Die Stadt „Nur Shams“ im Westjordanland
AP/Majdi Mohammed
Gewalt im Westjordanland

Sorge vor Flächenbrand in Nahost

Seit dem blutigen Terrorangriff von Hunderten Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober blickt die Welt mit Entsetzen auf den Gazastreifen. Aber auch in dem von Israel besetzten Westjordanland gibt es Sorgen vor einer Eskalation und damit einem möglichen Flächenbrand in Nahost. Die Sicherheitslage gilt UNO-Angaben zufolge als sehr angespannt. Zusammenstöße zwischen Palästinensern, der israelischen Armee und Siedlern haben zuletzt zugenommen.

Zuletzt ging Israel auch im Westjordanland verstärkt gegen militante Palästinenser vor. In der Nacht auf Sonntag griff die Armee nach eigenen Angaben eine „Terrorzelle“ in einer Moschee im Flüchtlingslager Dschenin an. Es besteht die Gefahr, „dass die Situation außer Kontrolle gerät“, warnte UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths kürzlich bei einer Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrats. „Wir sind äußerst beunruhigt über die sich rapide verschlechternde Menschenrechtssituation im besetzten Westjordanland und die Zunahme der unrechtmäßigen Anwendung tödlicher Gewalt“, sagte auch Ravina Shamdasani, Sprecherin des UNO-Menschenrechtsbeauftragten Volker Türk.

Das Westjordanland und Ostjerusalem sind seit dem Sechstagekrieg von 1967 von Israel besetzt. Seitdem haben sich Hunderttausende israelische Bürger in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes angesiedelt. Ein Teil steht seit 1994 unter palästinensischer Verwaltung und wird von der Partei Fatah kontrolliert. Die Palästinenser beanspruchen die Gebiete für einen unabhängigen Staat Palästina mit dem arabisch geprägten Ostteil Jerusalems als Hauptstadt.

Grafik zur Lage in Israel
Grafik: APA/ORF; Quelle: ISW

Stimmung in Bevölkerung „gespenstisch“

Wenn der Kampf zwischen Israel und den Palästinensern tatsächlich das Herz des Nahost-Konfliktes sei, dann werde die Zukunft der israelischen Siedlungen im Westjordanland das Schicksal der Region dramatisch beeinflussen, schrieb der deutsche NDR noch Anfang September. Die Bevölkerung dort wachse dreimal so schnell wie im Rest von Israel.

Rund 2,5 Millionen Palästinenser und etwa 430.000 Juden leben nach Angaben der CIA in der Region, in der es seit Beginn des jüngsten Konflikts eine Zunahme an Festnahmen durch israelische Antiterroreinsätze und tödliche Konflikte zwischen Soldaten und Siedlern gegeben hat. Die Stimmung in der palästinensischen Bevölkerung sei aktuell gespenstisch, berichtet die „Zeit“. Es herrsche Trauer und Wut über die Lage in Gaza und die Bombardements, vor allem aber eine „große Angst“.

Gewalt nahm bereits vor 7. Oktober zu

Die schlimmsten Zusammenstöße gab es „New York Times“-Berichten zufolge zuletzt am Donnerstag im Flüchtlingslager Nur Schams, einem dicht besiedelten Wohngebiet, das die israelischen Streitkräfte stürmten. Sie hätten „gesuchte Personen festgenommen, terroristische Infrastrukturen vereitelt und Waffen beschlagnahmt“, teilte das israelische Militär mit. Die Palästinenser in dem Lager schlugen zurück, schossen auf israelische Soldaten und warfen improvisierte Bomben.

Die Gewalt im Westjordanland ist aber nicht erst seit dem Krieg eskaliert. Die Regierung von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, der auch rechtsextreme Siedler angehören, hatte mehrmals angekündigt, gegen militante palästinensische Gruppen im gesamten Gebiet vorzugehen. Bereits vor dem 7. Oktober war das Westjordanland nach Angaben der UNO vom „tödlichsten Gewaltausbruch seit mindestens 2005“ betroffen, regelmäßig kommt es seit einem Jahr zu Zusammenstößen von Palästinensern mit der israelischen Armee und israelischen Siedlern.

