Brennende Autoreifen und ein Rettungsfahrzeug in Tubas im Westjordanland
Reuters/Raneen Sawafta
Westjordanland

Gewalt durch Siedler eskaliert

Seit Beginn des Gaza-Krieges eskaliert auch die Gewalt jüdischer Siedler gegen Palästinenser im Westjordanland. Rund 1.000 Palästinenser wurden seit dem 7. Oktober aus ihren Häusern vertrieben, teilte das UNO-Büro für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) in einem aktuellen Lagebericht mit. Die Zahl der Angriffe jüdischer Siedler habe sich von drei Vorfällen pro Tag zu Beginn des Jahres auf inzwischen sieben pro Tag mehr als verdoppelt.

Insgesamt wurden seit den Angriffen der Hamas in Israel vom 7. Oktober 121 Menschen, darunter 33 Kinder, durch israelische Soldaten und Siedler getötet, teilte das UNO-Büro am Montag mit. 113 Menschenleben gehen demzufolge auf das Konto israelischer Soldaten. Siedler sind für den Tod von acht Palästinensern verantwortlich. Zu den Toten kommen über 2.100 Verletzte. Ein israelischer Soldat wurde von Palästinensern getötet.

„Wir beobachten mehr Vorfälle, bei denen bewaffnete Siedler Palästinenser bedrohen“, sagte Andrea De Domenico vom UNO-Büro für humanitäre Angelegenheiten, gegenüber der „New York Times“. „In mehreren Gebieten wurde den Palästinensern unter Androhung von Schusswaffen befohlen, den Grund zu verlassen.“ Einschüchterungen, Diebstähle und Übergriffe durch Siedler stehen an der Tagesordnung. Zu den Vertriebenen zählen vor allem Hirten und Beduinengemeinschaften.

Brennende Autoreifen und ein Rettungsfahrzeug in Tubas im Westjordanland
APA/AFP/Getty Images/Thomas Coex
Mutmaßlicher Tatort im Beduinendorf Wadi al-Sik

Das Westjordanland ist seit dem Sechstagekrieg 1967 von Israel besetzt – inzwischen ist es von jüdischen Siedlungen durchzogen, die nach internationalem Recht illegal sind. Drei Millionen Palästinenser und etwa 500.000 Israelis leben im Westjordanland. Die Palästinenser beanspruchen das Westjordanland und den Gazastreifen für einen unabhängigen Staat Palästina mit dem arabisch geprägten Ostteil Jerusalems als Hauptstadt.

Recht im Westjordanland

Für die Palästinenser im Westjordanland gilt das israelische Militärrecht. Für die jüdischen Siedler in dem Palästinensergebiet gelten dieselben Rechte wie für die israelischen Bürger auf israelischem Staatsgebiet.

Israelischer Minister: Siedlungen beschützen

Dass im Westjordanland nun deutlich mehr Siedler Palästinenser mit Waffen bedrohen, dürfte auch mit einer Anordnung des seit 2023 amtierenden, rechtsextremen israelischen Ministers für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, zusammenhängen: Ben-Gvir, der selbst Siedler ist, ließ infolge der Angriffe der Hamas weitere Waffen unter den ohnehin bewaffneten Siedlern verteilen.

In einer Erklärung von Mitte Oktober sagte er, sein Büro verteile 10.000 Schusswaffen sowie Kampfausrüstung, Schutzwesten und Helme an israelische Zivilisten – mit besonderem Schwerpunkt auf Bewohnerinnen und Bewohner jüdischer Siedlungen im Westjordanland. „Wir werden die Welt verändern, damit die Siedlungen geschützt werden“, sagte er. „Ich habe die massive Bewaffnung der zivilen Bereitschaftseinheiten angeordnet, um die Siedlungen und Städte zu schützen.“

Die Grenze zwischen Soldat und Siedler verschwimme laufend, schrieb die israelische Zeitung „Haaretz“ vor einigen Tagen. Der „Spiegel“ berichtete am Montag außerdem, dass Palästinensern in der Kleinstadt Salfit auf in Arabisch verfassten Flugblättern mit einer „großen Nakba“ (dt.: „Katastrophe“) gedroht und eine Flucht nach Jordanien nahegelegt wurde. Als Nakba wird von Palästinenser die Flucht und Vertreibung von Palästinenserinnen und Palästinensern infolge des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1947/48 bezeichnet.

