Geiseln der Hamas
Reuters/Al-Qassam Brigades Military Wing Of Hamas
Neues Video

Israels doppeltes Ringen um Geiseln

Mit der stufenweisen Ausweitung der israelischen Bodenoperationen in Gaza steigt auch die Sorge der Angehörigen der 240 Entführten. Sie fürchten angesichts der schweren Angriffe um das Leben ihrer Lieben – und zweifeln daran, dass die eigene Regierung sich ernsthaft um die Befreiung der Geiseln bemüht. Und um das Schicksal der Geiseln verschärft sich die psychologische Kriegsführung, wie ein am Montag veröffentlichtes Video mit drei israelischen Geiseln, von denen eine Regierungschef Benjamin Netanjahu scharf attackiert, zeigt.

Für Netanjahu ist das Geiseldrama längst zu einer politischen Überlebensfrage geworden. Die Entführte, es handelt sich laut israelischen Medien um Daniel Aloni, sagte mit wütender Stimme: „Bibi Netanjahu, Schalom. Wir befinden uns seit 23 Tagen in Gefangenschaft der Hamas.“

Die Geisel sprach in dem Video von einer Pressekonferenz mit den Familien der Entführten am Vortag. „Wir wissen, dass es eine Waffenruhe geben sollte, du hättest uns alle befreien sollen, du hast dich verpflichtet, uns alle freizubekommen“, sagte die Frau auf Hebräisch an Netanjahu gerichtet.

Geisel fordert Israel zu Deal auf

Sie warf Netanjahu vor, er wolle „uns alle töten“. Die Aussage könnte sich auf die israelischen Angriffe im Gazastreifen beziehen. Die Frau fragte: „Sind nicht schon genug israelische Bürger getötet worden?“ Und sie forderte entschieden einen Deal zur Freilassung der Geiseln und palästinensischer Häftlinge. Israelische Medien stuften das Video als „Psychoterror“ der Hamas gegen Israel ein. Vermutlich habe die Hamas der Frau den Text diktiert. Netanjahu sprach von „grausamer psychologischer Propaganda“.

Die Terrororganisation Hamas weiß aus der jahrzehntelangen Auseinandersetzung bestens um den in Israel zutiefst verankerten Grundsatz, sich in allen Fällen ohne Unterlass um alle Israelis zu kümmern und dafür notfalls auch einen hohen Preis zu bezahlen. Die Hamas hatte am Wochenende im Namen ihres untergetauchten Chefs, Jahja Sinwar, eine schriftliche Stellungnahme verbreitet.

Darin hieß es, die Organisation sei bereit, alle Geiseln freizulassen, wenn dafür im Gegenzug Israel alle palästinensischen Gefangenen (die Zahl geht in die Tausende und inkludiert sowohl Minderjährige als auch rechtskräftig verurteilte Attentäter, Anm.) freilasse. Das Statement wurde kurz vor dem – erst zweiten – Treffen Netanjahus mit Vertretern von Familien der Entführten veröffentlicht.

Demonstrant in Tel Aviv
Reuters/Kuba Stezycki
Mahnwache von Angehörigen in Tel Aviv für die sofortige Befreiung der Geiseln

Israels Armee bezeichnete auch das umgehend als „Psychoterror“, auf den man nicht hören dürfe. Diese Reaktion zeigt vor allem eines: Das große Dilemma, in dem Israels politische und militärische Führung – und mit ihr die gesamte Bevölkerung – steckt, lautet: Wie kann der Wunsch, die Geiseln zu befreien, mit dem erklärten Ziel, die Hamas zu zerstören, vereinbart werden?

Deal als einzige Chance

Dass es militärisch nicht gelingen wird, ist nach mehr als drei Wochen Krieg gegen die Hamas in Gaza klar. Auch in Israel rechnet niemand mit einer Kommandoaktion zur Befreiung, auch wenn am Montag eine am 7. Oktober entführte Soldatin befreit werden konnte. Israel gelang es offenbar nicht, ausreichend gesicherte Informationen über Aufenthaltsort der Entführten und die Umstände ihrer Gefangenschaft zu erlangen.

Und selbst wenn die Armee die nötigen Detailinfos hätte, wären die Chancen auf eine erfolgreiche Befreiungsaktion, ohne dass Geiseln ums Leben kommen, zu gering. Es wird davon ausgegangen, dass die Geiseln auf mehrere Standorte verteilt sind und die Tunnelverstecke – etwa mit Sprengstoff – abgesichert sind.

