Ermittler neben Flugzeugteil
APA/AFP/Olga Maltseva
Prigoschin tot?

Kreml schweigt zu Flugzeugabsturz

Nach dem Absturz eines Privatjets Mittwochabend in Russland, in dem sich auch Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin befunden haben soll, überschlagen sich die Spekulationen. Ein der Gruppe Wagner nahestehender Telegram-Kanal und russische Militärblogger verbreiteten rasch die Version eines gezielten Abschusses durch die russische Armee. Auch unter Fachleuten wird die Mordtheorie als plausibel gesehen, andere Stimmen mahnen zu vorsichtigerer Bewertung. Offiziell bestätigt wurde ein Tod Prigoschins jedenfalls nicht – der Kreml schweigt.

Kreml-Chef Wladimir Putin hielt sich zum Zeitpunkt des Absturzes im Südwesten Russlands an der Grenze zur Ukraine auf, um an den 80. Jahrestag der Schlacht von Kursk während des Zweiten Weltkrieges zu erinnern. Eine Reaktion auf den Vorfall gab es dort nicht. Auch in seinen Statements beim BRICS-Treffen in Südafrika, zu dem Putin auch am Donnerstag wieder zugeschaltet war, kam der mutmaßliche Vorfall um Prigoschin nicht vor.

Sowohl Prigoschin als auch sein Stellvertreter Dmitri Utkin befanden sich „an Bord des Flugzeugs“, teilte die russische Luftfahrtbehörde Rosawiatsija nach dem Vorfall am Mittwochabend unter Berufung auf die Fluggesellschaft MNT-Aero mit. Zuvor hatten die staatlichen russischen Nachrichtenagenturen unter Berufung auf Rosawiatsija gemeldet, Prigoschins Name stehe auf der Passagierliste. Das Katastrophenschutzministerium erklärte, es gebe keine Überlebenden.

Unfallstelle wird bewacht

Am frühen Donnerstagmorgen bewachten Sicherheitskräfte die Absturzstelle, wie Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichteten. Die Maschine des Typs Embraer Legacy 600 war am Donnerstag von Moskau auf halbem Weg nach St. Petersburg, wo Prigoschins Firmen ihren Sitz haben. Sie stürzte demnach im Gebiet Twer nahe dem Ort Kuschenkino ab.

Der Chef der russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin
Reuters/Alexander Ermochenko
Der Chef der russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin

Untersuchungen laufen

Einem von RIA Nowosti zitierten Leiter der Rettungsdienste zufolge wurden an der Absturzstelle bis zum Abend zunächst acht Leichen gefunden. Die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS berichtete später von sieben geborgenen Leichen. Die Luftfahrtbehörde erklärte, dass sie eine Sonderkommission zur Untersuchung des Absturzes eingesetzt habe.

Auch das für schwere Straftaten zuständige Untersuchungskomitee Russlands leitete nach eigenen Angaben ein Ermittlungsverfahren wegen „Verstoßes gegen die Sicherheitsvorschriften im Luftverkehr“ ein. Das Komitee schickte demnach ein Ermittlerteam an die Absturzstelle. Dem gewöhnlich gut informierten Nachrichtenportal Basa zufolge wird die Theorie geprüft, wonach eine oder zwei Bomben an Bord platziert worden sein könnten. Russische Medien berichteten unter Hinweis auf nicht genannte Insider, das Flugzeug sei abgeschossen worden.

Zunächst hatte ein der Gruppe Wagner nahestehender Telegram-Kanal, den Prigoschin üblicherweise zur Verbreitung von Videos nutzte, am Mittwochabend dessen Tod vermeldet und rasch die Mordtheorie als gesichert dargestellt: „Prigoschin starb als Ergebnis der Handlungen von Verrätern Russlands“, hieß es in dem Post. „Aber selbst in der Hölle wird er der Beste sein!“

Verwirrung um zweites Flugzeug

In mehreren mit der Wagner-Gruppe in Verbindung stehenden Telegram-Kanälen wurden angebliche Videos des Absturzes verbreitet – deren Echtheit konnte nicht verifiziert werden. Für zusätzliche Verwirrung sorgte am Mittwoch ein angebliches weiteres Privatflugzeug, das Prigoschin zugeordnet wird und laut Flugdaten ebenfalls auf dem Weg nach St. Petersburg war. Dieses kehrte nach dem Absturz des ersten Flugzeugs um und landete später in Moskau.