Ein Bagger bei Aufräumarbeiten in Tulkarm, im Westjordanland
Reuters/Raneen Sawafta
Aufräumarbeiten in Tulkarm im Westjordanland

Sorge vor Flächenbrand

Dennoch schüren die aktuellen Ausschreitungen international Sorgen, dass die Gewalt bald auch auf umliegende Gebiete übergreifen und in den nächsten Wochen und Monaten einen Flächenbrand in der gesamten Region auslösen könnte, berichtet etwa die „Zeit“. Auch israelische Medien verweisen neben dem Libanon und der vom Iran unterstützten Hisbollah auf das Westjordanland als mögliche dritte Front in einem umfassenderen Krieg.

Einerseits sorgt man sich vor palästinensischen Attacken aus dem Westjordanland, andererseits davor, dass die Wut über die Besatzung so groß werde, dass es wieder zu Straßenschlachten kommen könnte, berichtet die „Zeit“ weiter. International wird zudem befürchtet, dass auch eine bald erwartete israelische Bodenoffensive im Gazastreifen auch die Gewalt im Westjordanland noch einmal stark anfachen könnte.

Eine große Gefahr für Israel würden jene Palästinenser im Westjordanland darstellen, die trotz unterschiedlicher Loyalitäten eine Verachtung für die israelische Besatzung eine, sagen in dem Zusammenhang Analysten. Laut Umfragen würden sie bewaffnete Gruppen wie lokale Milizen in überwältigendem Maße unterstützen. Reuters berichtet zudem von einer wachsenden Bereitschaft zum bewaffneten Widerstand. „Wir sollten die Zügel schleifen lassen und mit allen Mitteln gegen die Besatzung kämpfen“, sagte etwas der Fatah-Funktionär Mowafak Sehweel.

Männer bei Marktständen in Hebron, im Westjordanland
APA/AFP/Hazem Bader
Männer bei Marktständen in Hebron im Westjordanland

Israel in Alarmbereitschaft

Das israelische Militär sei in höchster Alarmbereitschaft und bereite sich auch auf Hamas-Kämpfe im Westjordanland vor, hieß es zuletzt. Itamar Ben Gvir, der israelische Minister für öffentliche Sicherheit von der rechtsextremen Partei Osma Jehudit, kündigte vergangene Woche an, 10.000 Sturmgewehre anzuschaffen und im Westjordanland an israelische Bewohner verteilen zu lassen. 4.000 davon sollen bereits in der vergangenen Woche ausgeteilt worden sein.

Jahrelang habe die Hamas „alles versucht, um Terroristen im Westjordanland zu aktivieren“, sagt Lior Akerman, ein ehemaliger Offizier des israelischen Inlandsgeheimdienstes. In Ramallah gebe es zunehmende Stimmen zur Unterstützung des militärischen Flügels der Hamas. Die terroristische Organisation versuche, „Israel in einen Zwei- oder Dreifrontenkrieg zu verwickeln“, der auch die libanesische Grenze und das Westjordanland umfasse, sagte auch der israelische Militärsprecher Jonathan Conricus gegenüber Reuters.

Unter der palästinensischen Bevölkerung des Westjordanlands gab es noch zuletzt eine breite Unterstützung für die islamistische Hamas. Offizielle Zahlen von Mitgliedern der Hamas-Organisation gibt es nicht. Allerdings zeigte eine Umfrage im September, dass im Falle einer Präsidentschaftswahl Hamas-Chef Ismail Hanijeh mit der Hälfte der Stimmen rechnen könnte – wenn der einzige weitere Kandidat Präsident Mahmud Abbas wäre.