Debbie und Shlomi Mathias
AP/Eran Shani
Hamas-Angriff

Mit Mut Leben gerettet

Eine Woche ist der Angriff der Hamas auf Israel von bisher nie da gewesenem Ausmaß mittlerweile her. Noch immer ist die Tragödie mit mehr als 1.300 Toten und Hunderten Geiseln und Vermissten nicht völlig überblickbar – und im ganzen Land finden Begräbnisse der Opfer und gefallenen Soldaten statt. Nun wird aber auch bekannt, wie Israelis in den Stunden der Not, als Staat und Sicherheitskräfte versagten, durch ihren entschlossenen, mutigen und bedingungslosen Einsatz viele Menschen retteten – auch um den Preis des eigenen Lebens.

Die 48-jährige Tali Chadad aus der 30.000-Einwohner-Stadt Ofakim rettete am Sabbat, als der Großangriff der Hamas begann, zwölf Verletzte vor den Angreifern. Zunächst ihren Sohn Itamar, der als Erster in ihrem Viertel auf die Straße gelaufen war und sich den Angreifern mit einer Pistole entgegenstellte. Er wurde angeschossen. Tali brachte ihn zur Rettungsstation – kehrte dann aber zurück, um elf weitere Verletzte mit dem Auto aus der Kampfzone zur retten. Dreimal sei sie mit ihrem Auto zurückgefahren, um weitere Menschen unter Beschuss zu helfen, erzählte sie im Interview mit dem öffentlich-rechtlichen TV-Sender Kan.

Dabei sei sie mit 120 km/h durch die Stadt gerast, damit die Hamas-Kämpfer sie möglichst nicht treffen würden. Erst nach diesen Rettungsaktionen fuhr sie zu ihrem mittlerweile im Tel Aviver Spital Soroka eingelieferten Sohn. Ihrem Sohn habe sie während dessen Armeezeit immer gesagt: Sollte er in Gefahr geraten, werde sie kommen und ihn retten, und wenn es in Dschenin (palästinensische Stadt im Westjordanland, Anm.) sei. „Und dann passierte es neben unserem Haus“ – mitten in Israel.

Eltern sterben bei Verteidigung ihres Sohnes

Wenige Tage zuvor hatten Schlomi und Debbie Mathias sowie ihr Sohn Rotem und Verwandte den 50. Geburtstag Debbies besungen und gefeiert. Am Tag des Angriffs versuchten sie die in ihr Haus im Kibbuz eingedrungenen Terroristen abzuwehren und ermöglichten es auf diese Weise dem 16-jährigen Rotem zu überleben. Schlomi sei sein Arm weggeschossen worden, als er eine Tür zuhielt, um seiner Familie die Flucht zu ermöglichen, und er verblutete, schilderte Rotem Tage später das Erlebte. Seine Mutter Debbie habe ihn angeschrien, er solle sich auf den Boden werfen, unmittelbar danach sei sie tödlich von einer Kugel im Kopf getroffen worden. Ihr Sohn verharrte rund eine halbe Stunde unter der Leiche seiner Mutter.

Debbie und Shlomi Mathias
AP/Eran Shani
Mitten aus dem Leben gerissen: Schlomi Mathias singt seiner Frau Debbie nur wenige Tage vor der Ermordung ein Geburtstagsständchen

Als die Terroristen sich weiterbewegten, rettete er sich nach eigenen Angaben zunächst unter ein Bett, später flüchtete er weiter ins Badezimmer, wo der selbst auch verwundete Rotem schließlich nach mehr als zehn Stunden von Soldaten gerettet wurde. Verwandte hatten zuvor die ganze Zeit über Kontakt mit ihm via Telefon gehalten, um ihm Mut zuzusprechen. Er habe nach der Ermordung seiner Eltern traumatische Stunden allein durchgemacht und nicht gewusst, ob er überleben werde, so Rotems Tante, die ihm mit ihrem Wissen als Psychoanalytikerin aus der Ferne beistand.

„Helden“ im Kibbuz Be’eri

Auch im Kibbuz Be’eri, einem der Orte mit den meisten Toten und schlimmsten Hamas-Gräueln, gab es „Helden“, wie die aufgrund der fehlenden Sicherheitskräfte kurzerhand selbst agierenden Israelis von ihren Landsleuten genannt werden. Der Kibbuznik Joab und drei seiner Armeefreunde, die allesamt nicht im Dienst waren, retteten viele Bewohner ihres Kibbuz und lieferten sich Gefechte mit Hamas-Angreifern. Acht von insgesamt 103 töteten sie im Verlauf der sich über den ganzen Tag hinziehenden Konfrontation.

