Antony Blinken vor Journalisten
Reuters
Krisendiplomatie

Herkulesaufgabe für Blinken in Nahost

Seit Tagen befindet sich US-Außenminister Antony Blinken in Sachen Krisendiplomatie in Nahost. Für Beobachter ist es ein mehrfacher Spagat und eine Herkulesaufgabe: Er sicherte Israel Unterstützung zu, drängt aber darauf, bei der angekündigten Bodenoffensive Zivilisten so weit wie möglich zu schonen. Die arabischen Verbündeten versuchte er einigermaßen zu bremsen. Und vor allem will er die Hisbollah im Libanon und den Iran von einer Einmischung abzuhalten. Zumindest erste Erfolge kann er verbuchen.

Bei seiner Ankunft in Israel am Donnerstag bekräftigte Blinken, dass sein Land Israel „immer“ unterstützen werde. „Wir werden immer an Ihrer Seite stehen“, sagte der US-Chefdiplomat nach einem Treffen mit dem israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu in Tel Aviv.

Gleichzeitig sprach Blinken aber auch die humanitäre Lage in Gaza an: Man habe sich darüber unterhalten, wie die „humanitären Bedürfnisse der in Gaza lebenden Menschen“ geschützt werden könnten, „während Israel seine legitimen Sicherheitsoperationen durchführt“. Auch über Möglichkeiten, wie Zivilisten Gaza sicher verlassen könnten, sei gesprochen worden, so Blinken.

Bodenoffensive verzögert

Die Folgen dieser Unterredungen zeigten sich in den vergangenen Tagen. Israel forderte die Bevölkerung im Norden des Gazastreifens auf, in den Süden zu flüchten. Ein ursprünglich sehr kurzes zeitliches Ultimatum wurde mittlerweile mehrfach verlängert. Und über die Gründe, wieso die erwartete Bodenoffensive Israels nun schon mehrere Tage auf sich warten lässt, wurde viel spekuliert.

Antony Blinken mit israelischem Ministerpräsident Netanjahu
IMAGO/ZUMA Wire/State Antony Blinken
Blinken sicherte Netanjahu Unterstützung zu – äußerte aber auch klare Worte

Ein Grund mag sein, dass die USA Druck auf die Regierung Netanjahu ausüben, zuzuwarten, bis sich so viele Zivilisten wie möglich in Sicherheit gebracht haben. Am Montag, kurz nach der Rückkehr Blinkens nach Israel nach Besuchen in Jordanien, Bahrain, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Ägypten, machten Spekulationen die Runde, auch US-Präsident Joe Biden könnte in den nächsten Tagen nach Israel reisen. Bestätigt sich das, ist das ein Indiz, dass die USA den Druck in der Region erhöhen wollen.

Tauziehen um Grenzübergang Rafah

Eine zentrale Rolle in dem Konflikt nimmt Nachbarland Ägypten ein, Blinkens Besuch bei Präsident Abdel Fattah al-Sisi am Sonntag war von besonderer Brisanz. Die USA drängen darauf, den Grenzübergang Rafah vom Gazastreifen nach Ägypten zu öffnen, um etwa ausländische Staatsbürger die Ausreise zu ermöglichen. Ägypten wiederum will dem nur zustimmen, wenn gleichzeitig Hilfsgüter in den Gazastreifen geliefert werden, was allerdings Israel nur zulassen will, wenn eine genaue Kontrolle einen Waffenschmuggel ausschließt. Am Montag kam zumindest Bewegung in die Debatte – mit einigen UNO-Tanklastern, die Richtung Gaza passieren durften.

Ägyptens Furcht von Flüchtlingen

Ziel ist es wohl sogar, einen humanitären Korridor zu schaffen, der allen fluchtwilligen Zivilistinnen und Zivilisten aus dem Gazastreifen die Ausreise ermöglicht. Für Israel könnte das ein Vorteil sein, so das US-Kalkül, bei einem harten militärischen Vorgehen auf diesen humanitären Aspekt hinweisen zu können. Widerstand kommt aber aus Ägypten und anderen arabischen Ländern.

U.S. Secretary of State Antony Blinken, left, meets with Egypt’s President Abdel Fattah El-Sisi at Al-Ittihadiya Palace in Cairo, Sunday Oct. 15, 2023. (AP Photo/Jacquelyn Martin, Pool)
AP/Jacquelyn Martin
Blinken auf heikler Mission bei Sisi

Sisi warnte vor einer dauerhaften Vertreibung der Palästinenser aus dem Küstenstreifen: „Es ist wichtig, dass das (palästinensische) Volk standhaft und auf seinem Land präsent bleibt“, sagte er. Hintergrund ist aber auch ein anderer: Ägypten befürchtet, dass im Extremfall Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge vielleicht niemals in ihre Heimat zurückkehren werden, so wie es bereits nach den Kriegen von 1948 und 1967 der Fall war.

