Menschen flüchten aus Gaza-Stadt
APA/AFP/Mohammed Abed
Israel nennt Zeitfenster

Nächster Aufruf zur Flucht aus Nordgaza

Israels Armee hat der Zivilbevölkerung im umkämpften nördlichen Gazastreifen am Sonntag ein neues Zeitfenster für die Flucht in den Süden des Küstengebiets genannt. Zudem soll ein Durchgang zwischen dem größten Spital in Gaza, dem Al-Schifa-Krankenhaus, und einer Verbindungsstraße in Richtung Süden geschaffen werden, wie die Armee am Sonntag mitteilte. Israel ruft die Zivilbevölkerung in der Stadt Gaza und im Norden seit Wochen dazu auf, sich in den Süden des Küstenstreifens zu begeben. Noch immer befinden sich zahlreiche Menschen im nördlichen Gazastreifen – wie viele, ist nicht bekannt.

Den israelischen Angaben zufolge gab es am Sonntag erneut ein Zeitfenster von mehreren Stunden. Der Fluchtkorridor sei zwischen 9.00 und 16.00 Uhr Ortszeit (8.00 bis 15.00 Uhr MEZ) geöffnet gewesen. Israelischen Armeeangaben zufolge bewegten sich allein in den vergangenen drei Tagen 150.000 Menschen in den Süden.

Im Zusammenhang mit dem neuerlichen Evakuierungsaufruf kündigte die israelische Armee für zwei Gebiete in Nordgaza auch eine „taktische Pause“ der Kämpfe zu „humanitären Zwecken“ an. Israel operiert mittlerweile auch mit Bodentruppen in weiten Teilen des nördlichen Gazastreifens.

Laut Augenzeugenberichten fuhren israelische Panzer auf zentralen Straßen der Stadt Gaza. In den Fokus rückten zuletzt zudem das Al-Schifa-Spital und mehrere andere Krankenhäuser. Laut dem Palästinensischen Roten Halbmond hätten sich israelische Panzer etwa bis auf 20 Meter dem Al-Kuds-Spital genähert. Palästinensischen Angaben zufolge sei auch das Al-Schifa-Spital zuletzt mehrfach unter Beschuss geraten. Israels Armee dementierte Vorwürfe über Angriffe und erneuerte den Verdacht, dass unter dem größten Gaza-Krankenhaus ein Hamas-Kommando- und Kontrollzentrum vermutet werde.

Israel: Hamas hat Kontrolle in Nordgaza verloren

Die Hamas hat nach Angaben des israelischen Militärs die Kontrolle über den Norden des Gazastreifens verloren. Premier Benjamin Netanjahu betonte in einer Fernsehansprache in der Nacht auch, dass es keinen Waffenstillstand geben wird, solange die Geiseln nicht zurück in Israel sind.

Man feuere nicht auf das Spital, doch gebe es Gefechte mit Hamas-Kämpfern in dessen Umgebung, sagte ein Armeeoffizier. Die Menschen könnten das Krankenhaus noch immer sicher verlassen, erklärte Oberst Mosche Tetro von COGAT, einer Einheit des israelischen Verteidigungsministeriums, die mit Palästinenserinnen und Palästinensern in zivilen Angelegenheiten zusammenarbeitet. Die Ostseite des Geländes stehe für jeden offen, der sich in Sicherheit bringen wolle.

Israelische Soldaten im Gazastreifen
Reuters/Israeli Defense Forces
Israelische Soldaten auf einem Strandabschnitt in Nordgaza

Netanjahu: Hamas hat Kontrolle verloren

Nach israelischer Darstellung habe die Hamas mittlerweile die Kontrolle über den nördlichen Teil des Gazastreifens verloren. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte am Samstagabend, Hamas-Kämpfer hätten „keinen sicheren Ort mehr, um sich zu verstecken“. Auch das Militär hatte zuvor mitgeteilt, die Hamas kontrolliere den Norden des Küstenstreifens nicht mehr.