Die einzige Chance ist daher wohl ein Deal mit der Hamas. Nach der dezidierten anfänglichen Weigerung Netanjahus laufen mittlerweile auf vielen Ebenen Verhandlungen – wie gewohnt vor allem über Ägypten und Katar. Auf beide ist die Hamas angewiesen – und beide Staaten haben ihre je eigenen Interessen für eine rasche Beruhigung des Nahost-Konflikts, der sich auf andere Fronten, vor allem zum Libanon hin, auszudehnen droht. Was – egal von welcher Seite – zu den Verhandlungen derzeit an die Öffentlichkeit dringt, ist vor allem dazu gedacht, den Druck auf die jeweils andere Seite zu erhöhen.

Erstmals Sprachregelung gefunden

Netanjahu und sein Kriegskabinett fanden nach drei Wochen erstmals in Ansätzen eine Formel, das Kriegsziel so zu formulieren, dass die Befreiung der Geiseln nicht als zweitrangig erscheint: Gegenüber Angehörigen und der Öffentlichkeit wird nun von Netanjahu abwärts in fast gleichlautenden Worten betont, die Bodenoperationen sei nötig, um den Druck auf die Hamas zu erhöhen.

Diese sei bisher nicht ernsthaft zu Verhandlungen bereit gewesen. Das Vorrücken israelischer Bodentruppen gefährde nicht das Leben der Geiseln, sondern sei die Voraussetzung dafür, dass die Hamas einem Deal zustimme, so die Argumentation.

Yehya Al-Sinwar
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Jahja Sinwar, Chef der Hamas in Gaza, gilt als Hauptverantwortlicher für die Massaker. Er ist seit dem 7. Oktober untergetaucht.

Psychologische Kriegsführung

Die Hamas will nicht nur möglichst viele Palästinenser aus Israels Gefängnissen freibekommen, sondern will auch einen Waffenstillstand, zumindest aber eine längere Feuerpause. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass der internationale Druck auf Israel zu groß wird, als dass die Armee ihre Operation „Eiserne Schwerter“ – in der derzeitigen Intensität – wiederaufnehmen kann.

So hart und mit großräumiger Zerstörung Israel im Gazastreifen vorgeht, der psychologischen Kriegsführung der Hamas hat das Land derzeit kaum etwas entgegenzusetzen: Insgesamt vier Geiseln wurden in zwei Tranchen freigelassen, dazu gab es sehr spärliche Lebenszeichen via Video und mit einer Botschaft, deren Ziel es ist, den Druck auf die Regierung einzulenken zu erhöhen.

Israelische Truppen in Gaza-Stadt

Augenzeugen berichten, dass israelische Bodentruppen derzeit am Rand von Gaza-Stadt stehen. Sie sollen vor allem das riesige Tunnelsystem der Hamas zerstören, in dem vermutlich auch die am 7. Oktober verschleppten Geiseln festgehalten werden.

Angehörige lassen nichts unversucht

Die Angehörigen, die sich noch am Tag des Hamas-Massakers in der Zivilbevölkerung zu organisieren begannen, machen seit Wochen in Israel und auf internationaler Ebene Druck. Professionell und auch mit Hilfe ehemaliger hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter und Diplomaten mobilisieren sie die Öffentlichkeit im In- und Ausland. In den Medien sind die Angehörigen und das Thema Geiseln allgegenwärtig. Vor dem Regierungsviertel in Tel Aviv gibt es rund um die Uhr eine Mahnwache, und die Proteste gegen den Justizumbau, die mit dem 7. Oktober schlagartig abgebrochen wurden, wandeln sich immer mehr in jene für die Heimholung der Geiseln.

Die Menschen skandieren lautstark „Bringt sie jetzt zurück“ und andere Slogans. Israels Öffentlichkeit sympathisiert zu einem großen Teil mit ihnen – jene, denen die Zerstörung der Hamas wichtiger ist, dringen in der Öffentlichkeit derzeit zumindest nicht durch. Denn unter dem Firnis der Einigkeit und des „Zusammen siegen wir“ sind die alten Gräben keineswegs verschwunden.

