Rettungstrupp der Operation „Mare Nostrum“ bei der Rettung von Migranten auf See
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Zehn Jahre „Mare Nostrum“

Roms „einzigartige“ Mittelmeer-Mission

Vor zehn Jahren hat Italien die Rettung von Geflüchteten auf hoher See zur Tugend gemacht: In Reaktion auf zwei tödliche Bootsunglücke rief Rom am 18. Oktober 2013 die Marineoperation „Mare Nostrum“ (Unser Meer) ins Leben. 150.000 Menschen wurden bis zu ihrem Ende im Herbst 2014 vor dem Ertrinken bewahrt – für Fachleute eine bis dato „einzigartige“ Mission. Seither vollzog sich in der italienischen Migrationspolitik ein Kurswechsel. Seenotrettung wurde zum Schmähwort.

„Ich habe Dutzende von Leichen gesehen, eine horrende Szene, die ganz Europa und den ganzen Westen demütigt. Ich hoffe, dass Europa nach dieser Tragödie endlich die Augen öffnet“, sagte der frühere Innenminister Angelino Alfano am 3. Oktober 2013. An jenem Tag waren 366 geflüchtete Menschen unmittelbar vor der Mittelmeer-Insel Lampedusa ertrunken. Wenige Tage später folgte ein weiteres tödliches Bootsunglück. Durch Europa ging ein Aufschrei – Italien reagierte.

Von 18. Oktober an setzte es im Zuge der „Mare Nostrum“-Operation Marine und Küstenwache ein. „Damit wollen wir Menschenleben im Mittelmeer retten, das zu einem Massengrab geworden ist“, erklärte der italienische Premier Enrico Letta von der Mitte-links-Partei Partito Democratico (PD). Auch gegen den Menschenhandel wollte Italien mit der Mission in internationalen Gewässern vorgehen.

Überlebende des Schiffsunglücks vor Lampedusa am 03.10.2023
APA/AFP/Health Agency Of Palermo/Nino Randazzo
Das Bootsunglück vom 3. Oktober 2013 sorgte für einen europäischen Aufschrei

Italienische Mission „einzigartig“

Die Operation sei ein „Zeichen für eine humanitärere Migrationspolitik“ gewesen, sagt Migrationsforscher Florian Trauner (Vrije Universiteit Brussel) zur ORF.at. Als „einzigartig“ wird sie von Christopher Hein, Professor für den Bereich Migration und Asyl an der Luiss-Universität in Rom, gegenüber ORF.at bezeichnet.

Bis heute sei die Aktion in Europa auch einzigartig geblieben, hält er fest. Hein leitete damals den italienischen Flüchtlingsrat und trat zu jener Zeit für eine Fortsetzung der Operation ein. Doch dazu kam es nicht, vielmehr endete „Mare Nostrum“ nach nur einem Jahr am 31. Oktober 2014. Die Operation sei damals „ganz klar auf Druck der anderen Mitgliedsstaaten der EU, indirekt (auch auf Druck, Anm.) der EU-Kommission“ zu Ende gegangen, sagt Hein.

Hohe Kosten und hoher Druck

Zum einen mangelte es in Italien an finanziellen Mitteln. Rund neun Millionen Euro kostete die Mission den EU-Mitgliedsstaat pro Monat. Die von der Nachfolgeregierung unter Matteo Renzi (PD) geäußerten Bitten nach finanzieller Unterstützung blieben in Europa ungehört.

Das hatte Gründe. Denn zum anderen entzündete sich an der Rettung der vielen Menschen Kritik innerhalb und außerhalb Italiens: Die Rettungsaktion würde den Menschenhandel über das Mittelmeer fördern, argumentierte die rechtspopulistische Lega Nord. Schlepper würden die Mission ausnützen, und seeuntüchtige Boote bewusst mit „weniger Lebensmitteln, Wasser und Benzin“ ausstatten, so Ex-Frontex-Chef Gil Arias-Fernandez. Einige EU-Staaten warfen Rom vor, Flüchtlinge unregistriert weiterreisen zu lassen. Nach dem Dublin-System ist das Land der Erstaufnahme für Asylverfahren zuständig.

Seenotrettungszonen

Die Weltmeere sind in Seenotrettungszonen unterteilt. Wenn Menschen in der Zone eines Staates gerettet werden, ist dieser Staat für die weitere Koordinierung der Rettung und die sichere Ausschiffung der Geretteten zuständig.

