Palästinenser fliehen aus Gaza
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Hunderttausende folgen Aufruf

Massenflucht vor Gaza-Bodenoffensive

Angesichts der mittlerweile von Israel selbst angekündigten Bodenoffensive gegen die Hamas im Gazastreifen sind Hunderttausende Menschen Richtung Süden des Küstenstreifens geflohen. Hinter der Fluchtbewegung steht der Aufruf Israels, den nördlichen Teil des Gazastreifens zu verlassen. Israel kündigte am Samstag als „nächste Phase“ einen „integrierten und koordinierten Angriff aus der Luft, vom Meer und dem Land“ an, wobei sich dieser wohl auf den Norden des Gazastreifens konzentrieren dürfte.

Nach Darstellung des israelischen Militärs haben sich bis Sonntagabend mehr als 600.000 Bewohnerinnen und Bewohner des nördlichen Gazastreifens auf den Weg nach Süden gemacht. Die Evakuierungen gingen weiter, teilte die Armee am Abend mit. Israel bestätigte in diesem Zusammenhang US-Angaben, wonach die Wasserleitungen im südlichen Gazastreifen wieder in Betrieb genommen worden seien.

Das werde dazu beitragen, dass die Zivilbevölkerung wie von der Armee gewünscht den Norden der Küstenenklave räumt und sich in den Süden bewegt, schrieb der israelische Energieminister Israel Katz dazu auf Twitter (X). Israels Militär könne so die Zerstörung der Infrastruktur der islamistischen Hamas im Norden des Gazastreifens intensivieren, so Katz.

Ein israelischer Armeesprecher erklärte zudem, dass nicht – wie in einem Medienbericht in den Raum gestellt – ungünstiges Wetter hinter der Verschiebung der Bodenoffensive im Gazastreifen stehe. Gegenüber der ARD deutete Arie Scharus Schalicar vielmehr an, dass noch mehr palästinensische Zivilisten den Süden des Gazastreifens erreichen sollten, damit sie bei einer Bodenoffensive im Norden des Küstenstreifens nicht in Gefahr geraten – und das einer der Hauptgründe der Verschiebung sei.

Diplomatischen Tauziehen um Rafah-Öffnung

Israel hatte die Grundversorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen bisher an die Freilassung der israelischen Geiseln in Hand der Terrororganisation geknüpft. Die Vereinten Nationen forderten Israel jedoch dazu auf, die Versorgung der Menschen in dem abgeriegelten Gebiet mit Nahrung, Wasser, Medikamenten und Treibstoff zuzulassen.

Die US-Regierung hatte sich in den vergangenen Tagen für den Schutz der Zivilbevölkerung im Palästinensergebiet starkgemacht. „Wir stehen für den Schutz der Zivilbevölkerung, und wir wollen sicherstellen, dass unschuldige Palästinenser, die nichts mit der Hamas zu tun haben, in sichere Gebiete gelangen können, wo sie vor Bombardierungen geschützt sind und Zugang zu lebensnotwendigen Dingen wie Nahrung, Wasser, Unterkunft und Medizin haben“, sagte der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am Sonntag im US-Fernsehen.

Gaza: Humanitäre Lage verschlechtert sich

Hunderttausende Menschen sind zuletzt vom Norden des Gazastreifens in den Süden des Küstengebiets geflohen. Und zumindest dort dürfte nun die Wasserversorgung wieder in Teilen funktionieren. In Israel wird um die Opfer des Hamas-Angriffs getrauert.

Im Fokus der diplomatischen Bemühungen stand in diesem Zusammenhang zuletzt auch der Grenzübergang Rafah, der Ägypten mit dem Gazastreifen verbindet. US-Außenminister Antony Blinken kündigte am Sonntag eine bevorstehende Öffnung an. Bereits am Montag könnten ausländische Staatsangehörige womöglich den Gazastreifen verlassen, wie am Sonntag auch mit der Sache vertraute ägyptische Kreise nahelegten. Betroffen sind um die 1.000 Personen – darunter laut Außenministerium auch rund drei Dutzend Österreicherinnen und Österreicher.

Grafik zur Lage im Gazastreifen
Grafik: APA/ORF; Quelle: OCHA

Auf Einreise wartende Hilfskonvois

Im Raum steht auch eine baldige Öffnung des Grenzübergangs für Hilfsgüter. Auf ägyptischer Seite warten seit Tagen zahllose mit Hilfsgütern beladene Lkws auf Einreise – gleichzeitig wird die Lage für die Bevölkerung im Gazastreifen immer prekärer. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) warnte am Sonntag vor ausgehenden Vorräten.

Etliche Geschäfte und Betriebe mussten den Angaben zufolge schließen, nachdem es im Gazastreifen keinen Strom mehr gibt. Neben Energie fehle es etwa Bäckereien auch an Wasser und Mehl. „Wir konnten bisher 520.000 Menschen in Gaza helfen, aber uns gehen die Vorräte aus, wir können nichts hinein- oder hinausbringen und wir können die Sicherheit unserer Mitarbeiter nicht garantieren“, wie WFP-Geschäftsführerin Cindy McCain laut CNN sagte.

