Junge Palästinenser in einer Häuserruine in Gaza Stadt
AP/Abed Khaled
Nordgaza

Israels Armee erneuert Evakuierungsaufruf

Nach Israels Ankündigung, die Kämpfe gegen die Hamas nun schrittweise auszuweiten, hat die Armee am Sonntag ihren Evakuierungsaufruf für den Norden des Gazastreifens erneuert. Die Region war bereits am Vortag Schauplatz der bisher schwersten israelischen Angriffe – zudem operieren im Gazastreifen nun auch israelische Bodentruppen. Nach den Worten von Premier Benjamin Netanjahu habe die israelische Armee die „zweite Phase“ im Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen gestartet.

Die Ausweitung der Angriffe erfolge „aus der Luft, zu Lande und zur See“, sagte dazu Israels Armeesprecher Daniel Hagari in einem vom Militär in der Nacht zum Sonntag veröffentlichten Video. Umso dringlicher sei es, dass die noch im nördlichen Gazastreifen und in Gaza-Stadt verbliebenen Zivilisten sich „vorübergehend südlich des Wadi Gaza in ein sichereres Gebiet begeben“, wie Hagari weiter ausführte.

Dort könnten die Betroffenen auch „Wasser, Lebensmittel und Medikamente erhalten“, so Hagari, der in diesem Zusammenhang, ohne Nennung weiterer Details, für Montag eine Ausweitung der „humanitären Bemühungen für den Gazastreifen unter der Leitung Ägyptens und der Vereinigten Staaten“ in Aussicht stellte.

Kampf wird „lang und schwierig“

Netanjahu rechnet indes mit einem „langen und schwierigen“ Kampf gegen die Hamas im Gazastreifen. „Wir stehen erst am Anfang.“ Netanjahu versprach dabei auch, alles zu tun, um die mehr als 200 von der Hamas festgehaltenen Geiseln zu befreien.

Die Terrororganisation Hamas erklärte, sie werde sich mit aller Kraft gegen die israelischen Angriffe zur Wehr setzen. „Die Al-Kassam-Brigaden und alle palästinensischen Widerstandskräfte sind bereit, der israelischen Aggression mit aller Kraft entgegenzutreten und ihre Angriffe zu vereiteln“, teilte die militärische Organisation der Hamas am Samstag mit.

„Zweite Phase“ des Krieges begonnen

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat Samstagabend von der „zweiten Phase“ des Krieges gegen die Hamas gesprochen. Es werde ein langer und schwieriger Kampf im Gazastreifen, sagte er auf einer Pressekonferenz. Aus der Luft, von Kriegsschiffen aus und mit Bodentruppen wurden nach Angaben der israelischen Armee 150 unterirdische Ziele in Gaza angegriffen.

Israel hatte am Freitagabend angekündigt, den Einsatz von Bodentruppen im Gazastreifen auszuweiten. Damit reagiert Israel auf den Überraschungsangriff der Hamas, bei dem nach israelischen Angaben rund 1.400 Menschen getötet und mehr als 220 Geiseln genommen wurden.

„Zu keinem Zeitpunkt gewarnt“

Wie Netanjahu am Sonntag den israelischen Geheimdiensten in einem mittlerweile auf Twitter (X) wieder gelöschten Beitrag vorwarf, habe es im Vorfeld dazu keinerlei Warnungen gegeben. „Unter keinen Umständen und zu keinem Zeitpunkt wurde der Ministerpräsident vor kriegerischen Absichten der Hamas gewarnt“, zitierten Agenturen aus Netanjahus Tweet.

Netanjahus Spitze gegen die Geheimdienste sorgte nach Angaben des Onlineportals Times of Israel quer durch alle Parteien für Empörung – und sei in der Folge wohl aus diesem Grund wieder gelöscht worden. Später entschuldigte sich Netanjahu für die von ihm gegen die Geheimdienste erhobenen Vorwürfe: „Ich habe mich geirrt. Dinge, die ich nach der Pressekonferenz gesagt habe, hätten nicht gesagt werden dürfen, und ich entschuldige mich dafür.“

Anders als führende Repräsentanten von Militär, Geheimdienst und Verteidigungsminister Joav Galant weigert sich Netanjahu bisher, eine Mitverantwortung für das israelische Versagen am 7. Oktober einzugestehen.

Armee: Planer des 7. Oktober getötet

Nach den Hamas-Terrorangriffen erklärte Israel die Zerstörung der Hamas zur obersten Priorität. Man werde den Feind über und unter der Erde vernichten, wie Netanjahu am Samstag dazu sagte.