„Falsche“ politische Ausrichtung

Im Gegenteil: Für viele direkt Betroffene, die in jenen Kibbuzim und Städten lebten, die von den Hamas-Truppen und palästinensischen Zivilisten terrorisiert wurden, sind Netanjahu und seine rechts-religiöse Koalition hauptverantwortlich für das schreckliche Staatsversagen des 7. Oktober. Denn politisch sind die Menschen in dieser Region mehrheitlich in der Mitte oder links positioniert.

Weder für Netanjahus Likud und erst recht nicht für die Siedlerparteien, deren Wählerbasis sich vor allem in Jerusalem und dem besetzten Westjordanland befindet, ist dort viel zu holen. Und über die seit 2009 fast durchgehende Regentschaft Netanjahus wurden diese Regionen von ihm zugunsten der Siedlungen vernachlässigt und benachteiligt.

Soldaten und Waffen abgezogen

Die Forderung nach Schutzräumen wurde nur nach viel Widerstand widerwillig und halbherzig umgesetzt. Bis vor wenigen Jahren waren Soldaten in allen Grenzorten stationiert – bis sie abgezogen wurden. Und zuletzt wurde den Kitot Hakonenunt genannten Bereitschaftsgruppen staatlicherseits das Gros der Waffen abgenommen, nachdem mehrmals Waffen abhanden kamen und in Händen israelischer Beduinen auftauchten. Aufgabe der aus Ortsbewohnern zusammengesetzten Bereitschaftsgruppen sollte es sein, ihren Ort (sie sind alle umzäunt) im Fall eines Überfalls – das Szenario sah immer nur kleine Terroreinheiten von wenigen Mann vor – für maximal eine halbe Stunde verteidigen zu können, bis die Armee eintrifft.

Doch diese ließ am 7. Oktober viele Stunden auf sich warten. In vielen Kibbuzim stellten sich diese aus wenigen Leuten bestehenden Bereitschaftsgruppen gegen die oft zu Hunderten angreifenden Hamas-Kämpfer. Mehrere Orte wurden durch die mutige, selbstlose und rasche Reaktion dieser Leute gerettet.

Netanjahu weigert sich, Verantwortung zu übernehmen

Die Wut und das Entsetzen über dieses Versagen sind grenzenlos – und werden noch dadurch verschärft, dass zwar vom Verteidigungsminister über Geheimdienstchefs bis hin zum Armeechef alle ihre Mitverantwortung eingestanden haben und wohl nach dem Krieg zurücktreten werden – aber ausgerechnet Regierungschef Netanjahu windet und weigert sich, Verantwortung zu übernehmen. Er postete sogar einen nach massivem Protest rasch wieder gelöschten Tweet, in dem er die Schuld auf Armee und Geheimdienste abwälzte.

Aber immer wieder Zuständigkeit reklamiert

Dabei hatte Netanjahu 2018 in einer Parlamentsrede wörtlich gesagt, die Entscheidung in Angelegenheiten nationaler Sicherheit liege nicht bei der Armee, sondern bei der Regierung, „allen voran dem Regierungschef“. Und erst im Sommer war ein von Netanjahu selbst beauftragtes Rechtsgutachten zum Schluss gekommen, dass es eine „de facto Gesetz gewordene Tradition“ gebe, wonach der Regierungschef für die nationale Sicherheit verantwortlich sei, wie der öffentlich-rechtliche TV-Sender Kan am Sonntag berichtete.

Vor politischem Abgrund

Die Fähigkeit Netanjahus, der derzeit auch mehrfach angeklagt und trotzdem Regierungschef ist, sich auch aus schwierigsten Umständen zu befreien, ist geradezu legendär und bei seinen politischen Gegnern gefürchtet. Auch jetzt mutmaßen viele israelische Beobachter, dass Netanjahu den Krieg immer mit Blick auf die später mit Sicherheit folgende Untersuchungskommission führt.

Angesichts des dramatischen Staatsversagens, mit der höchsten Zahl an jüdischen Toten binnen eines Tages seit dem Holocaust, ist ein Nichtrücktritt – für alle außerhalb Netanjahus Orbit – aber eigentlich nicht vorstellbar. Dass eine Terrororganisation Hunderte Zivilisten entführt war zumindest in einem westlichen Staat bisher ebenso wenig vorstellbar. Deren Angehörige kämpfen derzeit mit aller Macht und allen Mitteln für deren Rückholung. Und danach, das scheint gewiss, werden viele von ihnen an vorderster Stelle für eine Neuaufstellung der israelischen Politik kämpfen – konzeptionell und vor allem personell.