Menschen aus Cherson warten auf einem Amt, um einen Antrag auf einen russischen Pass zu stellen zu können
Reuters/Alexander Ermochenko
Besetzte Ukraine-Gebiete

Russischer Pass als Überlebensversicherung

Wenige Informationen dringen aus jenen ukrainischen Gebieten, die von Russland annektiert sind. Eine Recherche des Investigativnetzwerks der European Broadcasting Union (EBU) zeichnet nun ein drastisches Bild vom Leben in den besetzten Gebieten. Wer sich weigert, einen russischen Pass anzunehmen, wird der Zugang zu Lebensmitteln, Bildung, Arbeitsplätzen, medizinischer Versorgung und lebensrettenden Medikamenten verweigert – wenn nicht sogar Folter und Deportierung drohen.

Vier Gebiete neben der Krim sieht Russland in der Ukraine mittlerweile als eigene Territorien an: Luhansk und Donezk sind seit 2014 von Russland unterstützte Separatistengebiete, zu Beginn des Angriffskrieges 2022 wurden Saporischschja und Cherson annektiert, Letzteres wurde von der Ukraine mittlerweile teilweise zurückerobert.

Ein Team von Journalistinnen und Journalisten mehrerer europäischer öffentlich-rechtlicher Medien sammelte unter dem Dach des EBU-Netzwerks für investigativen Journalismus monatelang Berichte an Ort und Stelle und erhielt damit Beschreibungen des Lebens unter der Besatzung aus erster Hand. Zudem wurden Experten befragt und offizielle Mitteilungen der russischen Behörden analysiert. Anfragen an russische Stellen blieben unbeantwortet.

Systematische Repressionen

Nach Angaben der Vereinten Nationen und Russlands könnten bis zu elf Millionen Menschen unter russischer Besatzung in der Ukraine leben, allerdings ist nicht bekannt, wie viele von ihnen das Land bereits verlassen haben. Die überwiegend ukrainischstämmige Bevölkerung lebt nahezu abgeschnitten von der Außenwelt. Russische Behörden kontrollieren den Zugang internationaler Beobachter und seriöser Nachrichtenorganisationen.

Die Recherchen zeichnen ein Bild einer systematischen Repression durch Russland: „Wenn man die Regeln bricht oder ignoriert, kann es schwer werden zu überleben“, heißt es in dem Bericht. Und sich an die Regeln zu halten heißt auch, russische Pässe anzunehmen.

Menschen aus Cherson auf einem Amt, um einen Antrag auf einen russischen Pass zu stellen
Reuters/Alexander Ermochenko
Ukrainer bei der Beantragung von Pässen in Cherson während der Besetzungszeit

Wehrpflicht für Männer

Die aufgezwungene russische Staatsbürgerschaft hat vor allem für Männer Konsequenzen. Sie sind dann gezwungen, bei den russischen Streitkräften zu dienen. Einem Bericht des russischen Verteidigungsministeriums zufolge stammten von den 300.000 Männern, die im Herbst 2022 für die „spezielle Militäroperation“ in der Ukraine mobilisiert wurden, 80.000 aus den Regionen Donezk und Luhansk. Auch aus den Regionen Cherson und Saporischschja wurde berichtet, dass dortige Rekrutierungsbüros begannen, Männer im wehrfähigen Alter vorzuladen.

Ein vom russischen Präsidenten Wladimir Putin im April unterzeichnetes Gesetz sieht vor, dass Einwohner, die bis Juli 2024 nicht die Staatsbürgerschaft erworben haben, als „Ausländer oder Staatenlose“ betrachtet werden und ausgewiesen werden können. Betroffene berichten, dass ihnen angedroht wurde, das Land ohne ihre Kinder verlassen zu müssen und ihre Kinder in Waisenhäuser zu schicken.

In der Ukraine droht Anklage wegen Hochverrats

Umgekehrt reagierte auch die Ukraine mit Gegendruck: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verschärfte bereits zu Beginn des Krieges die Gesetze zur Bestrafung von Aktivitäten, die als Hochverrat oder Kollaboration mit dem Feind gelten. Für diejenigen in den besetzten Gebieten, die der Ukraine noch die Treue halten, bedeutet das eine fast unmögliche Wahl zwischen zwei Übeln: sich gegen die russischen Besatzer zu stellen oder zu riskieren, der Kollaboration mit beschuldigt zu werden.

Ukraine: Russifizierung schreitet voran

Russland hat weite Teile der Ukraine besetzt, laut UNO leben fast elf Millionen Menschen unter russischer Okkupation. In gefälschten Abstimmungen hat Moskau die ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson annektiert. Die Menschen werden gezwungen, russische Pässe anzunehmen, und die ukrainische Kultur wird verbannt.

Auch deshalb löste das ukrainische Gesetz bei internationalen Organisationen wie dem UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte Besorgnis aus – und auch in der Ukraine selbst gibt es Kritik. Nach Angaben der ukrainischen Nichtregierungsorganisation Chesno untersuchte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft zwischen Jänner 2022 und September 2023 fast 10.000 Fälle von Hochverrat und Kollaboration – teils in Abwesenheit der Beschuldigten.

Zwangseinbürgerung von Senioren

Die Besatzer wiederum begannen ihre „Russifizierung“ bei den schwächsten Gruppen: Nach der Anweisung, vorrangig „Bürger mit eingeschränkter Mobilität“ anzuvisieren, sind auf offiziellen Social-Media-Kanälen russische Beamte in Militäruniformen zu sehen, die in Pensionistenheimen und bei Hausbesuchen Senioren bei der Beantragung und Abnahme von Fingerabdrücken helfen. Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Juni gab es von den Besatzungsbehörden nur dann humanitäre Hilfe, wenn man die russische Staatsbürgerschaft annahm.

