Schäden nach einem Drohneneinschlag in Moskau
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Nadelstiche

Drohnen auf Moskau als „politische Kampagne“

Zum wiederholten Mal wurde ein Gebäude in Moskau am Dienstag von Drohnen getroffen. Militärisch würden diese Schläge wenig Sinn haben, sagten Experten – wohl aber psychologisch und damit politisch: Die „Nadelstiche“ sorgen für Verunsicherung in Russland. Das zeigt sich auch aus den höchst widersprüchlichen Reaktionen in Moskau.

Auch wenn die Ukraine offiziell sich nicht zu den Drohnenattacken bekennt, gibt es wenige Zweifel, wer hinten ihnen steckt. Doch der Zweck ist – zumindest militärisch – unklar. Bei den ersten derartigen Angriffen habe er nicht verstanden, wie diese der Ukraine helfen sollen, den Krieg zu gewinnen, schrieb Phillips O’Brien, Professor für strategische Studien an der schottischen Universität St. Andrews, in einem Artikel auf Substack.

Jetzt wartet er aber mit einer These auf: Die Ukraine scheint überzeugt zu sein, dass die russische Stabilität angeschlagen ist – spätestens auch mit der Meuterei der Wagner-Söldner von Jewgeni Prigoschin. Damit wolle man Kreml-Chef Wladimir Putin in die Bredouille bringen. Es sehe so aus, als ob dieser nicht einmal seine Hauptstadt vor Angriffen schützen kann, schrieb O’Brien. „Es handelt sich um eine politische Kampagne, die darauf abzielt, den Glauben der Russen an die Wirksamkeit ihres eigenen Staates zu schwächen.“

Abwehrsysteme überfordert

Ähnlich argumentierte der ukrainische Experte Iwan Stupak, der viele Jahre für den Geheimdienst SBU gearbeitet hat: Das russische Abwehrsystem könne solche Angriffe nicht abwehren. „Die Attacken gegen Moskwa City gelten für den Kreml als unfassbar schmerzhaft, weil das die Unfähigkeit zeigt, das Herz der Hauptstadt zu schützen“, sagte er im ukrainischen Fernsehen. Die Objekte flögen unbemerkt, hätten ganz konkrete Ziele, Fenster getroffen, sagte Stupak.

„Psychologischer Effekt“

Dass die Attacken Wirkung zeigen, spiegelt sich auch in den Reaktionen aus Russland wider: „Das sind Nadelstiche mit einem psychologischen Effekt“, sagte ein früherer Offizier, der namentlich nicht genannt wird, der Moskauer Boulevardzeitung „MK“. Er erklärte, dass viele Ukrainer, die zu Sowjetzeiten ausgebildet wurden, bestens Bescheid wüssten über den Schutz des russischen Luftraums.

Schäden nach einem Drohneneinschlag in Moskau
Reuters
Schäden halten sich in Grenzen

Russland behauptet zwar, die meisten Drohnen abzufangen, die entstandenen Schäden sprechen aber zumindest teilweise dagegen – auch wenn es manchmal nur die Trümmerteile sind, die dann einschlagen. Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin spielte die ersten Drohnenangriffe bewusst als unbedeutend herunter. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte noch am Montag, die Attacken seien ein „Akt der Verzweiflung“ der Ukraine. Kiew habe bei seiner Gegenoffensive keine Erfolge vorzuweisen und greife deshalb zu Terrorschlägen gegen zivile Infrastruktur.

„Gefahr ist offensichtlich“

Am Dienstag klang er anders: „Die Gefahr existiert, sie ist offensichtlich, Maßnahmen werden ergriffen.“ Er nahm das Verteidigungsministerium in der Pflicht, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Verteidigungsminister Sergej Schoigu teilte bereits am Montag mit, dass zusätzliche Vorkehrungen getroffen worden seien, um den Schutz vor Angriffen auf zivile Objekte aus der Luft und vom Meer aus zu erhöhen. Details nannte er nicht.

