Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka
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Nationalratspräsident

Balanceakt im Hohen Haus

Über mangelnde Aufmerksamkeit kann Wolfgang Sobotka (ÖVP) nicht klagen. Gewollt oder ungewollt rückt der Nationalratspräsident in unregelmäßigen Abständen in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Das Amt, das Sobotka seit gut sechs Jahren bekleidet, lebt zwar auch vom öffentlichen Interesse, doch eigentlich arbeitet der Präsident vielmehr nach innen.

Seit 2017 fungiert Sobotka als Nationalratspräsident, und es ist nicht das erste Mal, dass sein Rücktritt gefordert wird. War es vor gut einem Jahr Ex-Generalsekretär Thomas Schmid, der mit seiner Aussage über das Alois-Mock-Institut Sobotka in Bedrängnis brachte, ist es nun ein heimlich aufgenommenes Audio. Darauf sagt der mittlerweile verstorbene Ex-Justizsektionschef Christian Pilnacek, Sobotka habe versucht, auf Ermittlungen der Justiz Einfluss zu nehmen.

Beide Fälle sind ähnlich gelagert, in beiden wies Sobotka die Vorwürfe als haltlos zurück. Einen Rücktritt lehnte der Nationalratspräsident ab, eine Abwahl ist nicht möglich. Somit wird Sobotka voraussichtlich bis zur nächsten Nationalratswahl das zweithöchste Amt der Republik bekleiden. Wer nach der Wahl an der Parlamentsspitze steht, ist noch offen. Fest steht nur, dass der Nationalrat „aus seiner Mitte“ den Präsidenten, den Zweiten und Dritten Präsidenten wählt.

Plenarsaal des Parlaments
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Ohne Leitung würde die Debatte des Nationalrats nicht so ablaufen, wie sie abläuft

Das geschieht mit einfacher Mehrheit. Wer sich der Wahl stellt, wird in der Regel von den drei stimmenstärksten Klubs bestimmt. Gemäß der politischen Usance kommt der Präsident aus der Partei, die die Wahl gewonnen hat. Aktuell liegt die FPÖ in den Umfragen deutlich vor der SPÖ und der ÖVP. Es ist also möglich, dass die Freiheitlichen den künftigen Parlamentspräsidenten stellen. Das wäre – wie auch ein FPÖ-Kanzler – ein Novum in der Zweiten Republik.

„Sitzungspolizist“ mit Glockenzeichen

Nach Ansicht von Verfassungsjurist Peter Bußjäger muss die Rolle des Nationalratspräsidenten differenziert betrachtet werden. Mit dem Amt gehe eine große Verantwortung einher, weil er als oberstes Organ die Geschäfte des Nationalrats leitet und gleichzeitig über der Verwaltung des Parlaments steht. „Was die politische Seite betrifft, ist er sehr eng an die Geschäftsordnung gebunden, die ihm relativ wenige Spielräume ermöglicht“, sagt Bußjäger zu ORF.at. Vieles im Parlament basiere auf Konsens, auch wenn am Ende der Präsident entscheidet.

Das betrifft besonders Nationalratssitzungen. Im Plenarsaal wacht der Präsident darüber, dass die Würde und Rechte des Nationalrats gewahrt werden. Im Grunde schaut er, dass die Sitzungen in Ruhe und in geordneten Bahnen ablaufen. Ausgestattet mit einer Glocke erteilt der Präsident in seiner Funktion der „Sitzungspolizei“ gegebenenfalls Ordnungsrufe, unterbricht die Reden der Abgeordneten oder gleich die Sitzung. Sollten Besucher und Besucherinnen den Ablauf der Sitzung stören, kann der Präsident die Galerie auch räumen lassen.

Grafik zur Wahl des Nationalratspräsidenten bzw. zur Nationalratspräsidentin
Grafik: ORF

Ist der Präsident verhindert, vertreten ihn die Zweite Präsidentin bzw. der Dritte Präsident – und mit ihnen wechselt für gewöhnlich auch die Art und Weise, wie der Vorsitz geführt wird. Selbst wenn die Aufgaben gesetzlich geregelt sind, hängt vieles von der Person ab, die gerade die Sitzung leitet. „Wer die Geschäftsordnung und die informellen Gesetze des Parlaments kennt, wird besser durch die Sitzung führen“, sagt ein Ex-Klubreferent und hebt die früheren Präsidenten Heinz Fischer (SPÖ) und Andreas Khol (ÖVP) hervor: „Beide lebten die Geschäftsordnung.“

Reputation, Autorität und Respekt

Fischer und Khol konnten jedoch nicht nur mit Rechtsexpertise aufwarten. Bevor sie das Amt des Nationalratspräsidenten antraten, saßen sie bereits mehrere Jahre lang als Abgeordnete im Nationalrat. Dasselbe galt für Barbara Prammer und Doris Bures (SPÖ), die bereits Erfahrungen im Nationalrat sammeln konnten.

Ganz anders sah das bei Elisabeth Köstinger (ÖVP) aus. Sie wurde nach der Wahl 2017 erstmals als Abgeordnete angelobt und am selben Tag zur Präsidentin gewählt. Das sorgte unter Parlamentarierern für Kritik. Waren sich doch viele bewusst, dass das Amt für Köstinger lediglich als Zwischenstation diente, bis die ÖVP-FPÖ-Regierung steht. Dem war dann auch so: Nach einem Monat wechselte Köstinger in die Regierung und Sobotka, der ebenfalls zum ersten Mal als Mandatar im Nationalrat saß, an die Spitze des Parlaments.

