Zerstörte Zivilfahrzeuge auf der Zufahrt zum Kibbutz Kfar Aza, Israel
Reuters/Ronen Zvulun
7. Oktober

Hamas-Terrorangriff großteils rekonstruiert

Ein Monat nach dem verheerenden Terrorangriff der Hamas auf Israel lässt sich der Ablauf des Massakers am 7. Oktober zumindest großteils rekonstruieren. Von einer kleinen Gruppe geplant, wurden die meisten der Angreifer offenbar erst in letzter Minute informiert. Einzelnen Einheiten wurden demnach spezifische Aufgaben zugewiesen. Und laut Experten war die Terrororganisation selbst vom Ausmaß des Angriffs überrascht. Doch einige Fragen sind weiterhin offen.

Mehrere Medien versuchten in den vergangenen Tagen und Wochen, die Ereignisse des 7. Oktobers zusammenzutragen und einzuordnen. Zuletzt veröffentlichte der britische „Guardian“ eine Rekonstruktion des Angriffs.

Diese Darstellung beruhe auf unterschiedlichen Quellen, heißt es in dem Artikel – darunter Gespräche mit israelischen Geheimdienstmitarbeitenden, Quellen mit direkter Kenntnis von Vernehmungsberichten von bei dem Angriff gefangen genommenen Hamas-Kämpfern sowie von der Hamas und dem israelischen Militär freigegebenes Material. Einige Behauptungen seien „schwer zu überprüfen“, aber gleichzeitig von unabhängigen Hamas-Experten als plausibel bezeichnet worden.

Befehle erst in Morgenstunden

Laut „Guardian“ sollten alle Hamas-Männer, die gezielt vorbereitet worden waren, an den Morgengebeten in ihren gewohnten Moscheen teilnehmen. Dort seien mündlich die nächsten Befehle weitergegeben worden: Treffpunkte, an denen die – meist sehr jungen – Männer bewaffnet erscheinen sollten. Alles andere wurde dem Bericht zufolge noch geheim gehalten.

Erst als sich die Männer dort versammelt hatten, wurden zusätzliche Munition und größere Waffen verteilt – Handgranaten, Panzerfäuste, schwere Maschinengewehre, Scharfschützengewehre und Sprengstoff. Dann wurden die Männer mit spezifischen Aufgaben betraut: Jeder Einheit, so der „Guardian“, wurde ein eigenes Ziel zugewiesen, Militärstützpunkte, ein Kibbuz, eine Straße oder eine Stadt.

Teilweise seien den Befehlen Karten beigefügt gewesen, auf denen die Verteidigungsanlagen und die wichtigsten Punkte des Ziels eingezeichnet waren. Laut „Guardian“ gehörte das Musikfestival, bei dem 260 Menschen starben, nicht zu den ursprünglichen Zielen. Wann und wie der mörderische Überfall auf das Rave entschieden wurde, ist unklar.

Drei Aufgaben

Drei Aufgaben wurden an verschiedene Einheiten vergeben. Eine erste Gruppe erhielt demnach den Befehl, die israelischen Militärstützpunkte rund um Gaza zu überwältigen oder Zivilistinnen und Zivilisten in ihren Häusern anzugreifen. Vor allem die Angriffe auf militärische Ziele sollen von den Nukhba-Kadern durchgeführt worden sein, der Elitetruppe der Hamas-Terroristen.

Zerstörte Polizeistation
Reuters/Ronen Zvulun
Von einer Polizeistation in Sderot nahe der Grenze zu Gaza blieben nur Trümmer

Eine zweite Gruppe sollte Stellungen gegen die israelischen Streitkräfte verteidigen, wenn diese eintrafen. Laut „Guardian“ sei das aber nicht als Suizidmission geplant gewesen – auf diesen Punkt hätten die Planer auch Wert gelegt.

Eine dritte Gruppe von Einheiten hatte den Auftrag, so viele Geiseln wie möglich zu nehmen und sie nach Gaza zu bringen. An den Grenzen warteten demnach spezielle Trupps, um die Geiseln in den riesigen Tunnelkomplex unter dem Gazastreifen zu bringen.