Auf einer Werbetafel in Cherson wird für einen russischen Pass geworben, der für Sicherheit sorgen soll
Reuters/Murad Sezer
Ein Werbeschild wirbt für „Sicherheit“ durch einen russischen Pass

Insulin nur mit russischem Pass

Auch medizinische Hilfe und Medikamente wie Insulin bekommen laut Aussagen von Geflohenen nur jene, die sich zu Russland bekennen. Selbst der Tod wird für die Bewohner schwierig. „Es ist unmöglich, eine Person ohne Genehmigung der Besatzungsbehörden zu begraben“, sagt Alexander Samoilenko, Leiter des Regionalrats von Cherson in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten. „Die Beerdigung wird mit einem russischen Pass durchgeführt oder unter irgendeinem Vorwand verweigert.“

Leonid Remyga, Chefarzt des städtischen Krankenhauses von Cherson, sagt, dass in der russischen Besatzungszeit von März bis November 2022 Eltern gezwungen wurden, ihre Neugeborenen als Russen zu registrieren. Gedroht wurde laut Remyga mit der Verweigerung von Windeln und Babynahrung – wenn das nicht half, mit vorgehaltener Waffe.

Folter und Mord

Der Arzt weigerte sich zu kooperieren. Er wurde im September 2022 verhaftet und in eine Untersuchungshaftanstalt gebracht, wo er nach eigenen Angaben selbst Opfer von Folter wurde und auch andere gefolterte Häftlinge medizinisch versorgte. Von systematischer Verfolgung, willkürlichen Festnahmen, Folter und auch Ermordungen spricht nicht nur die EBU-Recherche.

Schon vor einigen Monaten hatte das russische Onlineexilmedium The Insider über derartige Praktiken in der besetzten Stadt Melitopol berichtet. In einem UNO-Bericht von Ende Oktober heißt es, dass russische Behörden in der Ukraine „weitverbreitete und systematische Folter anwenden“.

Indoktrination und Geschichtsrevisionismus in Schulen

Doch nicht nur mit Gewalt operieren die Besatzer: Bei der Indoktrination wird schon bei Schulkindern angesetzt. Das neue Schuljahr begann im September mit einem neuen Geschichtsbuch für die Schülerinnen und Schüler. Es bietet eine neue offizielle Darstellung des Zweiten Weltkrieges, der Sowjetzeit sowie der Annexion der Krim und der Regionen in der Ostukraine durch Moskau.

Das zerstörte Azovstal-Werk in Mariupol mit neu errichteten Statuen nebst russischer Fahne
IMAGO/SNA/Alexandr Suhov
Ukrainische Denkmäler werden geschliffen, russische mit Sowjetsymbolen – hier in Mariupol – errichtet

Die „besondere Militäroperation“ in der Ukraine wird von Putin in dem Buch als „eine Frage von Leben oder Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Volk“ bezeichnet. Für Amnesty International ist es ein „eklatanter Versuch, Schulkinder unrechtmäßig zu indoktrinieren“.

Für Jugendliche ab 16 Jahren wurde eine „militärische Grundausbildung“ in die Lehrpläne integriert. Für Eltern, die ihre Kinder vor der russischen Propaganda schützen wollen, gibt es nur die Möglichkeit eines geheimen Onlineunterrichts, der aber ein großes Risiko darstellt. Wird eine entsprechende App auf einem Mobiltelefon gefunden, drohen Festnahme und Gefängnisstrafe, heißt es in dem EBU-Bericht.

Mariupol als Vorzeigeprojekt

Eine andere Art der Propaganda betreibt Russland in Mariupol. Monatelang tobten im Frühjahr 2022 dort die Kämpfe, ehe sich die letzten Ukrainer im Asow-Stahl-Werk geschlagen geben mussten. In Windeseile versucht Russland nun, die Stadt wiederaufzubauen. Paraden werden abgehalten und russische Influencer in die Stadt gekarrt, um bunte Bilder in die Heimat zu senden.

Eine Yacht in den russischen Farben in Mariupol
AP/Alexei Alexandrov
Propagandashow in Mariupol

Höchste Priorität hat der Wiederaufbau des Theaters von Mariupol. Es war der Schauplatz eines der tödlichsten russischen Einzelangriffe des Krieges, bei dem Hunderte Menschen ums Leben kamen, begraben unter den Trümmern eines Gebäudes, das als Schutzraum diente und auf dem in großen russischen Buchstaben das Wort „Kinder“ geschrieben stand.

Eine neue Schauspielertruppe aus Sankt Petersburg soll das Haus nun bespielen. Für vertriebene Bewohner der Stadt sind die russischen Ambitionen schwer zu ertragen, berichtete auch topos.ORF.at vor Kurzem.

Kriegsverbrechen und Völkermord?

Der US-Historiker und Russland-Experte Timothy Snyder spricht von Kriegsverbrechen – und von Völkermord. „Auf rechtlicher Ebene ist das Bestreben, aus Ukrainern Russen zu machen, ein Völkermord“, sagt Snyder: „Verleugnen, dass eine andere Gruppe von Menschen eine eigene Identität hat oder überhaupt existiert, und dann politische Macht zu verwenden, um sie zu Mitgliedern einer anderen Gruppe zu machen – das ist ganz klar Genozid. Also wir können das Russifizierung nennen, aber legal gesehen ist es Genozid.“

Von dem EBU-Rechercheteam befragte Rechtsexperten sind vorsichtiger: „Die juristische Definition ist recht eng gefasst“, sagt William Schabas, Professor für internationales und humanitäres Recht an der Middlesex University in London.