Europas Folgeoperationen

Die EU-Kommission schien die Kritik in der Folge zu berücksichtigen. Innenkommissarin Caecilia Malmström versprach Italien, dessen Küstengebiete nach dem Aus von „Mare Nostrum“ mit der Mission „Triton“ unter Leitung der EU-Grenzschutzagentur Frontex zwar zu unterstützen, aber nicht zu ersetzen.

Oberstes Ziel war die Überwachung der Grenzen. Dafür stand ein Drittel der Mittel von „Mare Nostrum“ zur Verfügung. Ähnliches galt für nachfolgende EU-Operationen. Diese hätten zwar aufgrund völkerrechtlicher Bestimmungen viele Menschenleben gerettet, Seenotrettung sei aber „ganz klar kein operatives Ziel“ gewesen, sagte Hein. Jene Lücke, die „Mare Nostrum“ hinterließ, versuchten zivile Seenotretter fortan zu füllen.

Umbruch nach Flüchtlingskrise

Das Sterben im Mittelmeer ging weiter. Noch im April 2015 hatte der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das Aus von „Mare Nostrum“ als „gravierenden Fehler“ bezeichnet. Die Mission „Triton“ wurde zumindest kurz ausgeweitet. Die politische Gemengelage änderte sich allerdings mit der Flüchtlingskrise im Sommer 2015 und dem darauffolgenden Jahr 2016.

Länder wie Österreich führten wieder Kontrollen an der Grenze zu Italien ein, die Aufnahmekapazitäten der italienischen Gemeinden waren ausgeschöpft. Pläne zur Umverteilung von Geflüchteten scheiterten weitgehend – bis heute.

Libyen-Deal und Druck auf Seenotretter

Die Situation führte zu einem Umbruch in der italienischen Migrationspolitik und in Ermangelung einer europäischen Lösung zu einer sich verfestigenden Ohnmacht der EU. Dem italienischen Ministerpräsidenten Renzi, der sich lange Zeit für die Rettung Geflüchteter einsetzte, wurde vorgeworfen, sich an die Migrationspolitik der Lega Nord anzunähern.

Paolo Gentiloni, der 2016 in Renzis Fußstapfen trat, kooperierte ab 2017 mit Libyen und verschärfte den Kurs gegen zivile Seenotretter. Organisationen wie MOAS, SOS Mediterranee und Sea-Eye wurden dazu gedrängt, einen Verhaltenskodex zu unterzeichnen. Libyen – das Geflüchtete gegen Geld von der Überfahrt nach Europa abhalten sollte – wurde in den Jahren darauf vorgeworfen, Asylsuchende zu misshandeln und zu foltern. Zumindest zwischenzeitlich war der Deal für Italien aber von Erfolg: Die Zahl der Flüchtlingsankünfte brach ein.

Italienischer Ex-Ministerpräsident Genitoni und libyscher Ex-Premier Fayiz as-Sarradsch
Reuters/Tony Gentile
Libyens früherer Premier Fajis as-Sarradsch mit seinem italienischen Gegenüber Paolo Gentiloni im Jahr 2017

Melonis rigoroser Kurs gegen zivile Seenotretter

In einer im Sommer 2023 im renommierten Fachmagazin „Nature“ erschienenen Studie wird vermerkt, dass sich in jener Periode eine „Verlagerung des politischen Schwerpunkts von der Rettung von Geflüchteten in Seenot hin zur Priorisierung der Strafverfolgung im Zusammenhang mit der Abschreckung irregulärer Migration“ vollzog. Das reiche bis hin zur „Kriminalisierung von NGOs“, die in Debatten beschuldigt werden, einen „Pull-Faktor“ dazustellen.

Der damalige Innenminister Matteo Salvini (Lega Nord) bemühte jenen Vorwurf gebetsmühlenartig. Unter der aktuellen italienischen Ministerpräsidentin, der Postfaschistin Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia), wurde nicht nur ein Abkommen mit Tunesien forciert, sondern auch das rigorose Vorgehen gegen Seenotretter nochmals verschärft. Im Februar verabschiedete ihr Kabinett ein Dekret, das Rettungsschiffe unter anderem zwingt, nicht den nächstsicheren Hafen anzusteuern, sondern den, den Italien ihnen zuweist. So sollen NGO-Schiffe gezielt vom Einsatzgebiet ferngehalten werden.