Kreml korrigiert eigenes Außenministerium

Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, warf der ukrainischen Führung Methoden wie bei internationalen Terrororganisationen vor. Sie verglich die vergleichsweise geringen Schäden in Moskau mit dem beispiellosen Terroranschlag auf das World Trade Center in New York 2001. Dort habe es viele Opfer gegeben, sagte Sacharowa. „Aber die Methode ist doch die gleiche“, behauptete sie im YouTube-Kanal SolovievLive.

Es handle sich um „extremistische und faschistische Methoden“, sagte Sacharowa. Peskow wies Sacharowas Vergleich allerdings zurück, im Kreml werde da keine „Analogie“ zu dem Flugzeuganschlag am 11. September 2001 in New York gesehen. Dass Russland mit seinen Raketen und Drohnen seit Kriegsbeginn immer wieder massenhaft zivile Infrastruktur bombardiert und dabei Zivilistinnen und Zivilisten tötet, ist aus Moskau freilich nicht zu hören.

Weitere Angriffe angekündigt

Der Sekretär des ukrainischen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Olexij Danilow, kündigte unterdessen weitere Drohnenangriffe auf Russland an. Man werde die eigenen Waffen weiter wo immer nötig einsetzen, sagte er. „Das bedeutet, dass wir diesen Terroristen keine Ruhe gönnen werden, bis sie unser Staatsgebiet verlassen. (…) Denn wir brauchen den Sieg. Und es wäre falsch zu denken, dass alles nur auf unserem Staatsgebiet passieren wird.“

Die Ukraine werde „niemanden um Erlaubnis fragen“ und den Aggressor auch in Moskau, St. Petersburg und anderen bewohnten Gebieten „zerstören“, betonte Danilow. Er rechtfertigte auch die Angriffe auf das Wolkenkratzerviertel Moskwa City, die vom Aggressorenstaat als Akt des Terrors gegen ein ziviles Ziel gebrandmarkt worden waren. „Das ist auch ein Krieg der Symbole. Es gab den Kreuzer ‚Moskwa‘, und jetzt ist es Moskwa City. Alles im Zusammenhang mit Moskau, wo diese Halunken Entscheidungen zur Tötung unserer Bürger treffen, sollte aufhören zu existieren“, sagte der enge Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach Angaben der ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform.

Neue Drohne binnen weniger Monate entwickelt

Die Ukraine setzt bei ihren Drohnenangriff offenbar auf die Marke Eigenbau: Im Februar setzte Kiew die bereits 2021 offiziell vorgestellte Kampfdrohne UJ-22 in Richtung Moskau ein. Diese soll eine Reichweite von mindestens 800 Kilometern haben und dabei höchstens 20 Kilogramm Sprengstoff transportieren können.

Bei der Attacke in der Nacht auf Dienstag wurde offenbar – wie auch schon im Mai – eine neuartige „Bober“-Drohne verwendet. Deren Entwicklung ist erstaunlich: Erst im Dezember hatte – auf Bitten des ukrainischen Militärgeheimdienstes – ein ukrainischer Influencer zu einer Spendenaktion zur Entwicklung einer neuartigen Drohne aufgerufen. Umgerechnet rund ein 500.000 Dollar kamen laut „New York Times“ zusammen. Wenige Monate später ist die Drohne schon im Einsatz. Durch die Canard-Flügel an der Nase und den Propellerantrieb am Heck sieht die Drohne aus, als würde sie rückwärts fliegen.

Produktion boomt

Verteidigungsminister Olexij Resnikow zeigte sich mit den ukrainischen Fortschritten im Drohnenbereich zufrieden. Von einem „wirklichen Boom“ sprach der 57-Jährige. Damit meinte er aber taktische Drohnen für den Fronteinsatz. Ein Video der Spezialkräfte des Geheimdienstes SBU zeigte Bilder von Drohneneinsätzen bei der Zerstörung russischer Technnik teils aus der Vogelperspektive.

Resnikow zufolge gibt es aktuell 82 an der Drohnenproduktion beteiligte Unternehmen. „Wir haben bereits mehr als 20 neue Drohnentypen in Dienst gestellt, und sie zerstören heute erfolgreich die Russen und ihre Technik“, sagte er kürzlich vor Journalisten. Zu Stückzahlen äußerte er sich nicht.