Ukrainische Soldaten in Zaporizhzhia
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Ukraine

Erschöpfung an der Front

Die Ukraine hat am Freitag Erfolge beim Vorstoß über den Fluss Dnipro im Süden des Landes gemeldet. Russlands Invasionsarmee machte dagegen nach Einschätzung britischer Geheimdienste Fortschritte im Kampf um die ostukrainische Stadt Awdijiwka. Gänzlich festgefahren ist die Front laut einem Militärexperten zwar nicht, sowohl die ukrainischen als auch die russischen Streitkräfte seien jedoch erschöpft.

Nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums erzielen weder Russland noch die Ukraine bei ihren Kämpfen erhebliche Fortschritte. „Mit Einsetzen des kälteren Winterwetters in der Ostukraine gibt es nur wenige unmittelbare Aussichten auf größere Veränderungen an der Frontlinie“, teilte das Ministerium in London am Samstag in seinem täglichen Update mit.

Nach dem Vorstoß ukrainischer Einheiten über den Dnipro hatte die Armee am Freitag „eine ganze Reihe erfolgreicher Einsätze“ am Ostufer in der teilweise von Russland besetzten Region Cherson gemeldet. Es sei gelungen, einige Brückenköpfe zu errichten. Weitere Einsätze am Ostufer seien im Gange.

Am Mittwoch hatte der von der russischen Besatzungsmacht installierte Gouverneur von Cherson, Wladimir Saldo, erstmals eingeräumt, dass ukrainische Streitkräfte den Fluss überquert haben. Bisher verlief die südliche Front zu weiten Teilen entlang des Dnipro.

Neue Angriffslinie im Süden möglich

Der breite Strom, der in das Schwarze Meer fließt, teilt die Region Cherson und war zuletzt auch eine große natürliche Barriere an der Front. Sowohl die Ukraine als auch Russland haben für sich reklamiert, der jeweils anderen Seite dort schwere Verlust zugeführt zu haben.

Ukrainische Soldaten in Zaporizhzhia
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Ukrainische Soldaten in der Region Saporischschja: Kiew meldet Fortschritte im Süden

Ein Vorstoß über den Dnipro ist für die ukrainische Armee von entscheidender Bedeutung. Der Transport schwerer militärischer Ausrüstung und von Vorräten über den Fluss könnte es den ukrainischen Truppen ermöglichen, eine neue Angriffslinie im Süden auf dem direktesten Landweg zur Schwarzmeer-Halbinsel Krim zu eröffnen, die 2014 von Russland annektiert wurde.

Heftige Schlachten im Osten

Der Vormarsch in der Region Cherson erfolgt nach monatelangen Kämpfen im Rahmen einer ukrainischen Gegenoffensive im Südosten und Osten, die den von der Regierung in Kiew erhofften Durchbruch bisher nicht gebracht haben. Die russischen Streitkräfte haben rund 17 Prozent der Ukraine besetzt.

Russische Truppen sind derzeit im Osten erneut in der Offensive, unter anderem in der Gegend der ukrainisch kontrollierten Stadt Awdijiwka und in der Nähe der russisch kontrollierten Stadt Bachmut. Dort kommt es nach jüngsten Angaben des ukrainischen Militärs gegenwärtig auch zu einigen der bisher heftigsten Schlachten. „Russland versucht mit ziemlicher Sicherheit, mit einer Zangenbewegung die Stadt einzukreisen“, teilte das britische Verteidigungsministerium unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse mit.

Experte: „Limitiertes Offensivpotenzial“ auf beiden Seiten

Die Front sei zwar nicht komplett festgefahren, sagte der österreichische Militärexperte Franz-Stefan Gady gegenüber Ö1. Dass eine der beiden Kriegsparteien in nächster Zeit bedeutende Fortschritte macht, ist aus seiner Sicht aber nicht zu erwarten. Sowohl die russischen als auch die ukrainischen Streitkräfte an der Front seien „relativ erschöpft“, so Gady gegenüber Ö1.

