Tausende Demonstranten marschieren mit Flaggen nach Jerusalem
APA/AFP/Menahem Kahana
Justizumbau

Massendemos von Tel Aviv bis Jerusalem

In Israel hat das Parlament mit seinen Beratungen über ein Kernelement der umstrittenen Regierungspläne zum Umbau der Justiz begonnen. Im Vorfeld protestierten landesweit mehrere hunderttausend Menschen gegen das Gesetzesvorhaben. Im Zentrum der Küstenstadt Tel Aviv versammelten sich am Samstagabend nach Schätzungen des Senders „Channel 13“ rund 170.000 Menschen, in Jerusalem 85.000.

Vereinzelt kam es laut Medienberichten zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei. Organisatoren der Proteste gaben die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer landesweit mit mehr als einer halben Million an. Es wäre damit einer der größten Protesttage seit Beginn der regelmäßigen Demonstrationen Anfang Jänner. Insgesamt hat Israel rund zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.

In Jerusalem wollten die Demonstrierenden die Nacht auf Sonntag vor dem Parlament verbringen. Auf Protestschildern in Tel Aviv war etwa zu lesen „Netanjahu, der Feind der Demokratie“ oder „Rettet unsere Heimat“. Am Sonntagvormittag will Israels rechtsreligiöse Regierung ein Kernelement ihrer Pläne zur Schwächung der Justiz den Abgeordneten vorlegen. Mit der endgültigen Verabschiedung des umstrittenen Gesetzes wird jedoch nicht vor Montagnachmittag gerechnet.

Herzschrittmacher für Netanjahu

In der Nacht auf Sonntag erhielt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kurzfristig in einer Operation einen Herzschrittmacher. Der Eingriff sei reibungslos und ohne Komplikationen verlaufen, teilte das in der Nähe von Tel Aviv gelegene Krankenhaus Sheba Medical Center am Sonntag mit. Der 73-jährige Regierungschef sei in keinem lebensbedrohlichen Zustand, fühle sich gut und kehre nun zu seiner täglichen Routine zurück.

Netanjahu wurde demnach am Samstagabend in das Krankenhaus beordert, nachdem eine Herzrhythmusstörung festgestellt worden war. Er war vor einer Woche an einen Herzmonitor angeschlossen worden, nachdem er wegen Dehydrierung in einer Klinik behandelt wurde, die er bei einem Urlaub am See Genezareth während einer Hitzewelle erlitten hatte. Netanjahu sollte nach Angaben seines Büros voraussichtlich noch im Laufe des Sonntags aus der Klinik entlassen werden. Die wöchentliche Kabinettssitzung wurde allerdings verschoben.

Tausende Demonstranten marschieren mit Flaggen in Jerusalem
Reuters/Ilan Rosenberg
Zehntausende Demonstrierende marschierten mit Flaggen in Jerusalem

Seit mehr als einem halben Jahr spaltet das Justizvorhaben weite Teile der israelischen Gesellschaft. Regelmäßig gehen Tausende dagegen auf die Straße. Zuletzt nahm auch der Widerstand innerhalb des Militärs zu. Verhandlungen über einen Kompromiss blieben bisher erfolglos. Medienberichten zufolge sollen im Hintergrund aber weiter Bemühungen laufen. Das Gesetz ist Teil eines größeren Pakets, das von Kritikern und Kritikerinnen als Gefahr für Israels Demokratie eingestuft wird.

Kritiker warnen vor mehr Korruption

Dem höchsten Gericht des Landes soll es so künftig nicht mehr möglich sein, eine Entscheidung der Regierung oder einzelner Minister als „unangemessen“ zu bewerten. Kritiker befürchten, dass das Korruption und damit auch die willkürliche Besetzung wichtiger Posten und Entlassungen begünstigt. Die Regierung von Netanjahu wirft der Justiz dagegen vor, sich zu sehr in politische Entscheidungen einzumischen.