Nach israelischen Angaben wurden Tunnel, Kampfräume und andere Infrastruktur angegriffen. „Mehrere Hamas-Terroristen wurden dabei getötet“, erklärte das Militär. Zudem sei der Verantwortliche für Luftverteidigung bei der Hamas getötet worden. Asem Abu Rakaba sei an der Planung des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober beteiligt gewesen. „Er hat die Terroristen, die per Gleitschirm nach Israel eindrangen, geleitet. Und er war für die Drohnenangriffe auf Posten des israelischen Militärs verantwortlich.“

Israel: Hamas-Kämpfer geben Nutzung von Spital zu

Israels Armee veröffentlichte am Samstag ein Video von einem Verhör von Hamas-Kämpfern, in dem diese angeblich bestätigen, dass die Hamas Spitäler und Schulen als Lager und sichere Unterkunft verwendet, da sie hier vor israelischen Angriffen sicher sei.

Die Hamas transportiere in das größte Spital al-Schifa etwa ihre Sprengstoffe, Waffen, Lebensmittel und medizinische Ausrüstung für die eigenen Leute, heißt es im Video. Aus den Aussagen darin geht auch hervor, dass sich Hamas-Mitglieder bei israelischen Angriffen in Kliniken oder Schulen verstecken.

Grund dafür sei, dass Israel aufgrund des Kriegs- und Völkerrechts diese nicht bombardiere. Die Hamas bestreitet die Nutzung des Krankenhauses für „militärische Zwecke“. Das Video könnte laut israelischen Kommentatoren im TV-Sender Kan dazu dienen, in weiterer Folge den Weg für Angriffe auf al-Schifa und andere Spitäler zu ebnen.

Berichte über Lage in Nahost

Die ORF-Korrespondenten Tim Cupal und Karim El-Gawhary berichten über die aktuelle Lage im Nahost-Konflikt.

Tausende Zivilisten im Krankenhausbereich

Allein im Umkreis des Schifa-Krankenhauses in Gaza, das nach israelischer Darstellung auch als Hamas-Kommandozentrum dient, halten sich nach TV-Berichten weiterhin Tausende Zivilisten auf. Die Menschen verblieben im Bereich der größten Klinik des Gazastreifens, die sie offenbar als Zufluchtsort ansehen, wie Fernsehbilder am Sonntag zeigten.

Die „New York Times“ schrieb am Sonntag, die normale Kapazität des größten und am besten ausgestatteten Krankenhauses im Gazastreifen betrage 700 Betten. Jetzt beherberge es Schätzungen zufolge über 60.000 Menschen. Dazu zählten unter anderem Verwundete sowie Angehörige, die sie versorgten. Zehntausende Menschen hätten Zuflucht gesucht, weil sie glaubten, dass ein Krankenhaus ihnen einen gewissen Schutz biete.

Israelische Medien berichteten zuletzt unter Berufung auf Sicherheitskreise, die Hamas habe rund 30.000 Menschen im Umkreis des Schifa-Krankenhauses konzentriert, damit diese als „menschliche Schutzschilde“ dienen. Das solle Israel daran hindern, ihre unterirdische Kommandozentrale anzugreifen.

Rotes Kreuz fordert sofortige Deeskalation

Vertreter der UNO und der EU drängen indes weiter auf eine „sofortige humanitäre Waffenruhe“, um Hilfslieferungen für die Menschen im Gazastreifen zu ermöglichen. Sie forderten unter anderem die Bereitstellung von Wasser, Nahrungsmitteln, Treibstoff und Strom für die notleidende Zivilbevölkerung.

Verschärfend dazu kam zuletzt der Ausfall fast aller Telefon- und Internetverbindungen. Laut Medienberichten ist der Gazastreifen seit Sonntag teilweise wieder am Netz. Hilfsorganisation beklagten zuvor, dass der Kommunikationsausfall die Hilfe noch schwieriger mache.

„Ich bin schockiert über das unerträgliche Ausmaß des menschlichen Leids und fordere die Konfliktparteien auf, jetzt zu deeskalieren“, schrieb dazu die Chefin vom Internationalen Roten Kreuz, Mirjana Spoljaric, auf Twitter (X). Angemessene humanitäre Hilfe sei derzeit nicht möglich. „Das ist ein katastrophales Versagen, das die Welt nicht hinnehmen darf.“

Iran: „Rote Linie überschritten“

Israel habe die roten Linien, „die jeden zum Handeln zwingen könnten“, überschritten, teilte indes der iranische Präsident Ebrahim Raisi am Sonntag mit. Beobachter erinnern in diesem Zusammenhang an die zuletzt verschärften Angriffe der vom Iran unterstützten, im Libanon sitzenden radikal-islamistischen Hisbollah auf Israel.

Eine Warnung an Israel mit der Verurteilung „jeglicher Bodenoffensiven“ Israels im Gazastreifen erging auch aus Saudi-Arabien. Das islamische Königreich sprach von einem „eklatanten Bruch und einem ungerechtfertigten Verstoß gegen internationales Recht“. Saudi-Arabien ist eine wichtige Schutzmacht der Palästinenser und war über Jahrzehnte mit Israel verfeindet. Vor Beginn des Gaza-Kriegs deutete vieles auf eine mögliche Normalisierung der Beziehungen unter Vermittlung der USA hin. Im Zuge des erneut eskalierten Konflikts hat Riad die Gespräche über eine mögliche Normalisierung auf Eis gelegt.