Beide Seiten hätten aktuell „limitiertes offensives Potenzial“, sagte Gady, der kürzlich mit anderen Fachleuten die Front besuchte. Man könne „nicht erwarten, dass eine der beiden Seiten in den kommenden Wochen größere Geländegewinne erzielt“, so Gady. Der Konflikt bleibe ein „Abnützungskrieg“.

„Für die Ukraine wäre es gut, 2024 in die Defensive zu gehen“, sagte Gady. So sollte die Kampfkraft der Truppen für „spätere Offensiven“ in den Jahren 2024 und 2025 erhalten werden. Allerdings gebe es politischen Druck, Erfolge an der Front einzufahren, sowohl für die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj als auch gegenüber den westlichen Unterstützern der Ukraine. Zwischen Kiew und seinen Partnern könnte es in den kommenden Monaten „Spannungen“ geben.

3.500 ukrainische Militärs in Gefangenschaft

Über 3.500 ukrainische Militärangehörige sind nach Angaben der Regierung in Kiew weiter in russischer Kriegsgefangenschaft. Insgesamt sei die Gefangenschaft von mehr als 4.300 Ukrainerinnen und Ukrainern in Russland bestätigt, teilte das Ministerium für Reintegration am Freitag mit – davon seien über 760 Zivilpersonen.

Selenskyj: Lage im Schwarzen Meer bessert sich

Die Lage im Schwarzen Meer hat sich unterdessen nach Ansicht von Selenskyj in den vergangenen Monaten zugunsten seines Landes verbessert. „Es ist uns gelungen, Russland im Schwarzen Meer die Initiative zu entreißen“, sagte Selenskyj in Kiew.

Bisher haben nach ukrainischen Angaben 151 Frachter den im August eingerichteten temporären Korridor im Schwarzen Meer genutzt. Dabei seien 4,4 Millionen Tonnen Fracht verschifft worden, darunter 3,2 Millionen Tonnen Getreide, sagte Vizeinfrastrukturminister Jurij Waskow. Derzeit würden 30 Schiffe in ukrainischen Häfen beladen. 22 von ihnen nähmen insgesamt 700.000 Tonnen Getreide auf, die anderen acht würden mit 500.000 Tonnen an anderen Gütern beladen, hieß es.

Kiew meldet Abwehr von russischen Drohnen

Die ukrainische Luftwaffe hat unterdessen in der Nacht auf Freitag nach eigenen Angaben russische Drohnenangriffe über den Regionen Mykolajiw und Odessa im Süden abgewehrt. Auch bei Schytomyr im Zentrum und in der Region Chmelnyzkji im Westen des Landes seien Drohnen abgefangen worden, teilte die Luftwaffe mit. Neun von zehn Drohnen seien abgeschossen worden. Die russischen Streitkräfte hätten zudem nahe der Front in der Region Donezk im Osten mehrere C-300-Raketen abgefeuert.

Beschädigtes Gebäude in Selydove
Reuters/Alina Smutko
Russland überzieht die Ukraine weiterhin mit Raketen- und Drohnenangriffen

Finnland schließt Grenzübergänge zu Russland

Finnland wird unterdessen in der Nacht die Hälfte seiner Grenzübergänge zu Russland schließen. Innenministerin Mari Rantanen sagte in Helsinki, betroffen seien die vier Übergänge Vaalimaa, Nuijamaa, Imatra und Niirala. Die Maßnahme soll vorerst für drei Monate aufrechtbleiben.

Die finnische Regierung wirft Russland vor, Migrantinnen und Migranten ohne Papiere über die Grenze zu schleusen, um das seit April zur NATO gehörende Finnland zu destabilisieren. Regierungschef Petteri Orpo sagte, sein Land sei vorbereitet, die russischen Aktivitäten kämen nicht überraschend.

Aus dem russischen Außenministerium kam Kritik an dem Schritt: Die Grenzschließung sei „Ausdruck der neuen Trennlinien in Europa, die keine Fragen lösen, sondern – im Gegenteil – nur neue problematische Fragen schaffen“, sagte die Sprecherin des russischen Außenamts, Maria Sacharowa.