Im Herbst 2024 wird im deutschen Thüringen der Landtag gewählt. In Umfragen liegt die AfD mit mehr als 30 Prozent voran, mit Abstand folgen die anderen Parteien. Die Thüringer AfD von Landeschef Björn Höcke ist einer der radikalsten Verbände der gesamten Partei. Der Verfassungsschutz des Landes stuft ihn als erwiesen rechtsextrem ein und beobachtet ihn.
„Die AfD ist der Anlass, aber nicht der Gegenstand unserer Studie“, sagt Maximilian Steinbeis. Der studierte Jurist und Gründer der renommierten Plattform Verfassungsblog will mit einer kleinen Gruppe aus Fachleuten in den kommenden Monaten die rechtliche Situation im deutschen Bundesland Thüringen unter die Lupe nehmen.
„Wir schauen auf die technischen, rechtlichen Werkzeuge, die eine Landesregierung einsetzen kann, und fragen: Wo wären die spezifisch verwundbaren Stellen? Wo wären Demokratie und Rechtsstaat einigermaßen robust aufgestellt? Worauf kann und muss man sich vorbereiten? Das wollen wir mit dem Projekt herausfinden, wir wollen den Blick schärfen“, sagt Steinbeis im ORF.at-Gespräch.
„Ein Volkskanzler“ driftet ab
Seit 2009 betreibt Steinbeis den Verfassungsblog. Auf der Plattform sezieren internationale Fachleute wöchentlich Themen, die sich rund um Verfassungsrecht und Rechtspolitik drehen. Auch die rechtliche Situation in Österreich kam bereits vor. Auf dem Blog lassen sich zum Beispiel Analysen über das geplante, aber nicht umgesetzte Coronavirus-Impfpflichtgesetz und über die Mindestsicherung finden. Österreichische Verfassungsjuristen wie Theo Öhlinger und Christoph Grabenwarter schrieben für die Plattform.
Besonders häufig verfolgte der Verfassungsblog aber die Situation in Ungarn und Polen. Den beiden Ländern wird attestiert, eine illiberale Demokratie zu sein. Viele Freiheiten, die eine Demokratie ausmachen, wurden Experten und Expertinnen zufolge beschnitten. Auch Israel wird mittlerweile zu jenen Staaten gezählt, die Richtung illiberale Demokratie abdriften. Auf den Straßen protestieren Zehntausende gegen die Regierung von Benjamin Netanjahu. Sie wollen, so heißt es, die Demokratie vor autokratischen Tendenzen verteidigen.
Steinbeis beschäftigt sich schon sehr lange mit antidemokratischen Tendenzen. Vor einigen Jahren schrieb er einen viel beachteten Essay mit dem Titel „Ein Volkskanzler“. In dem Gedankenexperiment zeigte der Jurist auf, wie die Grundrechte unter den Augen aller ausgehöhlt und umgebaut werden können. Die Demokratie könne in wenigen Schritten zum Autoritarismus werden. „Es sei der Souverän, sagt er, der die Macht in seine Hände gelegt habe: das deutsche Volk“, heißt es im Essay, der es auch als Theaterstück auf die Bühne schaffte.
Hierzulande betonte zuletzt FPÖ-Chef Herbert Kickl gleich in mehreren Interviews, „Volkskanzler“ werden zu wollen, „ein Kanzler aus dem Volk und für das Volk“, wie er sagte und erst kürzlich der „Falter“ aufgriff. Auch am Dienstag rückte der Freiheitliche bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit AfD-Chefin Alice Weidel von seinem Ziel nicht ab. Jurist Steinbeis findet die Verwendung des Begriffs „hochinteressant“. „Vielleicht will er damit seine Ambitionen als Kanzler beschreiben, was ich nicht hoffe.“
Die Gefahr von Verfassungsfreunden
Wenn sich jemand die Demontage der Demokratie als Ziel gesetzt hat, ist dafür keine Brechstange notwendig. Heute werde sich niemand vor die Öffentlichkeit stellen und sagen, er sei gegen die Demokratie und die Verfassung, wie es in den 30er Jahren der Fall gewesen sei, betont Steinbeis. Vielmehr habe man es heute mit Personen zu tun, die ein „affirmatives Verhältnis“ zur Verfassung behaupten und offensiv vor sich hertragen. „Die Gefahr, die von ihnen für die Demokratie ausgeht, ist schwerer zu greifen und zu beweisen, weil sie jeden Verdacht einer Verfassungsfeindschaft sofort gegen die wenden, die ihn äußern.“
Auch Steinbeis verwies in zig Interviews über das Thüringen-Projekt auf Polen und Ungarn. Dort seien Institutionen des Rechtsstaates und der Demokratie dazu genutzt worden, um diese von innen zu kapern. In Ungarn sitzt seit 2010 Viktor Orban mit seiner FIDESZ-Partei an den mächtigen Positionen des Staates, in Polen regiert die PIS das Land, im Hintergrund zieht Parteivorsitzender Jaroslaw Kaczynski die Fäden. In den EU-Mitgliedsstaaten steht nationale und internationale Kritik quasi auf der Tagesordnung, geht es doch um umstrittene Reformen in der Justiz und darum, dass die kritische Öffentlichkeit beschränkt wird.
