Matteo Salvini
IMAGO/Matteo Gribaudi
Regierung gegen Justiz

Ein Video erhitzt Italien

Seit Tagen führt die italienische Regierung einen beispiellosen Streit mit der Justiz. Zuletzt goss der stellvertretende Regierungschef Matteo Salvini Öl ins Feuer mit einem Video, das eine Richterin verunglimpfen soll. Hintergrund ist ein Urteil der Richterin, das ein Regierungsdekret zur Verschärfung der Asylgesetzgebung als rechtswidrig erklärt und außer Kraft gesetzt hat.

Das Dekret der Regierung sieht vor, dass Asylbewerber, die aus einem sicheren Drittland kommen und bei denen die Ablehnung des Asylantrags wahrscheinlich ist, ohne Prüfung des Einzelfalls bis zu 18 Monate in Abschiebehaft genommen werden können. Dazu sollen in ganz Italien eigens neue Abschiebezentren errichtet werden, etwa in ehemaligen Kasernen oder fernab von Städten in Containerlagern.

Auf Sizilien gibt es in Pozzallo an der Südküste als Pilotprojekt ein erstes solches Lager. In ihm wurde ein 20 Jahre alter Tunesier festgehalten, der Ende September auf der Insel Lampedusa angekommen war. Weil Tunesien in Italien als sicheres Herkunftsland gilt, war sein Asylbegehren in einem Schnellverfahren vorerst abschlägig beschieden und dessen Unterbringung in dem geschlossenen Zentrum verfügt worden.

Gericht hebt Dekret auf

Der Tunesier klagte dagegen und hatte Erfolg. Das Gericht in Catania befand am 29. September das Vorgehen als verfassungswidrig sowie als Verstoß gegen EU-Recht. Niemandem könne eine individuelle Prüfung seines Falls vorenthalten werden, und niemand dürfe, bis das geschehen sei, in haftähnliche Verwahrung genommen werden. Der Tunesier hatte sein Asylgesuch damit begründet, aus religiösen Gründen verfolgt worden zu sein.

Italiens Premierministerin Giorgia Meloni
Reuters/Guglielmo Mangiapane
Meloni ist über die Ergebnisse ihrer Migrationspolitik enttäuscht

Nach dem Gerichtsentscheid wurden der Kläger und drei weitere Tunesier aus dem Abschiebezentrum entlassen. Das Gericht erklärte außerdem eine weitere Regelung für rechtswidrig, wonach abgelehnte Asylwerber gegen die Zahlung einer Kaution von 4.938 Euro aus der Abschiebehaft freikommen können. Der parteilose Innenminister Matteo Piantedosi kündigte nach dem Urteil an, die Regierung werde Berufung gegen das Urteil einlegen – basierend auf Social-Media-Beiträgen, in denen behauptet wurde, die vorsitzende Richterin sei befangen.

Meloni: „Unglaubliches“ Urteil

Die Ministerpräsidentin und Parteichefin der ultrarechten und postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia, Giorgia Meloni, zeigte sich „verblüfft“ über das „unglaubliche“ Urteil. Aber „wir werden weiterhin die Grenze verteidigen“, sagte Meloni, die Italien mit einem „beispiellosen Migrationsdruck konfrontiert“ sieht. Seit Anfang 2023 sind laut Innenministerium 135.000 Geflüchtete in Italien eingetroffen. Im Vergleichszeitraum 2022 waren es 72.411 gewesen. Tunesien ist eines der Haupttransitländer für Flüchtlinge aus Afrika mit Ziel Europa.

Andere Rechtspolitiker taten es Meloni gleich – allen voran Salvini von der rechtsnationalen Lega. Er bekräftigte nach dem Urteil seine Forderung nach einer grundlegenden Justizreform. Salvini zeigte sich überrascht, dass im notorisch trägen Rechtswesen Italiens die Klage eines illegal Eingereisten schon zehn Tage nach dessen Ankunft von einem Gericht gehört worden sei. „Hat der Mann seinen Anwalt schon im Schlauchboot dabeigehabt?“, fragte Salvini.

