Zerstörtes Haus nach einem israelischen Luftangriff in der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens
AP/Fatima Shbair
Süden verstärkt im Fokus

Israel weitet Gaza-Offensive aus

Trotz vorsichtiger Hoffnungen auf eine Geiselfreilassung im Gegenzug für eine Feuerpause und etwaiger Zugeständnisse an die Hamas hat das israelische Militär zuletzt angekündigt, die Offensive im Gazastreifen in „zusätzliche Gebiete“ des Palästinensergebiets bringen zu wollen. Israel rief am Montag erneut die noch in Nordgaza verbliebene Bevölkerung auf, das Gebiet Richtung Süden zu verlassen. Gleichzeitig rückte der südliche Gazastreifen zuletzt verstärkt in den Fokus der israelischen Militäroperation.

Israelische Kommandeure hätten zuletzt darauf verwiesen, dass etliche Hamas-Kämpfer angesichts der in Nordgaza vorrückenden Truppen in den Süden geflohen seien, berichtete das „Wall Street Journal“ („WSJ“). Den Angaben zufolge geht das israelische Militär davon aus, dass sich einige zentrale Hamas-Anführer in dicht besiedelten Orten und in Tunneln im südlichen Gazastreifen verschanzt haben.

Auf Israel warte womöglich „die härteste Phase des seit sechs Wochen andauernden Krieges“, hieß es im „WSJ“ mit Verweis auf die dort vermuteten Hamas-Mitglieder, die Geiseln der Hamas und die schlimmer werdende humanitäre Krise im Gazastreifen.

Grafik zur Lage im Gazastreifen
Grafik: APA/ORF; Quelle: CNN/ISW/Warmapper

Ärzte: Dutzende Tote bei Angriff auf Chan Junis

Offiziellen israelischen Angaben zufolge gebe es im Süden in den für die Zivilbevölkerung ausgewiesenen Gebieten ausschließlich gezielte Angriffe auf Anführer der Hamas. Doch auch im Süden kommt es immer wieder zu Luftangriffen mit vielen Toten – zuletzt in der Stadt Chan Junis. Wie die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen am Montag mitteilte, seien dort nach einem israelischen Luftangriff mindestens 70 Tote in einem Krankenhaus gezählt worden.

Die Hilfsorganisation meldete am Montag zudem den Beschuss ihres ambulanten, seit Anfang Oktober aber nicht mehr in Betrieb befindlichen Spitals in Gaza-Stadt. Ein Mitarbeiter und zwanzig Familienangehörige befanden sich laut Pressemitteilung in dem Krankenhaus. „Wir wissen nicht, in welchem ​​Zustand sie sind“, schreibt die Organisation und fordert „dringend ein Ende der Kämpfe in der Region“.

Der israelische Verteidigungsminister Joav Galant hatte am Samstag angekündigt, die Angriffe im Gazastreifen würden in Kürze auf den Süden ausgeweitet. Das Militär ruft die Einwohner des Nordens seit mehr als einem Monat dazu auf, in eine Zone im Süden zu fliehen, die westlich von Chan Junis am Mittelmeer liegt. Zuletzt wurden erstmals auch Einwohner von Chan Junis zur Flucht aufgerufen.

Bericht: Mehr als 10.000 israelische Soldaten in Gaza

Eine Ausweitung der israelischen Militäroperation zeichnete sich zuletzt auch in Nordgaza ab, wo seit Wochen Bodentruppen im Einsatz sind. Einem israelischen Medienbericht zufolge seien aktuell mehr als 10.000 Soldaten im Gazastreifen im Einsatz. Diese befinden sich vor allem in Vierteln der Stadt Gaza und in Dschabalja im Norden des Küstengebiets, wie die Zeitung „Haaretz“ am Montagabend unter Berufung auf die Armee berichtete.

Neuer Evakuierungsaufruf im Norden

Am Montag rief Israels Armee erneut Zivilisten in mehreren Vierteln von Gaza-Stadt zur Flucht auf. Bis 16.00 Uhr Ortszeit (15.00 Uhr MEZ) sollten Bewohnerinnen und Bewohner zu ihrer eigenen Sicherheit in „die humanitäre Zone“ im Süden des Küstenstreifens fliehen, wie ein Sprecher der Armee in der Früh mitteilte. Dabei nannte er auch das Flüchtlingslager Dschabalja.

Dieses wird laut „Guardian“-Angaben von Israel nach wie vor als Schwerpunktgebiet angesehen, in dem die Truppen „Terroristen ins Visier nehmen und die Infrastruktur der Hamas treffen“.

Israel weitet Gaza-Offensive aus

Im Kampf gegen die Hamas versuchen israelische Truppen im Norden des Gazastreifens nach und nach, die Kontrolle zu übernehmen. Auch um das Al-Schifa-Krankenhaus sind israelische Soldaten weiter im Einsatz.

Hamas: Indonesisches Spital belagert

So wie beim Al-Schifa-Krankenhaus, dem größten Spital im Gazastreifen, vermutet Israel auch bei weiteren öffentlichen Gebäuden und Gesundheitseinrichtungen Stützpunkte der Hamas.