Besonders Orban sei von der Regierungsspitze eigentlich nicht mehr wegzudenken, sagen Kritikerinnen und Kritiker. Seine Macht sei mit juristischer Raffinesse einzementiert worden. Diese Meinung vertritt auch Jurist Steinbeis. „Wir sehen in Ungarn, dass die Verfassung auch ein Mittel sein kann, mit dem ein Regime seine autoritären Zwecke umsetzt“, sagt er. Zwar sehe die Verfassung demokratisch aus, habe alles, was eine demokratische Verfassung erfüllen muss, und trotzdem sei sie so geschneidert, dass am Ende nur eine Partei regieren kann.
Ein Modell für andere Länder?
Um die Modelle, die in Ungarn, Polen und anderen Ländern zum Einsatz kommen, geht es im Thüringen-Projekt. Was passiert, wenn eine Partei kommt, die ein solches Programm attraktiv findet und so das System ausspielen kann? „Auf einer abstrakten Ebene studieren wir mögliche Schwachstellen im System“, so Steinbeis. Der gesetzliche Status quo stehe zwar im Vordergrund, denn in Ungarn und Polen habe man sehen können, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit „ganz früh zum Ziel von Umgestaltungsfantasien“ wurde. Es werde allerdings auch um Medien, Schulen und Universitäten, um die Zivilgesellschaft gehen.
Neben der Analyse von möglichen Schwachstellen sei wichtig, „dass wir aus der typisch deutschen Selbstgefälligkeit herauskommen, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben und jetzt ein Grundgesetz und ein Bundesverfassungsgericht haben, die uns vor allen Gefahren beschützen“, sagt Steinbeis. Gerade Deutschland schaue „ein bisschen herablassend“ auf andere Länder und klopfe sich auf die Schulter, „als sei es unser eigener Verdienst, dass es bei uns noch nicht so schlimm zugeht wie bei jenen. Aber darauf sollte sich niemand verlassen.“
Experten und Expertinnen warnen schon lange vor der Illusion, dass Demokratien nur durch einen gewaltsamen Militärputsch enden. Sie zerbröckeln leise, wie die zwei US-Forscher Steven Levitsky und Daniel Ziblatt 2018 in ihrem Buch „Wie Demokratie sterben“ festhielten. Die meisten demokratischen Zusammenbrüche seit dem Ende des Kalten Krieges seien durch gewählte Regierungen verursacht worden, so die Autoren. Die „Washington Post“ lässt seit der US-Präsidentschaft von Donald Trump ihre Leserschaft wissen: „Democracy Dies in Darkness“.
Ergebnisse im Sommer 2024
Während das Gedankenexperiment „Ein Volkskanzler“ die ausgehöhlte Demokratie auf Bundesebene verhandelt, thematisiert das Thüringen-Projekt die Landesebene. Zwar liege der Schwerpunkt im Politikbereich vielmehr auf der Verwaltung als auf der Gesetzgebung, sagt Steinbeis. „Aber auch eine Landesregierung verfügt über sehr viel Macht, etwa im Bereich der Bildung und Wissenschaft, der Medien, der Kunst- und Kulturförderung. Auch das Versammlungsrecht ist Ländersache, und große Teile des Sicherheitsapparates.“
In der „Süddeutschen Zeitung“ beschrieb der Jurist das Szenario, dass eine Partei etwa den Medienstaatsvertrag aufkündigen könnte, der den ARD- und ZDF-Journalistinnen und -Journalisten ihre Unabhängigkeit von der Regierung garantiert. Stattdessen könnte eine Art Thüringen-TV aus dem Boden gestampft werden, das der Partei dient. „Ein Propagandakanal einer neuen Regierung“, schrieb die „SZ“. Ist das möglich? Und wer könnte einen solchen Schritt überhaupt verhindern? Wer kann bzw. muss in solchen Fällen eingreifen?
In einem ersten Schritt werde man die fachliche Expertise einholen, um sich ein Bild der Lage machen zu können. Dann werde das Projektteam versuchen, in Thüringen Teilaspekte auf einer theoretischen Ebene durchzuspielen. „Die Zwischenergebnisse sollen mit möglichst vielen Leuten, auf die es im Ernstfall ankommen würde, besprochen werden“, sagt Steinbeis. Im Sommer soll das Ergebnis als wissenschaftliche Studie veröffentlicht werden – rechtzeitig vor der Thüringen-Wahl.