Meloni ließ zuletzt auch mit der Forderung aufhorchen, dass Herkunftsländer von Rettungsschiffen im Mittelmeer gerettete Menschen aufnehmen sollen. Besonders scharf kritisierte Meloni die deutsche Regierung, der sie vorwarf, mehrere zivile Seenotretter im Mittelmeer zu finanzieren. Das sorgte für diplomatischen Verstimmungen. Zivile Seenotretter beklagten indes die zunehmende Kriminalisierung humanitärer Arbeit.

Kritik an Pull-Faktor-These

Das vielfach vorgebrachte Argument, dass Seenotrettung ein Geschäftsmodell für Schlepper darstelle, sei nur auf den ersten Blick ein „einleuchtendes Argument, hält aber dem empirischen Nachweis nicht stand“, erklärt Migrationsexperte Hein. „Das ist so, als ob man sagt: ‚Dadurch, dass es Rettungswagen gibt, gibt es mehr Verkehrsunfälle‘“, sagt Hein. Es handle sich um eine „politisch sehr vereinfachte Darstellung von Migrationsentscheidungen“, stimmt Trauner zu.

Die These, wonach Seenotretter Menschen zur Flucht animierten, sei empirisch nicht belegbar, heißt es in der bereits erwähnten „Nature“-Studie. Bedeutende Fluchtfaktoren seien den Fachleuten zufolge vielmehr die Zunahme von Konflikten in Herkunftsländern, Naturkatastrophen sowie Armut. Untersucht wurden Daten rund um Fluchtbewegungen von 2011 bis 2020 – mehr dazu in science.ORF.at.

Trauner verweist darüber hinaus auf eigene Untersuchungen, wonach Menschen das Risiko, bei der Überfahrt nach Europa zu sterben, sogar überschätzten – sich aber dennoch nicht davon abbringen ließen, in seeuntüchtige Boote zu steigen. Melonis Migrationspolitik war bisher jedenfalls noch nicht von Erfolg gekrönt: Laut der Regierung in Rom sind seit Jahresbeginn fast 140.000 Migranten nach Italien gekommen, das sind beinahe doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum.

Kommissionspräsidentin Von der Leyen und italienische Premierministerin Meloni
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Von der Leyen sprach sich bei einem Treffen mit Meloni auf Lampedusa für eine „europäische Lösung“ aus

„Symbol eines politischen Versagens“

„Wir hätten die Katastrophe vor zehn Jahren nutzen können, um eine wirklich umfassende, solidarische Antwort auf das Sterben im Mittelmeer zu finden“, sagte die frühere EU-Kommissarin Malmström in einem aktuellen „Zeit“-Interview. „Doch Lampedusa wurde zum Symbol eines politischen Versagens.“ In Zahlen gegossen bedeutet das laut Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) rund 28.200 Tote im Mittelmeer seit 2014.

Die Bewohnerinnen und Bewohner Lampedusas fühlen sich im Stich gelassen – ein Erstaufnahmezentrum für Geflüchtete war zuletzt immer wieder überfüllt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte Italien bei einem Besuch der Insel im September Unterstützung zu.

Ein präsentierter Zehnpunkteplan listet bereits bekannte Maßnahmen auf: Die EU wolle verstärkt Verhandlungen mit den Herkunftsländern führen, den Kampf gegen die Schlepperei mit Hilfe von Tunesien verstärken, die Luftüberwachung aufstocken und Italien bei der Zerstörung von „Migrantenbooten“ unterstützen. Auch von legalen Einwanderungswegen ist die Rede.

Einzelne Rufe nach europäischem „Mare Nostrum“

Inwieweit die Ankündigungen umgesetzt werden und wie effektiv diese sein können, wird sich weisen. Dass der Asyl- und Migrationspakt – an dem in der EU seit Jahren gefeilt wird – die dringlichsten Probleme lösen kann, glauben Fachleute wie Hein oder Trauner nicht. In und außerhalb Italiens gibt es nach wie vor einzelne Stimmen, die sich für eine europäische „Mare Nostrum“-Aktion einsetzen, darunter die aktuelle PD-Parteichefin Elly Schlein.

Der Forderung schließt sich Hein an: „Solange es die Notwendigkeit gibt, sich auf Schiffe zu begeben, um überhaupt in Europa anzukommen, weil es dazu keine Alternative gibt, sage ich: Ja, es muss eine europäische, konzertierte, gut ausgestattete Seenotrettungsoperation geben.“ Ein breites Interesse an derlei Mission ortet Trauner aktuell allerdings weder bei Bevölkerung noch politischen Parteien.