Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Parlament von Kiew
Reuters/Ukrainian Presidential Press Service
Wahl im Krieg?

Selenskyj vor „demokratischem Dilemma“

In der Ukraine geht die vom Krieg geprägte Amtszeit von Präsident Wolodymyr Selenskyj ihrem Ende zu. Unter normalen Umständen wäre nun Wahlkampf angesagt – neben Sicherheitsbedenken stellt sich aber auch rechtlich und organisatorisch die Frage der Durchführbarkeit. Selenskyj möchte mit Blick auf einen möglichen EU-Beitritt gute Regierungsführung beweisen. Die demokratische Legitimität einer Wahl während des Krieges sorgt aber für Debatten.

Die fünfjährige Amtszeit des ukrainischen Präsidenten Selenskyj endet im März 2024. Würde sich sein Land nicht gerade mitten im Krieg befinden, müsste er zum jetzigen Zeitpunkt entweder seinen Rücktritt planen oder für eine zweite Amtszeit kandidieren und in der Folge Wahlkampfvorbereitungen treffen.

Gegenüber der rumänischen Nachrichtenseite Digi24 sagte Selenskyj Mitte Oktober, er werde sich nur dann einer Wiederwahl stellen, wenn der Krieg fortgesetzt werde. Während des Krieges gegen Russland könne er nicht davonlaufen. Die Abhaltung der Wahl sei zwar schwierig und kostspielig, er bevorzuge sie aber unter der Voraussetzung, dass internationale Beobachter sie als frei, fair und inklusiv bestätigen können, hatte er zuvor angekündigt.

Wahlen seien unter Kriegsrecht zwar prinzipiell ausgesetzt, er sei aber bereit, dieses aufzuheben, wenn das Parlament zustimme. Wenn der Krieg 2024 weitergehe und Wahlen abgehalten werden, werde er zudem wieder antreten. Er sei „der Garant der Verfassung, und ich werde sie in jedem Fall verteidigen“, sagte er kürzlich in einem Interview mit dem portugiesischen öffentlich-rechtlichen Sender RTP.

Ukrainische Präsident Volodomir Zelenski
Reuters/Ukrainian Presidential Press Service
Sollte es im Frühling eine Wahl geben, will Selenskyj wieder als Präsident kandidieren

Organisatorische und finanzielle Hürden

Laut Selenskyj brauchte es dafür aber neben Gesetzesänderungen und internationalen Wahlbeobachterinnen und -beobachtern auch finanzielle Unterstützung aus dem Ausland. Damit reagierte er auf eine Forderung von US-Senator Lindsey Graham bei einem Besuch in Kiew im August. Es sei klar, dass die Durchführung einer solchen Wahl herausfordernd sei, sagte dieser damals.

Er könne sich jedoch keine bessere Investition in die Stabilität Europas vorstellen, als der Ukraine zu helfen, „als unabhängige, selbst verwaltete und rechtsstaatliche Demokratie“ zu überleben. „Ich möchte alle Verbündeten der Ukraine dazu ermutigen, die finanzielle und technische Hilfe zu leisten, um diese Bemühungen zu unterstützen“, so Graham in einem Tweet.

Der Oppositionelle Dmytro Rasumkow, der 2019 als Selenskyjs Wahlkampfmanager tätig war, sagte jedoch gegenüber „Politico“, er sehe keine Möglichkeit, das Prozedere zu organisieren. Man wisse nicht, wie lange die Erstellung eines neuen Wählerverzeichnisses dauern werde. „Wo sind unsere Wähler, und wie soll dieser Prozess organisiert werden? In unserem Land ist ein großer Teil des Territoriums entweder besetzt, oder die Infrastruktur ist zerstört, es gibt keine Menschen“, sagte er. Onlinewahlen schloss Selenskyj bereits aus.

Debatte über demokratische Legitimität

Das Thema werfe darüber hinaus ernstzunehmende Fragen zur demokratischen Legitimität von Wahlen in Kriegszeiten auf und stelle ein „demokratisches Dilemma“ dar, schreibt „Politico“. So steige einerseits der Druck durch den Westen, sie abzuhalten. Andererseits gaben Wahlbeobachter, Analysten und Opposition zu bedenken, dass in der Ukraine unter den aktuellen Bedingungen kein freier, fairer und sicherer Wahlprozess garantiert werden könne.