Angriff auf Überwachungs- und Kommunikationssystem

Um 6.30 in der Früh begann der konzertierte Angriff: Zwischen 2.500 und 3.000 Raketen aus dem Gazastreifen gingen auf Israel nieder. In den Grenzzaun wurden laut „Le Monde“ an rund 30 Stellen Lücken gesprengt und teilweise mit Bulldozern vergrößert. Angegriffen wurden zunächst die Grenzstationen der israelischen Armee, es gelang zudem, das Überwachungs- und Kommunikationssystem zum Großteil auszuschalten. Kameras wurden laut Berichten mit Drohnen angegriffen. Das dürfte einer der Hauptgründe gewesen sein, wieso die Reaktion der israelischen Armee so spät erfolgte.

Bagger durchbricht Zaun an israelischer Grenze
Reuters/Mohammed Fayq Abu Mostafa
Sogar Bulldozer setzte die Hamas ein, um den Grenzzaun zu überwinden

Motorisiert und zu Fuß stürmten die Angreifer nach Israel, einige auch aus der Luft mit – teils motorisierten – Paragleitern. Die Gefahr von Paragleitern sei dem israelischen Militär bekannt gewesen, schrieb die israelische Zeitung „Haaretz“. Allerdings sei man davon ausgegangen, solche Angriffe unter normalen Umständen einfach abwehren zu können. „Haaretz“ schreibt weiters, die Paragleiter hätten die Angreifer auf dem Boden teilweise zu ihren Zielen geführt – unter anderem zu dem Musikfestival.

Wahlloses Morden

Das Ausmaß des Mordens wurde erst später offenbar: Rund 1.200 Menschen wurden getötet, der Großteil davon Zivilistinnen und Zivilisten. Die Terroristen töteten wahllos Kinder und alte Menschen, Frauen und Männer. In einem Interview mit dem katarischen Sender al-Jazeera versuchte ein ranghoher Hamas-Anführer die Schuld an toten Zivilistinnen und Zivilisten anderen in die Schuhe zu schieben, wie „Kriminellen“ und den Israelis selbst.

Alle Taten der Terroristen widersprechen dem, auch und vor allem, dass zivile Ziele wie Kibbuze überfallen wurden. Auch die schnell in den sozialen Netzwerken verbreiteten Aufnahmen aus Handys der Hamas-Männer strafen diese Aussagen Lügen. Israel zeigte Aufnahmen von Bodycams von festgenommenen und getöteten Terroristen internationalen Journalistinnen und Journalisten. Die darauf zu sehenden Grausamkeiten sind kaum mit Worten zu beschreiben.

Zerstörung im Kibbutz Kfar Aza, Israel
Reuters/Ronen Zvulun
Mehr als 60 Menschen wurden im Kibbuz Kfar Asa ermordet, mehr als ein Dutzend wurden verschleppt

Auch Zivilisten überquerten Grenze

Viele Expertinnen und Experten wie auch israelische Sicherheitsquellen sagten laut „Guardian“, die Hamas sei vom Ausmaß des Terrorangriffs selbst überrascht worden. Die langsame Reaktion der israelischen Streitkräfte habe es einigen Terroreinheiten ermöglicht, mehrfach aus dem Gazastreifen nach Israel zu kommen, um weitere Geiseln zu nehmen, so die Zeitung unter Berufung auf israelische Beamte.

Hamaskämpfer auf einem israelischen Militärfahrzeug
Reuters/Ahmed Zakot
Schwer bewaffnet drangen die Terroristen nach Israel ein

Laut unterschiedlichen Schätzungen waren zwischen 2.000 und 3.000 Hamas-Männer an dem Angriff beteiligt. Die Lücken im Grenzzaun sprachen sich im Gazastreifen in Windeseile herum, einige Medien berichten, die Hamas habe auch per Lautsprechern dazu aufgefordert, die Grenze zu überqueren, und habe quasi ein Kopfgeld auf Geiseln ausgesetzt. Tatsächlich kamen auch Mitglieder der Terrorgruppe Islamischer Dschihad, die in die Pläne wohl nicht eingeweiht waren, nach Israel. Und auch Zivilisten kamen nach Israel – mit welcher Absicht auch immer. Laut einigen Quellen könnten somit bis zu 4.000 Personen aus Gaza die Grenze überwunden haben.