Brennende Autoreifen und ein Rettungsfahrzeug in Tubas im Westjordanland
APA/AFP/Zan Jaafar
Das Flüchtlingslager Nur Schams wurde Berichten zufolge ebenso zum Schauplatz von Zusammenstößen

„Die Siedler nutzen den Krieg“

„Wir müssen für das zahlen, was ihnen (Israel, Anm.) passiert ist“, wurde Abu Baschar, einer der Anführer der kleinen Gemeinde Wadi al-Sik, von der Nachrichtenagentur AFP zitiert. Der Beduine wurde am 12. Oktober wie alle anderen Bewohner aus Wadi al-Sik vertrieben, wie israelische und internationale Medien berichteten. An jenem Tag sei es zu schweren Misshandlungen der Vertriebenen gekommen, berichteten „Haaretz“ und „Times of Israel“. Einige Palästinenser seien unter anderem gefesselt, geschlagen, mit Zigaretten verletzt und mit Urin bespritzt worden.

„Der Mangel an Aufmerksamkeit hat es den Siedlern und ihren Vollzugsorganen, offiziellen (Militär und Polizei) und halboffiziellen (Sicherheitsbeamten der Siedlungen und rechten Freiwilligen, die als Eskorten fungieren) ermöglicht, ihre Angriffe gegen palästinensische Hirten und Bauern mit einem klaren Ziel zu eskalieren: mehr Gemeinden von ihrem Land und aus ihren Häusern zu vertreiben“, schrieb die „Haaretz“-Journalistin Amira Hass in einer Kolumne vom 12. Oktober.

„Die Siedler nutzen den Krieg, um das Gebiet C von nicht jüdischen Menschen zu säubern“, sagte der israelische Menschenrechtsaktivist Guy Hirschfeld. Mit dem Oslo-Abkommen aus dem Jahre 1993 wurde das Palästinensergebiet in drei Bereiche aufgeteilt: Gebiet A wird von der Palästinensischen Autonomiebehörde (deren Präsident Mahmud Abbas ist) verwaltet. In Gebiet B kontrollieren die Israelis weiterhin die Sicherheit. Im größten Gebiet C ist Israel auch für die Zivilverwaltung zuständig. In Gebiet C liegen die meisten Siedlungen.

Palästinensischer Premier hofft auf Lösung

Am Wochenende forderten 30 NGOs in Israel in einer gemeinsamen Erklärung die internationale Gemeinschaft auf, die Siedlergewalt aufzuhalten. „Leider unterstützt die israelische Regierung diese Angriffe und unternimmt nichts, um diese Gewalt zu stoppen“, hieß es darin etwa. Rückhalt fehlt den Siedlern auch von Teilen der israelischen Bevölkerung.

„Das Westjordanland braucht eine Lösung, mit der Gaza dann im Rahmen einer Zweistaatenlösung verbunden wird“, forderte der palästinensische Ministerpräsident Mohammed Schtajjeh in einem Interview mit dem britischen „Guardian“ kürzlich.

Die von der internationalen Gemeinschaft bevorzugte Lösung für den Nahost-Konflikt sieht die Gründung eines palästinensischen Staates neben Israel vor – durch den Angriff der Hamas auf Israel, aber auch durch die aggressive israelische Siedlungspolitik erscheint dieses Szenario aktuell denkbar erschwert.

Kritik an israelischer Siedlungspolitik

Israels Regierung beruft sich auf biblische, historische und politische Verbindungen zum Westjordanland, um den Anspruch auf das Land zu rechtfertigen. Die rechts-religiöse Regierung von Regierungschef Benjamin Netanjahu trieb den Siedlungsausbau in den vergangenen Monaten voran. Seit der Regierungsübernahme im Jänner wurden Tausende neue Wohneinheiten genehmigt, die meisten davon tief im Westjordanland. Die Sicherheitslage spitzte sich deutlich zu. Schon vor dem 7. Oktober galt 2023 als das tödlichste Jahr seit zwei Jahrzehnten: Bis dahin wurden 179 Palästinenser im Westjordanland getötet.

Von der internationalen Gemeinschaft kam in den vergangenen Tagen, aber auch im Laufe des Jahres wiederholt scharfe Kritik an der israelischen Siedlungspolitik. Ministerpräsident Netanjahu hätte nach Ansicht des Sicherheitsberaters von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, die Verantwortung, „die extremistischen Siedler im Westjordanland zu zügeln“. Es sei „völlig inakzeptabel“, dass „extremistische Siedler Gewalt gegen unschuldige Menschen im Westjordanland“ ausübten.

Biden hatte sich schon am Mittwoch besorgt über „extremistische“ Siedler im Westjordanland gezeigt und Gewalt gegen Palästinenser verurteilt. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron rief die israelischen Behörden ebenso auf, der „Gewalt gewisser Siedler“ gegen palästinensische Zivilisten ein Ende zu setzen. „Wir rufen Israel dazu auf, alles zu unternehmen, um die Palästinenserinnen und Palästinenser vor den Aktivitäten extremistischer Siedler zu schützen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“, hieß es am Montag aus Deutschland.