Netanjahu sagte, von Hamas-Chef Dschihia al-Sinwar „bis zum letzten Terroristen“ seien alle todgeweiht. Die Armee habe bereits Tausende Terroristen getötet, darunter auch „Kommandeure, die das schreckliche Massaker am 7. Oktober angeführt haben“. Es werde keine Waffenruhe ohne Rückführung der Geiseln geben, bekräftigte Netanjahu. Zu diplomatischen Bemühungen um eine Freilassung sagte er, man werde die Familien informieren, sobald es etwas Konkretes gebe. Bis dahin sei es besser, zu schweigen.

Spitäler in Gaza laut OCHA-Datenbank und OpenStreetMap-Einträgen, zum Zoomen Touchscreen oder blaue Buttons (rechts) verwenden

„Laufend Luftangriffe“

Schwere Vorwürfe wegen der Vorgangsweise der israelischen Armee kommen von einem im Al-Schifa-Krankenhaus arbeitenden Arzt. Es habe auch am Sonntag weiter heftige Kämpfe um das Spital gegeben. „Wir können kaum die Patienten im Krankenhaus behandeln und sind mitten im Kriegsgebiet“, sagte der Mediziner gegenüber dem Nachrichtensender Al-Jazeera. „Es gibt laufend Luftangriffe, und Drohnen kreisen in der Gegend des Krankenhauses.“

Zerstörte Wohnhäuser im Gazastreifen
Reuters/Alexander Ermochenko
Zerstörte Häuser im Gazastreifen

Das Al-Schifa-Krankenhaus habe nach palästinensischen Angaben am Samstag seinen Betrieb einstellen müssen, weil der Treibstoff für die Stromgeneratoren ausgegangen sei. Laut Netanjahu hatte die Hamas Israels Angebot, dem Spital Treibstoff zu liefern, abgelehnt. „Wir haben dem Schifa-Krankenhaus gerade den Treibstoff angeboten, sie haben ihn abgelehnt“, sagte er dem US-Sender NBC. Details nannte Netanjahu nicht.

Das israelische Militär kündigte in diesem Zusammenhang an, am Sonntag bei der Evakuierung der Neugeborenenstation aus dem Spitalsgebäude helfen zu wollen. Die Mitarbeitenden des Krankenhauses hätten um die Evakuierung der Babys in ein sichereres Spital gebeten, sagte der israelische Konteradmiral Daniel Hagari am Samstagabend. „Wir werden die nötige Unterstützung leisten.“

„USA wollen keine Gefechte in Krankenhäusern sehen“

Die USA sprechen sich nach den Worten des nationalen Sicherheitsberaters Jake Sullivan gegen Feuergefechte in Krankenhäusern aus. „Die Vereinigten Staaten wollen keine Feuergefechte in Krankenhäusern sehen, bei denen unschuldige Menschen, Patienten, die medizinische Versorgung erhalten, ins Kreuzfeuer geraten“, sagt Sullivan dem Sender CBS. „Und wir haben diesbezüglich aktive Konsultationen mit den israelischen Streitkräften geführt.“

Ärzte ohne Grenzen: „Katastrophale“ Situation

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) erklärte am Samstag im Onlinedienst Twitter (X), dass „in den vergangenen Stunden die Angriffe auf das Al-Schifa-Krankenhaus dramatisch zugenommen haben“. Sie sprach von einer „katastrophalen“ Situation in der Einrichtung. Wenige Stunden später erneuerte die Organisation ihren Appell für eine Waffenruhe im Gazastreifen. „Wir werden hier getötet, bitte tun Sie etwas“, habe eine Krankenschwester von MSF aus dem Keller des Krankenhauses am Samstag geschrieben. Teams von MSF und Hunderte von Patientinnen und Patienten befänden sich immer noch in der Klinik.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Hälfte der 36 Krankenhäuser im Gazastreifen nicht mehr funktionstüchtig. „Das Gesundheitssystem ist am Boden – und dennoch wird weiterhin lebensrettende Versorgung geleistet“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus.