Das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) schätzt die Zahl der im Gazastreifen vertriebenen Menschen indes mittlerweile auf rund eine Million. Die tatsächliche Zahl der Binnenvertriebenen liege wahrscheinlich noch höher, so UNRWA, wo die Lage im Gazastreifen gleichzeitig als „beispiellose menschliche Katastrophe“ bezeichnet wurde.

Cupal (ORF) zur verschobenen Bodenoffensive

ORF-Korrespondent Tim Cupal berichtet unter anderem darüber, warum die Bodenoffensive Israels verschoben worden sein könnte.

Deutliche Worte von UNO-Chef Guterres

Deutliche Worte kamen am Sonntag auch vom Chef des UNO-Büros für humanitäre Angelegenheiten (OCHA), Martin Griffiths. Wie dieser via Twitter (X) mitteilte, schwebe über Gaza das „Gespenst des Todes“. Ohne Wasser, Strom, Nahrung und Medizin werden Griffiths Worten zufolge „schlicht und einfach“ Tausende sterben. Griffiths warnte bereits am Vortag davor, dass die humanitäre Situation im Gazastreifen, „die bereits kritisch ist, schnell unhaltbar“ werden könnte.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres appellierte zudem an die Hamas und an Israel, dass Geiseln und humanitäre Hilfe nicht als Verhandlungsmasse benutzt werden dürften. Von der Hamas forderte der UNO-Chef die unverzügliche und bedingungslose Freilassung der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln. Israel müsse indes schnell und ohne Unterbrechung humanitäre Hilfe und Hilfsorganisationen in den Gazastreifen lassen.

Reaktion auf Hamas-Massaker

Die israelische Armee hatte die Zivilisten im Norden des Gazastreifens am Freitag in der Früh zur Flucht aufgerufen. Die Armee sicherte am Sonntag erneut zu, in einem Zeitraum von drei Stunden keine Angriffe auf eine Route aus dem Norden des Gazastreifens zu verüben, damit sich die Einwohner im Süden des Palästinensergebietes in Sicherheit bringen könnten. Israel wirft der Hamas vor, die Flucht der Zivilisten zu blockieren, um sie als „menschliche Schutzschilde“ zu benutzen.

Die Terrororganisation hatte am Samstag vergangener Woche einen Großangriff auf Israel gestartet. Sie feuerte Tausende Raketen ab und drang mit Hunderten Kämpfern nach Israel ein. Auf israelischer Seite wurden nach Angaben vom Sonntag mehr als 1.400 Menschen getötet.

Als Reaktion nahm die israelische Armee den Gazastreifen unter Dauerbeschuss und riegelte das Palästinensergebiet vollständig ab. Die Einfuhr von Treibstoff, Lebensmitteln und Trinkwasser wurde gestoppt. Nach palästinensischen Angaben wurden in dem Küstenstreifen seither mehr als 2.760 Menschen getötet und mehr als 9.600 verletzt. Vonseiten des palästinensischen Katastrophenschutzes im Gazastreifen werden mehr als 1.000 Menschen unter den Trümmern zerstörter Gebäude vermisst.

USA befürchten direktes Eingreifen des Iran

Auch an der Grenze zum Libanon stehen die Zeichen indes weiter auf Eskalation. Zuletzt gab es zwischen der vom Iran unterstützten Hisbollah-Miliz und israelischen Streitkräften verstärkt Gefechte. Die USA befürchten nach Angaben des Weißen Hauses eine weitere Eskalation und in diesem Zusammenhang auch ein direktes Eingreifen des Iran.

Der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jake Sullivan, sprach im US-Sender CBS am Sonntag über eine mögliche neue Front an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon und fügte hinzu: „Wir können nicht ausschließen, dass der Iran sich auf irgendeine Weise direkt einmischen wird.“

„Widerstandsfront kann sich selbst verteidigen“

Die israelische Armee hat eigenen Angaben zufolge am Sonntagabend erneut Ziele der Hisbollah im Libanon attackiert. Stunden zuvor hatte die proiranische Hisbollah-Miliz Ziele im Nachbarland angegriffen. Die Raketenabschüsse auf Israel seien „eine Warnung“ und „eine Vergeltung für israelische Aktionen“, hieß es aus Kreisen, die der Schiitenorganisation nahe stehen. Es bedeute aber nicht, dass die Hisbollah in den Konflikt eingestiegen sei.

Die Regierung in Teheran würde nach eigener Darstellung nur dann militärisch gegen Israel vorgehen, wenn das Land „den Iran, dessen Interessen und Bürger“ angreift. „Die Widerstandsfront kann sich selbst verteidigen“, heißt es Reuters-Angaben zufolge von der iranischen UNO-Vertretung am UNO-Hauptsitz in New York.