Salvini-Video über „Mörder“ und „Tiere“

Am Donnerstag postete er schließlich ein Video, um die vorsitzende Richterin in Catania als befangen zu verunglimpfen. Die Aufnahmen zeigen sie bei einer Demonstration im Jahr 2018 gegen die Politik der geschlossenen Häfen der damaligen Regierung. Dutzende aus Seenot gerettete Geflüchtete waren damals an Bord des Küstenwacheschiffs „Diciotti“ tagelang festgehalten worden.

"Die extreme Linke demonstriert, um die Ausschiffung von Einwanderern vom Diciotti-Schiff zu fordern: Die Menge schreit den Polizisten ‚Mörder‘ und ‚Tiere‘ ins Gesicht. Ich scheine einige bekannte Gesichter zu sehen …“ , schrieb Salvini unter Verweis auf die Richterin. „Wenn sich jetzt jemand darüber beschwert, dass ihr vorgeworfen wird, nicht unparteiisch zu wirken, hätte sie sich vielleicht etwas anders verhalten können“, kommentierte Salvini.

Opposition ortet „Hexenjagd“

Während sich die Richterin verteidigte, sie sei zwischen der Polizei und den Demonstranten gewesen, um die Lage zu beruhigen, äußerte sich die italienische Richtervereinigung ANM besorgt darüber, das Privatleben von Richtern zu untersuchen, anstatt ihre Maßnahmen in der Sache zu kritisieren. „Wenn die Tatsache so ernst und schockierend ist, warum handeln wir dann fünf Jahre später und nicht sofort?“, fragte ANM-Präsident Giuseppe Santalucia.

„Die von Salvini entfesselte Hexenjagd gegen die Person der Richterin ist wirklich unglaublich ernst“ und „verdient Antworten, die Minister Piantedosi geben muss“, sagten die Mitte-links-Senatoren der oppositionellen Demokratischen Partei (PD), Anna Rossomando und Walter Verini. „Wie kam dieses Video heraus und woher? Wer hat es gemacht? Gibt es vielleicht spezielle Archive? Die Episode wirft beunruhigende Fragen auf“, fügten sie hinzu.

Geflüchtete und ein Polizist in Lampedusa
Reuters/Yara Nardi
Italien ist weiterhin mit starken Migrationsbewegungen konfrontiert

Die oppositionelle Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) vertrat eine ähnliche Linie. „Die Frage, die wir uns gestellt haben, ist, wie der Minister an das Video gekommen ist? Werden Profile von Demonstranten erstellt? Wird Profiling verwendet, um vertrauliche Informationen zu sammeln? Um Hass und Groll gegen eine Richterin zu schüren, die eine Entscheidung getroffen hat, die dieser Regierung nicht gefällt?“ sagte die M5S-Abgeordnete Vittoria Baldino.

M5S-Vorsitzender Giuseppe Conte ist davon überzeugt, dass Richterinnen und Richter nicht nur unparteiisch seien, sondern auch unparteiisch wirken müssten, warnte die Regierung aber: „Machen Sie Richter nicht zu neuen Feinden.“ Es gebe eine „frauenfeindliche Wut“ gegen die Richterin, reagierte Luana Zanella von der oppositionellen Grünpartei AVS.

„Nicht, was wir erhofften“

Ex-Ministerpräsident Matteo Renzi von der Partei Italia Viva stand indes auf Seite der Regierung, obwohl er deren Einwanderungspolitik nicht teilt: „Ich finde es skandalös, dass eine Richterin auf die Straße geht. Wenn du dich in der Politik engagieren willst, sei kein Richter.“ Meloni hatte unter anderem mit dem Versprechen eines härteren Vorgehens gegen illegale Einwanderung die Parlamentswahlen im September 2022 gewonnen. Zum Jahrestag ihres Wahlsiegs räumte sie in einem Interview jedoch ein, die Ergebnisse in diesem Bereich seien „nicht das, was wir uns erhofft hatten“.