„Der Mord an Prigoschin wird katastrophale Folgen haben“, schrieb der einflussreiche russische Militärjournalist Roman Saponkow in Telegram. „Die Leute, die den Befehl gegeben haben, verstehen nichts von der Stimmung in der Armee und ihrer Moral.“ Prigoschin war wegen seiner Kritik an der regulären Armeeführung und einigen Erfolgen seiner Söldner auf dem Schlachtfeld beliebt bei Soldaten.

Experte Mangott: „Mutmaßliche Ermordung“

Dass ein der Wagner-Gruppe nahestehender Telegram-Kanal Prigoschins Tod vermeldete, sah Russland-Experte Gerhard Mangott im ZIB2-Interview als Beleg für dessen Ableben. Die Tatsache, dass die Meuterei stattfinden konnte, sei ein Zeichen der Schwäche von Kreml-Chef Wladimir Putin gewesen. „Die mutmaßliche Ermordung heute ist wahrscheinlich ein Beleg dafür, dass Putin beweisen wollte: ‚Ich bin nicht schwach.‘“

Politikwissenschaftler zu Flugzeugabsturz in Russland

Politikwissenschaftler Gerhard Mangott spricht unter anderem über den Flugzeugabsturz in Russland, bei dem auch Söldnerchef Jewgeni Prigoschin auf der Passagierliste stand, und darüber, ob der Absturz ein Mordanschlag gewesen sein könnte.

Selenskyj: „Jeder weiß, wer etwas damit zu tun hat“

Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Selenskyj habe die Ukraine nichts mit dem mutmaßlichen Tod Prigoschins zu tun. „Jeder weiß, wer etwas damit zu tun hat“, sagte er vor Journalisten in Anspielung auf Kreml-Chef Putin.

Der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak sagte gleich nach dem Vorfall, der Flugzeugabsturz sei „ein Signal Putins an die russischen Eliten“ vor der Präsidentschaftswahl 2024. Es bedeute „Vorsicht! Illoyalität bedeutet Tod“. Prigoschin habe „in dem Moment, als er 200 Kilometer vor Moskau stehen blieb, sein eigenes Todesurteil unterschrieben“, wurde Podoljak von der deutschen „Bild“-Zeitung zitiert.

Biden „nicht überrascht“

US-Präsident Joe Biden zeigte sich „nicht überrascht“ vom möglichen Tod des Wagner-Chefs. „Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber ich bin nicht überrascht“, sagte Biden. Er habe kürzlich mit Blick auf den russischen Söldnerchef gesagt, dieser müsse „vorsichtig“ sein. Unbestätigten Meldungen zufolge gehen die USA auch davon aus, dass die Maschine mit einer Luftabwehrrakete – abgefeuert aus Russland – abgeschossen wurde, berichtete Reuters.

Die EU wollte die Situation vorerst nicht kommentieren. Man habe die Berichte über den Flugzeugabsturz gesehen, aber die Informationen ließen sich nur sehr schwer verifizieren, sagte ein Sprecher. „Kaum etwas, was in diesen Tagen aus Russland kommt, ist glaubwürdig.“ Zu möglichen politischen Folgen der jüngsten Entwicklungen wollte sich der Sprecher ebenfalls nicht äußern. „Zum derzeitigen Zeitpunkt wäre das reine Spekulation“, erklärte er.