„Das ist keine Frage der Demokratie“, sagte Selenskyj im September auf einer Konferenz in Kiew, „das ist ausschließlich eine Frage der Sicherheit.“ Das sehen seine politischen Mitstreiter jedoch anders, die etwa den ungleichen Zugang zu Medien in Kriegszeiten kritisieren. Die meisten von ihnen hätten sich seit der russischen Invasion mit übermäßiger Kritik an Selenskyj zurückgehalten. Die Aussicht auf eine mögliche Wahl sorge nun aber für ein Wiederaufleben alter politischer Auseinandersetzungen, so die „New York Times“ („NYT“).

Eine Petition, die sich gegen eine Wahl ausspricht, wurde bereits von 114 prominenten ukrainischen Aktivisten unterschrieben. „Bei Wahlen geht es um Redefreiheit, Freizügigkeit, keine Zensur, Kommunikation mit den Wählern, die Aktivitäten der politischen Parteien und so weiter“, sagte auch Olha Ajwasowska, Direktorin von der NGO OPORA, die Wahlen überwacht. All das könne in der „heißen Phase“ des Krieges nicht garantiert werden.

Der ehemalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko und Wolodymyr Selenskyj im April 2019
AP/Vadim Ghirda
Andere Voraussetzungen: Selenskyj mit seinem Herausforderer Petro Poroschenko bei der Präsidentschaftswahl 2019

Vor dem Hintergrund eines möglichen EU-Beitritts

Die Debatte über eine Wahl findet vor dem Hintergrund des zunehmenden Drucks auf die Ukraine statt, den westlichen Unterstützern zu zeigen, dass man jene gute Regierungsführung vorweisen könne, die Selenskyj seit Kriegsbeginn angepriesen hat, schreibt die „NYT“. Denn neben dem russischen Angriffskrieg hat das Land auch mit Korruption zu kämpfen.

Sie ist im ukrainischen Alltag fast allgegenwärtig und spielt zudem in vielen kriegsentscheidenden Bereichen eine Rolle. Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International landete die Ukraine 2022 auf Platz 116 von 180. Die Bekämpfung der Korruption ist unter anderem Voraussetzung für einen EU-Beitritt der Ukraine, der nach dem russischen Angriff der Status einer Beitrittskandidatin verliehen wurde.

Erst kürzlich sagte EU-Ratspräsident Charles Michel, dass die Ukraine zwar schon 2030 der EU angehören könne, Voraussetzung sei aber, dass beide Seiten ihre Hausaufgaben machen, sagte der Belgier dem „Spiegel“. Kiew bekomme dabei keinen politischen Rabatt, betonte er, sondern müsse sich weiter reformieren und die sieben Voraussetzungen der EU-Kommission erfüllen.

Zuspruch für Selenskyj

In Umfragen über das Vertrauen der Ukrainer in ihre Politiker erzielt Selenskyj jedenfalls gute Ergebnisse. Eine kürzlich von der überparteilichen Forschungsgruppe „Vereinigte Ukraine“ durchgeführte Umfrage ergab, dass ihm 91 Prozent der Ukrainer vertrauen. 87 Prozent vertrauen dem Kommandeur seiner Armee, General Walerij Saluschnyj, und 81 Prozent Serhij Prytula, einem Oppositionellen, der wie Selenskyj aus der ukrainischen Unterhaltungsbranche kommt.

„Der erste Schritt ist der Sieg, der zweite Schritt ist alles andere“, zitierte die „NYT“ den Oppositionellen Prytula. Er konzentriere sich ausschließlich darauf, die Ukrainer hinter den Kriegsanstrengungen zu vereinen. Jetzt eine Wahl abzuhalten sei sinnlos, da Selenskyj mit ziemlicher Sicherheit gewinnen werde. „Er ist die Nummer eins“, sagte er. „Unsere Gesellschaft unterstützt ihn.“

Allerdings dürfe man künftig auch die Militärveteranen nicht unterschätzen, so die Prognose der „NYT“. Sowohl als Wählerinnen und Wähler, als auch als Kandidierende könnten sie die derzeitige politische Klasse herausfordern. Die Abhaltung von Wahlen vor dem Ende des Krieges könnte den Parteien, einschließlich der von Selenskyj, Sitze im Parlament sichern, während die Soldaten noch im Militärdienst sind und nicht für ein Amt kandidieren können.