Die Ereignisse schilderte Joabs Vater Gil den israelischen Medien. Joab selbst sei noch unter Schock und werde psychologisch versorgt, so der Vater. Laut Gil waren die vier Männer zuvor gemeinsam auf dem Musikfestival Nova, auf dem die Hamas ein Massaker anrichtete. Anders als Hunderten anderen gelang ihnen die Flucht und sie eilten in den Kibbuz.

Dort waren die Terroristen bereits dabei, Bewohnerinnen und Bewohner zu ermorden oder aus ihren Häusern zu holen und im Speisesaal zusammenzutreiben. Die vier Kämpfer und vier weitere Kibbuznikim, die alle nur leicht bewaffnet waren, nutzten die Zeit, in der die Terroristen nicht zu sehen waren, und brachten Bewohner im Schutzraum eines der Häuser, das sie verteidigten, in Sicherheit. Dazwischen lieferten sie sich immer wieder Schusswechsel mit der Hamas. Bis spätabends kämpften Joab und seine Freunde mit Unterstützung der Armee gegen die Angreifer weiter.

Freunde mit eigenem Leben verteidigt

Diese Ereignisse und der waghalsig-selbstlose Einsatz gerade auch vieler ganz junger Israelis wird nun erst langsam bekannt. Am Freitag fand das Begräbnis von Matan Abragil statt. Er bezahlte mit seinem Leben, als er im Kibbuz Nir Am mit Kameraden in einem gepanzerten Fahrzeug fuhr und die Angreifer eine Handgranate ins Fahrzeug schleuderten. Er habe sich auf die Granate geworfen und damit das Leben aller anderen gerettet, schilderte einer seiner Freunde das Geschehen beim Begräbnis.

„Verdammtes Festival“

Der „Haaretz“-Journalist Nir Gontarz wiederum schilderte die traumatischen Stunden, die sein Sohn Amir – und er mit ihm via Telefon – erlebte. Samstagfrüh, als Luftalarm in Tel Aviv ausgelöst worden war, habe er sofort seinen Sohn angerufen, der sich auf dem „verdammten Festival“ befand. „Sie schießen auf mich, sie schießen auf uns“, schrie dieser. „Ich komme, ich komme“, habe er ihm geantwortet, habe sich das Auto seiner Nachbarn genommen und sei mit 160 km/h über alle rote Ampeln fahrend in Richtung Süden gerast. Unterwegs habe er immer wieder kurz mit seinem Sohn telefoniert, um Genaueres zu erfahren – noch ohne überhaupt das Ausmaß des Großangriffes der Hamas zu kennen.

Väterliches Vertrauen

Als sein Sohn ihn in einer Gruppe von den Angreifern davonlaufend fragte, was er tun solle, habe er ihm geantwortet, er verstehe noch immer nicht, was genau passiere und könne ihm daher nicht raten, was er machen solle. Aber er habe zu seinem Sohn gesagt, er kenne ihn und vertraue ihm völlig und er solle seinem Bauchgefühl vertrauen. Nahe der Grenze zum Gazastreifen wurde Gontarz von einer Militärsperre aufgehalten und musste unverrichteter Dinge umkehren.

Während er Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um Hilfe für Amir zu organisieren, telefonierte er immer wieder mit seinem Sohn, dem er – ohne zu wissen, ob es letztlich die richtige Entscheidung sein würde – davon abriet, wie der Rest der Fluchtgruppe von einer Obstplantage zum nächstgelegenen Ort zu laufen. Zu zweit blieben Amir und ein Freund zurück und stellten sich stundenlang tot, während auch der Vater die Angreifer via Telefon im Hintergrund durch die Obstplantage stürmen hörte.

Milizoffizier Jair Golan
AP/Tsafrir Abayov
Jair Golan im Jahr 2022, damals Vizewirtschaftsminister für die Linkspartei Meretz

„Ich bring’ ihn dir“

Gontarz rief schließlich Jair Golan an, ein Milizoffizier im Generalsrang. Dieser hatte sich in Uniform geworfen, sein Gewehr gepackt und war auf eigene Faust ins Kampfgebiet gefahren, um dort Menschen zu retten. Als er Golan erreichte, habe ihm dieser nur gesagt: „Schick’ mir seine Lagedaten, und ich bring’ ihn dir.“ Etwa eine Stunde später erhielt Gontarz eine Nachricht von Golan: „Die Verbindung ist noch schwach. Keine Angst.“ Fünf Minuten später habe er bereits mit seinem Sohn telefonieren können, der gemeinsam mit seinem Freund im Auto Golans saß, der sie in Sicherheit brachte – um selbst zurückzukehren und weitere Menschenleben zu retten.

