Die rechts-religiöse Regierung und das neu gebildete Kriegskabinett, in dem nun auch erfahrene Ex-Generäle und Oppositionsführer wie Benni Ganz und Gadi Eisenkot sitzen, müssen seit dem 7. Oktober Entscheidungen in einem äußerst komplexen Feld treffen: aufgespannt zwischen hochemotionalen und teils einander ausschließenden Interessen, sehr unterschiedlichen kurz- und mittelfristigen Zielen und damit verbundenen Risiken.
Israels Öffentlichkeit ist derzeit vor allem zwischen der Sorge um das Wohl der Geiseln und Entführten und dem Bedürfnis nach einem Gegenschlag hin- und hergerissen. Unklar ist, wie weit es den israelischen Geheimdiensten gelungen ist, valide Informationen über die Aufenthaltsorte der Entführten zu sammeln. Die erste Phase einer Bodenoffensive wird aber wohl vorrangig dem Versuch dienen, entführte Israelis zu befreien. Gelingt das nicht – oder nur bei wenigen – wird vom ersten Tag eines Einmarsches an der Druck der Angehörigen auf die politische Führung hoch sein.
Internationale Bemühungen
Derzeit laufen noch hektische internationale Bemühungen – etwa via Katar, das enge Beziehungen zur Hamas hat –, Geiseln freizubekommen. Israel selbst verhandelt offiziell nicht, auch wenn es über Zwischenstationen wohl entsprechende Gespräche gibt. Sicher ist, dass viele Staaten, allen voran die USA, versuchen, Entführte mit Doppelstaatsbürgerschaft freizubekommen. Und sie drängen daher Israel, mit der Bodenoffensive noch abzuwarten.
Laut der US-Nachrichtenwebsite Axios soll es noch mehrere Tage Zeit für Verhandlungen geben. Israel fordert, wenn, dann müssten alle entführten Frauen und Kinder auf einmal freigelassen werden, nicht wieder „nur“ zwei. Die Hamas fordert offenbar einen Waffenstillstand, zu dem Israel bisher nicht bereit ist, da eine Unterbrechung der Offensive diese in der Folge diplomatisch unmöglich machen könnte.
Steigendes Misstrauen gegen Netanjahu
Gleichzeitig steigt der Druck vonseiten der Armee. Armeechef Herzi Halevi ging am Dienstag sogar an die Öffentlichkeit und betonte, das Militär sei für den Einmarsch im Gazastreifen bereit. Am Vortag hatte das Onlinenachrichtenportal Walla namentlich nicht genannte „hochrangige Militärs“ zitiert, die Netanjahu für die Verschiebung der Bodenoffensive kritisierten und dessen Eignung in Zweifel zogen: Die Verzögerung würde zeigen, „dass Netanjahu keine Entscheidung treffen kann“. Möglicherweise sei er „nicht fähig, den Krieg zu führen“.
Netanjahu, Verteidigungsminister Joav Galant und Armeechef Halevi sahen sich daraufhin gezwungen, das eigentliche Selbstverständliche festzuhalten: Es gebe vollständiges gegenseitiges Vertrauen, und man arbeite eng zusammen, um die Hamas zu zerstören.
Kleiner werdendes „Zeitfenster“
Mit jedem Tag, in dem die Luftwaffe den Norden des Gazastreifens weiter bombardiert und zerstört, werden international die Proteste dagegen lauter. Auch westliche Regierungen erhöhen schrittweise den Druck auf Israel, womit sich nach Ansicht israelischer Medien das „Zeitfenster“ für eine Bodenoffensive zusehends verringert. Möglicherweise ergeben sich aber auch neue Chancen durch ein Zuwarten: Laut einem Bericht von Walla soll den in Tunneln verschanzten Hamas-Kämpfern in wenigen Tagen der für die Lüftung nötige Diesel ausgehen. Das ist auch einer der Gründe dafür, dass Israel sich bisher weigert, Treibstofftankwagen nach Gaza lassen.