Widerstand in Armee wächst

Kurz vor einer entscheidenden Abstimmung im Parlament hat sich der Druck auf Israels Regierung auch aus den Reihen des Militärs weiter erhöht. Mehr als 10.000 Reservisten würden nicht mehr zum Dienst erscheinen, sollte der umstrittene Justizumbau der Regierung nicht gestoppt werden, kündigte ihre Protestbewegung „Waffenbrüder“ am Samstagabend laut Medienberichten in Herzliya an. Den Berichten zufolge könnte das die Einsatzbereitschaft des Militärs erheblich beeinträchtigen. Das Militär wollte sich dazu zunächst nicht äußern.

Am Freitag hatten bereits mehr als tausend Reservisten der Luftwaffe mit Dienstverweigerung gedroht. Daraufhin gab Verteidigungsminister Xoav Galant bekannt, sich um einen „Konsens“ zu bemühen. Medienberichten zufolge soll er versuchen, eine für Montag geplante Abstimmung über ein Kernelement der umstrittenen Pläne seiner Regierung zu verschieben.

Mehr als 100 hochrangige Ex-Sicherheitschefs des Landes drückten am Samstag in einem Brief an Ministerpräsident Netanjahu ihre Unterstützung für die möglichen Dienstverweigerer aus und forderten ihn auf, die Gesetzgebung zu stoppen. Netanjahu sei „persönlich für den schweren Schaden verantwortlich, der dem Militär und der Sicherheit Israels“ zugefügt werde, hieß es in dem Brief.

Politisches Überleben und Grundsatzfragen

Netanjahu hat wegen mehrerer Anklagen – unter anderem wegen Korruption – starkes Eigeninteresse, die Justiz zu schwächen. Dazu kommen seine rechten bis rechtsradikalen Koalitionspartner, die sich seit Jahren die Schwächung der Justiz auf die Fahnen geheftet haben und ohne die Netanjahu sich nicht an der Macht halten kann. Die Basis zu allen gemäßigten und Mitte-links-Parteien hat Netanjahu in früheren Koalitionen zerstört. Keine von ihnen ist bereit, mit Netanjahu nochmals eine Koalition zu bilden.

Im Hintergrund geht es – nicht zuletzt aufgrund eines demografischen Wandels (steigender Anteil von Religiösen und Palästinensern, Anm.) – um grundsätzliche Fragen für das Land: Wie säkular bzw. wie religiös soll das öffentliche Leben sein? Wie viele Rechte sollen Minderheiten, etwa die rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung umfassenden israelischen Palästinenserinnen und Palästinenser, haben? Und, anhand des Konflikts um jüdische Siedlungen in besetzten Gebieten: Wie soll das Zusammenleben mit den Palästinensern und eine dauerhafte Lösung des Konflikts aussehen?

Argumente der „Sarbanim“

Die „Sarbanim“ in der Armee („Verweigerer“ – allerdings verweigern sie nur Übungen, nicht den Einsatz im Ernstfall, Anm.) führen neben der Sorge um die Demokratie auch ganz direkte Bedenken an: Juristischen Einschätzungen zufolge könnte die Schwächung der Justiz dazu führen, dass diese international nicht mehr als unabhängig anerkannt wird. Das würde den Weg für Verhaftungen Armeeangehöriger im Ausland und Anklage wegen möglicher Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof eröffnen. Damit könnten diese nicht mehr sicher ins Ausland reisen.

Mehrere Minister aus der Regierung verurteilten die Drohung der Reservisten und betonten, sich nicht darauf einzulassen. Der rechtsgerichtete Finanzminister Besalel Smotrich schrieb auf Facebook: „Ein Land, das sich den Drohungen der Generäle unterwirft, wird tatsächlich zu einem Land, das von einer Militärjunta regiert wird.“ Kein einziger im aktiven Dienst stehender General nimmt an den Protesten teil, allerdings mehrere Ex-Generäle.

Justiz soll stark geschwächt werden

Netanjahu hatte Galant im März entlassen, nachdem dieser öffentlich zu einem Stopp der Pläne aufgerufen und davor gewarnt hatte, dass die nationale Sicherheit schweren Schaden nehmen könnte. Auf seine Entlassung folgten heftige Proteste und ein Generalstreik. Der Regierungschef setzte damals die Pläne aus, Galants Entlassung wurde später rückgängig gemacht.