Schallenberg: Haben Konsequenzen erwartet

„Wir haben ja schon vor zwei Monaten gesagt, es ist zu erwarten, dass es (infolge des Wagner-Aufstands, Anm.) Konsequenzen geben wird“, sagte Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) im ZIB2-Interview. „Vergeben und vergessen sind nun einmal nicht sehr starke Eigenschaften vom Präsidenten der Russischen Föderation.“

Schallenberg (ÖVP) zum Angriffskrieg in der Ukraine

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) spricht unter anderem über den Flugzeugabsturz in Russland sowie darüber, ob es sich dabei um Konsequenzen nach der Revolte handeln könnte.

Die im Exil lebende belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja schrieb auf Twitter (X), den „Verbrecher Prigoschin“ werde in Belarus „niemand vermissen“. Er sei „ein Mörder“ gewesen und „sollte als solcher in Erinnerung bleiben“. Zudem werde „sein Tod“ womöglich „die Präsenz der Wagner-Gruppe in Belarus auflösen und die Bedrohung für unser Land und unsere Nachbarn verringern“.

Anders die Lage vor dem Wagner-Sitz in St. Petersburg: „Uns fehlen die Worte“, sagte ein maskierter Mann vor dem Gebäude zur Agentur AFP. Er trug einen Helm und ein Sweatshirt mit dem Logo der Organisation und rief dazu auf, Prigoschin „und alle unsere Kommandanten“ zu unterstützen. Auch in anderen russischen Städten wurde der Toten gedacht.

Wagner-Söldner mit Blumen vor Bild von Prigoschin in Novosibirsk
APA/AFP/Vladimir Nikolayev
Auch vor dem Wagner-Büro in Nowosibirsk wurden Blumen niedergelegt

Erst am Dienstag soll General Sergej Surowikin, der als Verbindungsmann von Wagner-Chef Prigoschin galt und auch vorab vom Aufstand gewusst haben soll, abgesetzt worden sein. Nach Ansicht westlicher Fachleute wurde Surowikin bereits in den vergangenen Monaten de facto kaltgestellt.

Revolte startete vor genau zwei Monaten

Prigoschin (62) hatte vor genau zwei Monaten – am 23. Juni – mit seiner Privatarmee Wagner gegen die russische Führung gemeutert, wobei die Hintergründe dieser Ereignisse bis heute unklar sind. Präsident Putin nannte ihn einen Verräter.

Schon einen Tag später beendete Prigoschin jedoch den Aufstand nach Vermittlung des belarussischen Staatschefs Alexander Lukaschenko. Dieser bot ihm anschließend Zuflucht in Belarus an. Prigoschins Söldner wurden ihrerseits vor die Wahl gestellt, ebenfalls nach Belarus zu gehen, sich der regulären russischen Armee anzuschließen oder nach Hause zurückzukehren.

Flugzeugabsturtz
Beide: APA/AFP/Telegram
Die Aufnahmen sollen den abgestürzten Privatjet zeigen

Video sollte Prigoschin in Afrika zeigen

Prigoschins Schicksal war in den Wochen danach ungewiss. Am Montag tauchte er in einem von Wagner-nahen Gruppierungen in Onlinenetzwerken verbreiteten Video auf. Darin berichtete er, sich in Afrika zu befinden. Vor dem Hintergrund einer Wüstenlandschaft sagte Prigoschin, er arbeite daran, „Russland auf allen Kontinenten noch größer und Afrika noch freier zu machen“.

Die von ihm aufgebaute Söldnertruppe hatte für Russland erst inoffizielle Spezialaufträge in Syrien, später auch in mehreren Staaten Afrikas erfüllt. Im Angriffskrieg gegen die Ukraine warb Prigoschin Häftlinge aus russischen Gefängnissen an. Die Truppe erlitt schwere Verluste in den Kämpfen um die ostukrainische Stadt Bachmut. Prigoschin warf der regulären Militärführung Unfähigkeit und Korruption vor.

Prigoschin war selbst im Gefängnis gesessen und wurde später unter dem Beinamen „Putins Koch“ bekannt. Er soll auch der Geschäftsmann hinter den Trollfabriken in St. Petersburg gewesen sein, die über soziale Netzwerke Einfluss auf westliche Länder zu nehmen versuchten.