Militärhilfe als US-Druckmittel

Ein Druckmittel bzw. ein Ass im Ärmel haben die USA allerdings: Seit Jahrzehnten gewähren die Vereinigten Staaten Ägypten jährlich etwa 1,3 Milliarden Dollar zur Finanzierung des Militärs. Gleichzeitig laufen Rüstungsdeals zwischen den Ländern in der Höhe von rund 2,5 Milliarden Dollar. Blinken könnte den hohen Preis in Kauf nehmen und auf Teile der Bezahlung verzichten – oder Sisi die Rute ins Fenster stellen und die Zukunft der Militärhilfe infrage stellen.

Katar als potenzieller Vermittler bei Geiseln

Um nichts weniger heikel waren Blinkens Besuche in Katar und Saudi-Arabien. Katar finanziert die Hamas, hat aber umgekehrt offene Kommunikationskanäle in die USA. Nicht zufällig gilt das Emirat als potenzieller Vermittler zur Befreiung der israelischen – und internationalen – Geiseln in der Hand der Hamas.

Saudi-Arabien ist seit Langem einer der wichtigsten Unterstützer der Palästinenser. Zuletzt wurde unter US-Vermittlung um eine diplomatische Annäherung an Israel gerungen, der knapp zuvor stehende Durchbruch wurde durch den Hamas-Angriff auf Israel verhindert, die Gespräche sind nun auf Eis gelegt.

Gegengewicht zum Iran

Die Strategen in Washington seien uneins, ob es sich um Verbündete handelt, schreibt der britische „Telegraph“ in einer Analyse: Ob diese Staaten sich als Partner Blinkens erweisen, werde auch zeigen, „wie viel Macht die USA noch haben“. Präsident Biden habe das Terrain vor Blinkens Besuch abgesteckt, analysiert die „Financial Times“: In Telefonaten warnte er die arabischen Länder vor dem Versuch, die Kämpfe in Gaza „auszunutzen“.

Blinkens Mission sei es, so Beobachter, die arabischen Ländern dazu anzuhalten, ein Gegengewicht gegen den Iran und die von ihm unterstützte Hisbollah im Libanon zu bilden. Immerhin: Der saudische Kronprinz und De-facto-Herrscher Mohammed bin Salman führte am Donnerstag ein seltenes Gespräch mit dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi. Den Iran versuchten die USA selbst mit der Entsendung von zwei Flugzeugträgergruppen zur Zurückhaltung zu zwingen.

Geduld bei israelischer Offensive

Gleichzeitig wollen die USA die arabischen Verbündeten dazu bewegen, auf die israelische Bodenoffensive auch dann zumindest eine Zeit lang gemäßigt zu reagieren, wenn es – wie befürchtet – viele Opfer in der Zivilbevölkerung gibt.

William Wechsler, leitender Direktor des Rafik Hariri Center des Atlantic Council, sagte der „Financial Times“, die arabischen Verbündeten der USA würden aufgrund der Abscheulichkeit der Gräueltaten wohl etwas mehr Geduld mit Israels Reaktion auf die Hamas zeigen. Er warnte jedoch, dass es den Verbündeten am Golf mit einem länger andauernden Krieg immer schwerer fallen wird, den Bitten der USA um Zurückhaltung nachzukommen.

Wie lange so ein Zeitfenster dauern kann, ist unklar. Klar scheint aber, dass die USA auch Israel signalisieren, dass eine Bodenoffensive nicht allzu lange dauern darf. Dafür gibt es auch Vorbilder aus der jüngeren Zukunft: Schon 2021 drängten Biden und hochrangige US-Beamte Netanjahu, Angriffe gegen die Hamas nach kaum mehr als einer Woche zu beenden.

Szenarien für nach dem Krieg

Abgesehen von der ganz aktuellen Krisendiplomatie und dem Verhindern eines Flächenbrands in der Region dürften auch mittelfristige Überlegungen eine Rolle spielen: Die USA scheinen, schreibt der „Telegraph“, zu bezweifeln, dass die israelische Regierung einen Plan für die Region nach der bevorstehenden Bodeninvasion hat: „Niemand weiß besser als die Amerikaner, dass Länder, die von terroristischen Gräueltaten heimgesucht werden, überstürzt handeln und schreckliche Fehler begehen können.“

Blinkens Aufgabe werde es in den kommenden Tagen und Wochen sein, „mit Europa und seinen arabischen Verbündeten einen internationalen Plan für den Gazastreifen auszuarbeiten“, wenn der Krieg vorbei ist. Einige Medien vergleichen die Schwierigkeit von Blinkens Mission schon jetzt mit jenen von Henry Kissinger. Ist der Außenminister auch nur einigermaßen erfolgreich, wäre das auch das Comeback einer großen US-Krisendiplomatie.