Risiko weiterer Fronten
Auch die Gefahr einer Ausweitung des bewaffneten Konflikts, insbesondere an der Nordgrenze mit der vom Iran gestützten Terrororganisation Hisbollah, besteht im Fall einer Bodenoffensive weiter und ist ein weiterer wichtiger Grund für das Hinauszögern der Bodenoffensive in Gaza. Nach der raschen und deutlichen US-Reaktion (Entsendung von Flugzeugträgern, Anm.) weist derzeit vieles darauf hin, dass der Iran eine offene Eskalation vermeiden will. Stattdessen heizt Teheran Stellvertreterkonflikte im Irak und in Syrien an.
Dem israelischen Nahost-Experten Jaron Friedman zufolge ist die Hisbollah selbst an einer Eskalation nicht interessiert – zu traumatisch seien die Zerstörung im Libanon-Krieg 2006 gewesen und die folgende Gegenreaktion in der libanesischen Gesellschaft, die die Hisbollah dafür verantwortlich gemacht habe. Und auch Teheran dürfte die wichtigste von ihr beherrschte Terrorgruppe nicht opfern wollen, so Friedman gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Sender Kan. Allerdings saß Israel eben auch bei der Hamas einer schwere Fehleinschätzung auf.
Kein Plan für danach
Außerdem fehlt Netanjahu bisher offenbar jeder Plan, wie es im Gazastreifen weitergehen soll, wenn das selbst gesteckte Ziel erreicht und die Hamas militärisch geschlagen und nicht mehr imstande ist zu verwalten. Zumindest für Außenstehende naheliegend wäre, wenn die Autonomiebehörde und damit die Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas auch die zivile Verwaltung in Gaza übernimmt.
Die Fatah hat allerdings nicht zuletzt wegen grassierender Korruption ein schweres Reputationsproblem bei den Palästinensern. Abbas fordert zudem politische Konzessionen von Netanjahu – etwa die Garantie, dass ein palästinensischer Staat in Gaza und Westjordanland entsteht –, zu denen dieser nicht bereit ist. Das widerspricht allem, was Netanjahu seit mehr als einem Jahrzehnt betrieben hat – nämlich die Autonomiebehörde zu schwächen und die politische Spaltung der Palästinenser am Leben zu erhalten.
Die USA drängen aber auf einen solchen Plan auch für die Zeit danach – auch eingedenk der eigenen schweren Fehler im Irak und in Afghanistan. Mit einem solchen Plan eilt es, muss dieser doch zumindest in Grundzügen mit einigen arabischen Ländern, insbesondere Ägypten, abgestimmt werden.
Kriegleder (ORF) zur Situation im Gazastreifen
ORF-Korrespondent David Kriegleder spricht unter anderem über die internationalen Bemühungen zur Freilassung der Geiseln sowie über die verheerende humanitäre Lage im Gazastreifen.
Jeder Tag zählt auch für die Wirtschaft
Es gibt nicht zuletzt auch schwerwiegende wirtschaftliche Gründe, warum Netanjahu bald eine Entscheidung treffen muss. Die Währung Schekel hat stark an Wert verloren. Nach der Rekordmobilisierung von 300.000 Milizsoldatinnen und -soldaten fehlen diese seit mehr als zwei Wochen auf dem Arbeitsmarkt. Das hält die moderne, aber kleine israelische Volkswirtschaft nicht uneingeschränkt durch, ohne nachhaltig Schaden zu nehmen. Auch das Bildungssystem funktioniert wegen der weiträumigen Evakuierungen, der dauernden Luftalarme und des zur Armee eingezogenen Lehrpersonals nur noch bedingt.
Enorme Kosten für Staat
Für den Staat selbst bedeuten die Mehrausgaben für das Militär und die Versorgung der Bevölkerung an der Nord- und Gaza-Grenze (von Hotelkosten bis hin zur medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung) und die gleichzeitig deutlich niedrigeren Steuereinnahmen eine große finanzielle Hypothek – auf Jahre hinaus.
Die Zeit drängt, auch wenn es für Israel und erst recht für Netanjahu keine wirklich gute Option zu geben scheint.