Nur kleinster Kreis eingeweiht

Israelische Sicherheitsbeamte glauben laut „Guardian“, dass die politische Führung der Hamas im Ausland nicht über die Einzelheiten der Operation informiert wurde – ebenso wenig wie der Iran als Hauptgeldgeber, obwohl beide wahrscheinlich wussten, dass etwas geplant war. „Es war ein sehr enger Kreis“, sagte eine der Hamas nahestehende Quelle vergangenen Monat gegenüber Reuters. Das erklärt zumindest teilweise, wieso der israelische Geheimdienst derart überrascht wurde. Zudem vermied man jede Art der überwachbaren elektronischen Kommunikation.

Zwei Drahtzieher

Auch wenn Details zur Planung noch unklar sind, als Drahtzieher gelten zwei Männer: Mohammed Deif und Jahja Sinwar. Deif ist im Gazastreifen der militärische Anführer, Sinwar der politische Anführer der seit 2007 dort herrschenden Hamas. Jahrelang schon agieren die beiden Männer im Verborgenen, alle bisherigen Versuche Israels, sie zu töten, sind gescheitert.

Sinwar war wegen der Tötung zweier israelischer Soldaten 23 Jahre in Israel im Gefängnis gesessen, ehe er 2011 im Zuge eines Gefangenenaustausches für den französisch-israelischen Soldaten Gilad Schalit freikam. 2017 wurde Sinwar zum politischen Führer der Hamas im Gazastreifen gewählt. Von Deif, dem Anführer der Al-Kassam-Brigaden, kursiert nur ein einziges, mehr als 20 Jahre altes Porträt.

Hamas nennt ihre Ziele

Mittlerweile nannte die Hamas auch das Ziel ihres Terrorangriffs: Nach Ansicht von Osama Hamdan, Mitglied im Politbüro der Hamas, wollte man die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien torpedieren. Das sagte er der dpa in Beirut. Expertinnen und Experten hatten eine solche Absicht schon im Vorfeld vermutet. Saudi-Arabiens Investitionsminister Chalid al-Falih schien dem zu widersprechen: Das Thema Normalisierung der Beziehungen mit Israel sei „nicht vom Tisch“, sagte er.

Verwüstung auf dem Festivalgelände nahe des Kibbutz Reim, Israel
APA/AFP/Jack Guez
Beklemmende Bilder vom überfallenen Musikfestival

Andere Hamas-Vertreter sagten der „New York Times“, man habe den Plan verfolgt, einen dauerhaften Kriegszustand mit Israel auszulösen. Der Terrororganisation gehe es darum, die palästinensische Sache mittels Gewalt wiederzubeleben, schrieb die Zeitung unter Berufung auf Gespräche mit mehreren ranghohen Hamas-Mitgliedern. Es sei notwendig gewesen, „die gesamte Gleichung zu ändern und nicht nur einen Zusammenstoß zu haben“, sagte dem „New York Times“-Bericht zufolge Chalil al-Haja von der Hamas-Führung in Doha. „Es ist uns gelungen, die Palästinenserfrage wieder auf den Tisch zu bringen, und jetzt kommt niemand mehr in der Region zur Ruhe.“

Die meisten Expertinnen und Experten vermuten auch, dass die absehbaren militärischen Gegenschläge Israels mit zivilen Opfern einkalkuliert waren: Zum Plan der Terrororganisation gehört damit wohl auch, die Anhänger und Sympathisantinnen im Gazastreifen, im Westjordanland und anderswo zu mobilisieren – auf dem Rücken der Menschen im Gazastreifen.