Der deutsche Autor und Verfassungsrechtler Maximilian Steinbeis
Maurice Weiß/Ostkreuz
Maximilian Steinbeis

„Keine Verfassung kann so wasserdicht sein“

Was kann passieren, wenn eine autoritär-populistische Partei an den Schalthebeln der Macht sitzt? Dieser Frage geht der deutsche Autor und Verfassungsrechtler Maximilian Steinbeis in einem Forschungsprojekt nach. Vor der Landtagswahl 2024 im deutschen Thüringen erstellt er mit einem Team Szenarien und sucht potenzielle Schwachstellen einer Demokratie.

ORF.at: Herr Steinbeis, Sie wollen offenbar Thüringen sezieren. Worum geht’s im Projekt, das bis kommenden Sommer läuft, genau?

Maximilian Steinbeis: Wir wollen nicht Thüringen sezieren, sondern eine Szenarioanalyse machen: Was passiert, wenn eine autoritär-populistische Partei in einem Bundesland wie Thüringen an die Regierung kommt? Im nächsten Herbst wird in drei deutschen Bundesländern gewählt, in Sachsen, in Thüringen und in Brandenburg. In all diesen drei Ländern führt die AfD die Umfragen zum Teil mit hohem Abstand an. In Thüringen ist die Parteienlandschaft besonders instabil.

In Ungarn und Polen, aber auch in vielen anderen Ländern konnte man in den letzten Jahren studieren, wie autoritäre Populisten ihre Macht über die Institutionen des Rechtsstaats und der Demokratie zum Schaden derselben einsetzen. Im Verfassungsblog haben wir uns in den vergangenen Jahren intensiv mit diesen Vorgängen beschäftigt, und viele Juristen und Juristinnen aus diesen Ländern haben auf dem Verfassungsblog geschildert, wie so etwas abläuft. Wir wollen jetzt herausfinden, was passiert, wenn jemand diese Modelle auf Thüringen zu übertragen versucht.

Die AfD ist der Anlass, aber nicht der Gegenstand unserer Studie. Wir sind keine Parteienforscher, wir beschäftigen uns nicht damit, was speziell die AfD im Schilde führt. Auf einer abstrakten Ebene studieren wir mögliche Schwachstellen im System.

ORF.at: Ungarn wird oft als Beispiel für antidemokratische Tendenzen genannt …

Steinbeis: Dort sehen wir eine Art von Autoritarismus, der eben nicht mehr auf Staatsstreich und gewaltsamen Umsturz setzt und das Parlament auflöst und politische Gegner verhaftet. Vielmehr werden die Verfassung und das Parlament dafür genutzt, um die Schalthebel so einzustellen, dass man am Ende auf demokratischen Weg faktisch nicht mehr von der Macht entfernt werden kann.

Wir sehen in Ungarn, dass die Verfassung auch ein Mittel sein kann, mit dem ein Regime seine autoritären Zwecke umsetzt. Die Verfassung sieht demokratisch aus, hat eigentlich auch alles, was eine demokratische Verfassung erfüllen muss, und trotzdem ist sie so geschneidert, dass am Ende nur eine Partei regieren kann.

ORF.at: Sie gehen davon aus, dass die AfD ähnliche Pläne hegt?

Steinbeis: Die AfD ist eine der Parteien, der ich zutraue, dass sie ein solches Programm attraktiv finden und umsetzen würde. Aber sie ist nicht notwendig die einzige Partei. Das könnten auch ganz andere politische Akteure attraktiv finden.

ORF.at: Soweit ich es verstanden habe, wird sich die Projektgruppe ausführlich mit der gesetzlichen Situation in Thüringen beschäftigen.

Steinbeis: Das steht im Vordergrund. Es wird aber nicht nur um Gerichte und Parlamente gehen, sondern auch um die Möglichkeit einer kritischen Öffentlichkeit, um die Medien, um Schulen und Universitäten, um die Zivilgesellschaft.

Wir schauen auf die technischen, rechtlichen Werkzeuge, die eine Landesregierung einsetzen kann, und fragen: Wo wären die spezifisch verwundbaren Stellen? Wo wären Demokratie und Rechtsstaat einigermaßen robust aufgestellt? Worauf kann und muss man sich vorbereiten? Das wollen wir mit dem Projekt herausfinden, wir wollen den Blick schärfen.

ORF.at: Was können Sie bzw. Ihr Team konkret in Thüringen machen?

Steinbeis: Wir werden versuchen, in Thüringen Teilaspekte des Projekts auf einer theoretischen Ebene durchzuspielen. Die Zwischenergebnisse sollen mit möglichst vielen Leuten, auf die es im Ernstfall ankommen würde, besprochen werden. In einem ersten Schritt werden wir aber fachliche Expertise einholen, um uns ein Bild der Lage machen zu können.

ORF.at: Könnte die rechtliche Situation in einem Land Ihrer Meinung nach denn so robust sein, dass überhaupt keine Gefahr besteht, in eine Antidemokratie zu rutschen?

Steinbeis: So eine Aussage würde ich nie treffen. Ich glaube, dass keine Verfassung so wasserdicht sein kann, dass man jedem Szenario vorbeugen kann. Wir hoffen schon, dass wir herausfinden, an welchen Schrauben man drehen könnte, um mögliche Szenarien weniger wahrscheinlich zu machen.