Diese warf Israel zuletzt einen Angriff auf das bei Dschabalja gelegene Indonesische Krankenhaus vor, in dem sich noch um die 700 Menschen, darunter viele Patientinnen und Patienten, befinden sollen. „Die israelische Armee belagert das Indonesische Krankenhaus, und wir befürchten, dass dort dasselbe passieren wird wie im Al-Schifa-Krankenhaus“, sagte der Sprecher der von der Hamas kontrollierten Gaza-Gesundheitsbehörde.

Mit weiteren Bild- und Videoaufnahmen versuchte die israelische Armee am Sonntag indes zu belegen, dass die Hamas im und unterhalb des Al-Schifa-Spitals eine große Kommandozentrale eingerichtet hatte – und der Einsatz im Krankenhaus damit gerechtfertigt ist. Gezeigt wurden Bilder eines 55 Meter langen Tunnels unter dem Spital – und Videoaufnahmen, die zeigen sollen, dass die Hamas am Tag des Überfalls auf Israel Geiseln in das Gebäude brachte.

Erstes Feldlazarett laut Hamas angekommen

Erstmals seit Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas hat nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde ein von Jordanien zur Verfügung gestelltes Feldkrankenhaus den Gazastreifen erreicht. 40 mit der Ausrüstung beladene Lastwagen sowie 17 Pflegekräfte überquerten laut den Angaben am Montag von Ägypten aus den Grenzübergang Rafah im Süden des Palästinensergebiets.

Im Süden des Gazastreifens sind nach Angaben des UNO-Nothilfebüros (OCHA) die Pumpen zur Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung wieder angelaufen. Der am Sonntag gelieferte Treibstoff reiche aber nur für einen Betrieb von 24 Stunden, berichtete OCHA am Montag. Die Anlagen waren vor einer Woche heruntergefahren worden, weil es keinen Treibstoff für ihren Einsatz mehr gab.

Im nördlichen Teil des Gazastreifens gibt es laut OCHA derzeit indes keine Hilfsleistungen. Die Sicherheitslage lasse es nicht zu, Material in Gaza-Stadt und im Norden zu verteilen, so OCHA mit Verweis auf Schätzungen, wonach sich noch Hunderttausende Menschen in Nordgaza aufhalten.

ORF-Korrespondent El-Gawhary über Lage in Gaza

ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary war an der ägyptischen Grenze zu Gaza, in Rafah. Er spricht unter anderem über die Hilfe, die derzeit in den Gazastreifen kommt.

Israelische Armee berichtet über Verhöre

Unterdessen gab die israelische Armee bekannt, seit Beginn des Gaza-Krieges Hunderte Palästinenser aus dem Gazastreifen verhört zu haben. Rund 500 Menschen aus dem abgeriegelten Küstenstreifen seien im Zuge der Bodenoffensive von einer Geheimdiensteinheit des Militärs befragt worden, teilte die Armee am Montag mit.

Davon sollen sich 300 Personen als mutmaßliche Terroristen verschiedener Terrororganisationen herausgestellt haben, die für weitere Verhöre auf israelisches Staatsgebiet gebracht wurden. Dafür wurde im Süden Israels eine provisorische Einrichtung eröffnet, wie es vom Militär weiter hieß. Die Einheit ist in der Armee für die „Human Intelligence“ zuständig, also die Gewinnung von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen aus menschlichen Quellen.

Durch die Befragungen sowohl im Gazastreifen als auch in israelischen Einrichtungen seien etwa die Standorte von unterirdischen Tunneln, Lagerhäusern und Waffen aufgedeckt worden. Ebenso habe die Armee Erkenntnisse über die Vorgehensweise der Hamas in den zivilen Strukturen des Küstenstreifens, die ihr bei der Bodenoffensive nutzten, gewonnen.

Ein hochrangiger Beamter sagte laut Mitteilung, dass Mitarbeiter seiner Einheit Tausende Anrufe aus Gaza erhalten hätten, um der Armee offenbar nachrichtendienstlich relevante Informationen zukommen zu lassen – so viele wie nie zuvor. Die Einheit selbst habe mehr als 30.000 Anrufe getätigt und zehn Millionen Text- sowie neun Millionen Sprachnachrichten verschickt, um die Menschen aufzufordern, sich in Sicherheit zu bringen.

Biden: Bald mit Einigung zur Befreiung von Geiseln

Unterdessen geht US-Präsident Joe Biden davon aus, dass eine Einigung zur Befreiung vieler Geiseln im Gazastreifen in Reichweite sein könnte. Auf die Frage eines Journalisten, ob ein solcher Deal absehbar sei, sagte Biden am Montag: „Ich glaube schon.“ Er sei aber derzeit nicht in der Lage, darüber zu sprechen. Auf erneute Nachfrage antwortete Biden mit einem deutlichen Ja.

Unter den rund 240 aus Israel entführten Menschen sollen nach Angaben der israelischen Armee 40 Kinder und Jugendliche sein. Das Militär verbreitete am Montag eine Zusammenstellung von Bildern entführter Kinder auf X (Twitter). Sie hätten zusehen müssen, „wie ihre Familien vor ihren Augen ermordet wurden“, und würden noch immer „von brutalen Schlächtern als Geiseln gehalten“, hieß es in dem Post.

Zuletzt gab es verschiedene Angaben über die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die von Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppierungen am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppt worden waren.