Blitzschnelle, lebensrettende Bauchreaktion

Als Heldin wird auch die 25-jährige Inbal Lieberman vom Kibbuz Nir Am gefeiert. Der schnellen und entschlossenen Reaktion der Sicherheitsbeauftragten des Kibbuz verdankt es dieser laut israelischen Medienberichten, dass es nicht zu einem ähnlichen Massaker wie in Kfar Asa und Be’eri kam.

Nach dem ersten Raketenalarm und Nachrichten, dass Hamas-Kämpfer in israelisches Gebiet eingedrungen waren, alarmierte sie sofort die kleine kibbuzinterne Sicherheitsgruppe, teilte an deren Mitglieder die wenigen vorhandenen Waffen aus und postierte sie entlang des den Kibbuz umgebenden Zauns. Sie tat das, obwohl sie die Anweisung hatte, die Waffen nicht zu verteilen. Die anderen Kibbuzbewohner alarmierte sie ebenfalls und half ihnen so, sich rechtzeitig in den Sicherheitsräumen zu verschanzen.

Lieberman selbst sieht sich nicht als Heldin. Nachdem einige offenbar falsche Informationen – laut „Haaretz“ wurde ein Hamas-Angreifer getötet, nicht 25, wie in sozialen Netzwerken behauptet – zu kursieren begannen, zieht sie es vorerst vor, zu schweigen. Egal, wie viele Hamas-Kämpfer getötet wurden: Fest steht, dass aufgrund ihrer raschen Reaktion der Kibbuz keine Verluste erlitt. Für Israelis ist sie jedenfalls eine Heldin, wie ihr das auch der Tel Aviver Bürgermeister Ron Chuldai bei einem persönlichen Treffen und in einem Posting bescheinigte.

Gastrecht für Terroristen

In die Kategorie ungewöhnliches Heldentum fällt die Geschichte von Rachel Edri aus Ofakim. Hamas-Angreifer stürmten Samstagfrüh ihr Wohnhaus. Es gelang ihr noch, ihren Sohn, einen Polizisten, anzurufen und um Hilfe zu bitten, dann klopften sie bereits an ihrer Tür. Sie habe sie aufgenommen – „als Gäste, nicht als Terroristen“, erzählte sie dem TV-Sender Kan später. „Denn jeder, der kommt, für den gilt das Gastrecht. Das ist heilig“, so Edri.

Den ganzen Tag über verschanzten sich die fünf Angreifer in der Wohnung. Sie habe sie mit Kaffee und Keksen bewirtet. Zu einem habe sie gesagt: „Mein Lieber, du siehst blass aus, du musst etwas essen“, und kochte ihm etwas. Sie habe mit ihnen gewitzelt, sie könne ihnen ja Hebräisch beibringen und sie ihr Arabisch. Sie habe immer wieder überlegt, was ihr noch einfalle, um sie zu unterhalten, bis endlich eine Spezialeinheit eintraf, die in den Abendstunden die Wohnung stürmte und sie und ihren Mann schließlich befreite. Mittlerweile ist Edri wegen ihres gewitzten und furchtlosen Umgangs mit den Terroristen zu einem Meme geworden, und es gibt sogar Kekse, die nach ihr benannt wurden.

Verschüttete Verbundenheit

So tödlich und tragisch der Überfall der Hamas für Israelis ist, bestärken gerade das entschlossene, mutige Handeln Einzelner mit dem einzigen Ziel, Landsleute zu retten, sowie die Welle der Hilfsbereitschaft, die derzeit durch das Land geht, ein Gefühl, das in Israel so spürbar ist, wie in kaum einem anderen Land.

Und ein Gefühl, das seit Antritt der Rechtsregierung und der tiefen gesellschaftlichen und politischen Spaltung verschüttet war: jenes des schicksalhaften Zusammengehörens und der Verbundenheit – gespeist aus der langen Verfolgungsgeschichte, der Schoah und dem ständigen gemeinsamen Kampf um Lebens- und Existenzrecht angesichts von Feinden wie Hamas und Iran, die Israelis genau dieses absprechen.