Aber noch wichtiger ist, dass wir aus der typisch deutschen Selbstgefälligkeit herauskommen, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben und jetzt ein Grundgesetz und ein Bundesverfassungsgericht haben, die uns vor allen Gefahren beschützen.

Gerade wir Deutsche neigen dazu, ein bisschen herablassend auf andere Länder zu schauen und uns auf die eigene Schulter zu klopfen, als sei es unser eigener Verdienst, dass es bei uns noch nicht so schlimm zugeht wie bei jenen. Aber darauf sollte sich niemand verlassen.

ORF.at: Gibt es Ihrer Meinung nach ein Muster, welche Politiker bzw. Politikerinnen einen solchen antidemokratischen Versuch starten?

Steinbeis: Lange sah es so aus, als sei der Rechtspopulismus typisch für Europa und der Linkspopulismus typisch für Lateinamerika. Das stimmt aber nicht mehr, wenn es überhaupt je gestimmt hat. Heute ist der autoritäre Populismus weltweit ein vorwiegend rechtes Phänomen, nicht nur in Europa, sondern in den USA mit Donald Trump, in Brasilien mit Jair Bolsonaro, in Indien mit Narendra Modi, vielleicht schon bald in Argentinien mit Javier Milei.

ORF.at: Antidemokratische Strömungen gab es schon immer …

Steinbeis: Heute haben wir es aber nicht mehr mit Autokraten zu tun, die sich hinstellen und sagen, dass sie gegen die Demokratie und die Verfassung sind, wie es in den 30er Jahren der Fall war. Heute haben wir es mit Leuten zu tun, die ein affirmatives Verhältnis zum Grundgesetz behaupten und das auch überall offensiv vor sich hertragen.

Sie beschreiben sich selbst als die „wahren“ Demokraten, als die „wahren“ Verteidiger von Meinungsfreiheit und Parteienvielfalt gegen die Unterdrückung durch den Mainstream und die Eliten. Die Gefahr, die von ihnen für die Demokratie ausgeht, ist viel schwerer zu greifen und zu beweisen, weil sie jeden Verdacht einer Verfassungsfeindschaft sofort gegen die wenden, die ihn äußern.

ORF.at: Vor einigen Jahren schrieben Sie den viel beachteten Essay „Ein Volkskanzler“. Darin haben Sie aufgezeigt, wie schnell die Justiz politisch umgebaut werden kann. Es hat den Anschein, dass die Justiz die letzte Hürde vor dem Ende einer Demokratie ist.

Steinbeis: In Ungarn und Polen hat man gesehen, dass die Justiz und insbesondere die Verfassungsgerichtbarkeit ganz früh zum Ziel von Umgestaltungsfantasien wird. Das ist auch leicht zu erklären. Rechtsstaatliche Kontrolle kann ein Hindernis bei der Umsetzung autokratischer Ideen sein.

Das gilt zu einem gewissen Teil auch für die Strafjustiz, die Zivilgerichtsbarkeit und die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Wenn eine autoritär-populistische Regierung die Möglichkeit hat, die Gerichte organisatorisch umzugestalten und unabhängige Richter und Richterinnen durch loyale Gefolgsleute zu ersetzen, wird sie diese auch ergreifen.

ORF.at: Was ist mit den Parlamenten? Es heißt ja, sie würden die Regierungen kontrollieren.

Steinbeis: In einer parlamentarischen Demokratie stützt die Parlamentsmehrheit die Regierung. Kontrollfunktionen übt eher die Minderheit aus, wenn sie etwa einen Untersuchungsausschuss durchsetzen oder kritische Fragen stellen kann.

ORF.at: Dient ihr Essay „Ein Volkskanzler“ als Blaupause für das Thüringen-Projekt?

Steinbeis: In „Ein Volkskanzler“ wird die Bundesebene betrachtet. Im Thüringen-Projekt geht es um die Landesebene. Da liegt der Schwerpunkt in vielen Politikbereichen eher auf der Verwaltung als auf der Gesetzgebung. Aber auch eine Landesregierung verfügt über sehr viel Macht, etwa im Bereich der Bildung und Wissenschaft, der Medien, der Kunst- und Kulturförderung. Auch das Versammlungsrecht ist Ländersache, und große Teile des Sicherheitsapparates.

ORF.at: Steht hinter dem Thüringen-Projekt eine politische Partei bzw. wird das Projekt von einer politischen Partei unterstützt?

Steinbeis: Nein. Wir sind eine unabhängige Diskursplattform und der Wissenschaft und Forschung verpflichtet. Wir sind in Kontakt mit Politikern und Politikerinnen aller Parteien außer der AfD. Wir sind aber kein Instrument einer politischen Kraft gegen irgendeine andere. Wir machen keine Parteipolitik. Sonst würde das Projekt nicht funktionieren.

ORF.at: Der Verfassungsblog beschäftigte sich öfters auch mit Österreich. Ist Ihnen bekannt, dass FPÖ-Chef Herbert Kickl gerne „Volkskanzler“ werden will?

Steinbeis: Ich habe davon gehört und finde es hochinteressant, dass sich ein Politiker dieses Begriffes bedient. Vielleicht will er damit seine Ambitionen als Kanzler beschreiben, was ich nicht hoffe. Eine Analyse, wie ein „Volkskanzler“ bei Ihnen regieren könnte, wäre ein extrem interessantes und wichtiges Projekt, und ich wünschte, ich hätte dazu die nötigen Kapazitäten.