Menschen um Einschlagskrater in Khan Younis
Reuters/Mohammed Salem
Luftangriffe gibt es auch im Süden des Gazastreifens – im Bild ein Einschlagkrater in Chan Junis

Rafah wieder für Ausländer geöffnet

Indes sind am Sonntag die seit Freitag ausgesetzten Ausreisen für Ausländerinnen und Ausländer aus dem Gazastreifen wieder angelaufen. Hunderte Ausländer und Palästinenserinnen mit zweitem Pass konnten ausreisen, mehr als 800 von ihnen hätten den Grenzübergang Rafah nach Ägypten überquert, sagte am Sonntag ein Sprecher des Kontrollpunkts auf palästinensischer Seite. Damit hätten seit Wiederöffnung der Grenze vor etwa anderthalb Wochen rund 2.700 Ausländerinnen und Palästinenser mit zweitem Pass das abgeriegelte Küstengebiet verlassen.

Ein Vertreter des Ägyptischen Roten Halbmonds sagte am Sonntag zunächst nur, 500 von ihnen seien auf der ägyptischen Seite des Grenzübergangs angekommen. Die Mehrheit stamme aus Russland und der Ukraine. Zudem seien es Ägypterinnen und Ägypter, die ursprünglich aus den Palästinensergebieten stammten. Das russische Ministerium für Katastrophenschutz teilte ferner mit, am Sonntag seien allein 70 Menschen mit russischem Pass über Rafah ausgereist. Der Grenzübergang Rafah nach Ägypten ist der einzige, der nicht unter israelischer Kontrolle steht.

Reaktion auf Terrorangriff Anfang Oktober

Mit ihren schweren Angriffen im dicht besiedelten Gazastreifen reagiert die israelische Armee auf den Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel. Hunderte Islamisten waren am 7. Oktober nach Israel eingedrungen und hatten Gräueltaten überwiegend an Zivilistinnen und Zivilisten verübt, darunter zahlreiche Kinder.

Laut aktualisierten israelischen Angaben wurden 1.200 Menschen in Israel getötet und mehr als 240 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Nach Angaben der Hamas, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, wurden bei der israelischen Militäraktion zur Vernichtung der Terrororganisation bisher mehr als 11.000 Menschen getötet, darunter 4.500 Kinder.

Warnung an Hisbollah

Angesichts der anhaltenden Angriffe aus dem benachbarten Libanon richtete Israel indes auch eine deutliche Warnung an die Schiitenmiliz Hisbollah. „Macht nicht den Fehler, in den Krieg einzusteigen. Das wäre der Fehler eures Lebens“, sagte Netanjahu am Samstagabend an die Hisbollah gerichtet, die hauptsächlich vom Iran finanziert wird. „Euer Einstieg in den Krieg wird das Schicksal des Libanon besiegeln.“

Der israelische Verteidigungsminister Joav Galant sagte, an der Nordgrenze seines Landes hätten sich „die Provokationen in Aggression verwandelt“. Der größte Teil der israelischen Luftstreitkräfte sei nicht mehr mit dem Gazastreifen beschäftigt, die Flugzeugnasen seien nun nach Norden gerichtet. „Die Bürger des Libanon müssen wissen, dass wenn (Hisbollah-Chef Hassan, Anm.) Nasrallah einen Fehler begeht, das Schicksal Beiruts wie das Schicksal Gazas sein könnte.“

Die Hisbollah verstärkte laut den Worten ihres Anführers Nasrallah ihre Angriffe auf Israel und setzt dabei neue Waffentypen ein. In den vergangenen Tagen sei die Zahl der Angriffe ebenso erhöht worden wie die der angegriffenen Ziele, sagte Nasrallah am Samstag in einer Fernsehansprache. Zudem habe die Hisbollah erstmals Kampfdrohnen und Burkan-Raketen mit einer Bombenlast von 300 bis 500 Kilogramm eingesetzt und Überwachungsdrohnen weit in den Norden Israels gelenkt.