflächigere Ziele bekämpfen und so die Offensive in die Länge und wahrscheinlich in den Herbst ziehen.

Von der moralischen Perspektive werde es der Ukraine obliegen zu entscheiden, ob sie diese Munition im eigenen Gebiet einsetzen werde oder nicht – „und dann ist natürlich die Frage: Rettet der Einsatz von diesen Waffen das Leben von ukrainischen Soldaten oder nicht?“ Aus einer rein militärischen Bewertung könne er sich nicht vorstellen, dass der Ukraine-Krieg im Herbst vorbei sein werde. „Diese Offensive wird sicher noch einige Wochen oder Monate dauern.“

MI6-Chef glaubt an Erfolg der Offensive

Dass die Rückeroberungsoffensive der Ukraine erfolgreicher verläuft als zuletzt gedacht, äußerte am Mittwoch auch der Chef des britischen Geheimdienstes MI6. „Im letzten Monat hat die Ukraine mehr Gebiet zurückerobert, als Russland im vergangenen Jahr besetzt hat.“ Dennoch sei es unerlässlich so der MI6 Chef, weitere Waffen zu liefern.

Aufnahme einer ukrainischen Drone bei Bachmut
Reuters/Ukrainische Streitkräfte
Die Rückeroberung der russischen Gebiete verläuft langsam – die Ukraine bittet EU und USA um neue Waffenlieferungen

US-Militär: „Weit davon entfernt, gescheitert zu sein“

Auch das US-Militär tritt der Vorstellung entgegen, die Gegenoffensive der Ukraine sei gescheitert. „Die Ukrainer rücken stetig und zielstrebig vor“, sagte Generalstabschef Mark Milley am Dienstag im US-Verteidigungsministerium nach einem Onlinetreffen der internationalen Ukraine-Kontaktgruppe zur Koordinierung der Militärhilfe. „Das ist alles andere als ein Misserfolg“, ergänzte er nach einer entsprechenden Frage. Es sei viel zu früh, um zu solch einem Schluss zu kommen. „Ich denke, es gibt noch viel zu kämpfen, und ich bleibe bei dem, was wir zuvor gesagt haben: Es wird lang, es wird hart, es wird blutig.“

Als Grund für das langsame Vorrücken nannte Milley vermintes Gebiet. Die ukrainischen Streitkräfte arbeiteten sich „langsam“ und „bedächtig“ durch die Minenfelder, die derzeit eine besonders große Gefahr darstellten. „Die Verluste, die die Ukrainer bei dieser Offensive erleiden, gehen nicht so sehr auf die Stärke der russischen Luftwaffe zurück, sondern auf Minenfelder“, sagte er.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin versicherte, dass die Verbündeten des von Russland angegriffenen Landes nicht nachlassen würden bei ihrer Unterstützung für die Ukraine. „Unsere Arbeit geht weiter, und wir werden alles tun, was wir können, um sicherzustellen, dass die Ukrainer erfolgreich sein können.“

Ukraine räumt Schwierigkeiten ein

Erst am Mittwoch hatte der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak in einem Interview Schwierigkeiten bei der im vergangenen Monat gestarteten Gegenoffensive eingeräumt. Diese lägen zum Teil an dem stark verminten Territorium. Auch gebe es logistische Probleme, unter anderem bei der Lieferung von Waffen. Zweifelsohne werde die Offensive daher „ziemlich schwierig und langwierig sein und viel Zeit in Anspruch nehmen“, sagte Podoljak.

Die Ukraine brauche für ihre Gegenoffensive zur Rückeroberung russisch besetzter Gebiete Hunderte zusätzliche Panzerfahrzeuge und bis zu 80 F-16-Kampfjets. Sein Land brauche „insbesondere 200 bis 300 gepanzerte Fahrzeuge“ sowie „60 bis 80 F-16-Kampfjets, um den Luftraum gut abzuriegeln“, so Podoljak.