„Es ist von Vorteil, wenn der Präsident den Nationalrat von innen und die Usancen im Parlament kennt“, meint Bußjäger. Das, was im Gesetz steht, sei das eine, der Alltag im Plenarsaal das andere. Die Plenartage müssten friktionsfrei ablaufen, und die Verhandlungen dürften nicht unnötig in die Länge gezogen werden. Zwar strahle das Amt allein schon eine gewisse Autorität aus. Doch ein Präsident, der erfahren ist und den Respekt der Abgeordneten genießt, habe es einfacher im Hohen Haus, so Bußjäger.

Der dritte Nationalratspräsident, Norbert Hofer
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Der Dritte Nationalratspräsident Norbert Hofer (FPÖ) vertritt Sobotka und Bures

Vergessen wird oft, dass der Präsident auch die Regierungsmitglieder ermahnen könnte. Denn das Parlament ist das Haus der Abgeordneten, Minister und Ministerinnen sind Gäste und müssen sich quasi erklären. In der jüngeren Vergangenheit hatte zum Beispiel Sobotka – erst nach scharfer Kritik – Staatssekretärin Claudia Plakolm (ÖVP) aufgefordert, Fragen der Abgeordneten nochmals zu beantworten. Im U-Ausschuss erklärte Sobotka dem früheren Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), dass er in Debatten zur Geschäftsordnung kein Rederecht habe.

„Halts die Goschen“

Dass Nationalratspräsidenten mit Abgeordneten auch nicht zimperlich umgehen, zeigt eine Erzählung über Anton Benya (SPÖ), der von 1971 bis 1986 an der Spitze des Parlaments stand. Im März 1972 soll es dem Nationalratspräsidenten im Plenarsaal zu unruhig geworden sein, sodass er sich zu einem „Halts die Goschen, ös Trotteln“ hinreißen ließ. Später habe er sich dafür entschuldigt – er hatte gedacht, das Mikrofon sei ausgeschaltet. In den stenografischen Protokollen von damals lässt sich diese überlieferte Episode nicht finden.

„Bei all den Maßnahmen, die der Präsident setzt oder setzen kann, darf er nicht parteiisch agieren oder mit unterschiedlichem Maß messen“, sagt der Universitätsprofessor. In der Theorie klingt das einfach, in der Praxis kam es aber schon vor, dass sich Mandatare und Mandatarinnen ungerecht behandelt fühlten. Besonders in U-Ausschüssen wurde Sobotka von der Opposition für eine parteiische Vorsitzführung kritisiert. Während die ÖVP-Fraktion jede Frage stellen durfte, hätte er bei den anderen eingegriffen, um die Befragung zu „sabotieren“.

Der zweite Nationalratspräsidentin, Doris Bures
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Bures übernahm ab und zu die Vorsitzführung im U-Ausschuss

Der Spieß wurde auch einmal umgedreht: Als Bures einmal Sobotka im ÖVP-U-Ausschuss vertrat, warf die ÖVP der Zweiten Präsidentin eine „parteiische Vorsitzführung“ vor. Mit ähnlichen Aussagen darf im Jahr 2024 gerechnet werden, wenn zwei neue U-Ausschüsse an den Start gehen. Trotz Kritik will Sobotka die Befragungen leiten. Zwar sieht die Verfahrensordnung tatsächlich vor, dass der Präsident automatisch den Vorsitz übernimmt. Sobotka könnte sich aber vertreten lassen oder die Vorsitzführung an die Präsidiumskollegen übertragen.

Mehrere Köche schaffen Ausgleich

Im Parlament würden viele „Checks and Balances“ existieren, die für einen Ausgleich sorgen, sagt ein Klubdirektor im Gespräch mit ORF.at. Was etwa an Plenartagen geschieht, werde schon im Vorfeld geregelt. In der Präsidialkonferenz, in der die Klubobleute und das Präsidium des Nationalrats vertreten sind, werden die Arbeitspläne erstellt und die Tagesordnungen festgelegt. Gleichzeitig dient die Präsidiale dazu, um Konflikte zu lösen bzw. nicht öffentlich austragen zu müssen. „Nach außen hin soll Konsens herrschen“, sagt der Klubdirektor.

Die Präsidiale ist aber nur ein beratendes Organ, Entscheidungen trifft der Präsident, auch wenn versucht wird, Einvernehmen mit den Klubs herzustellen. In einigen Fällen gilt „die Macht des Faktischen“, wie es im Parlament heißt. „Der Präsident kommt und hat bereits konkrete Vorschläge, wie etwas abzulaufen hat“, sagt der frühere Klubreferent und erinnert an die Anschaffung des „goldenen Klaviers“ auf Initiative von Sobotka. Alleingänge wie diese stehen dem Präsidenten zwar zu, würden in der Regel aber selten vorkommen.

Doris Bures, Wolfgang Sobotka und Norbert Hofer
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Bures, Sobotka und Hofer sitzen seit 2019 im Präsidium des Nationalrats

An der Spitze steht ein Kollegium, dem neben der alltäglichen Arbeit noch eine besondere Rolle zukommt. Alle drei Präsidenten des Nationalrats übernehmen die Aufgaben des Bundespräsidenten, wenn dieser länger verhindert oder gestorben ist. Ersterer Fall trat nach der Aufhebung der Bundespräsidentenwahl 2016 ein, zweiterer nach dem Tod von Bundespräsident Thomas Klestil 2004. Überhaupt werden Nationalratspräsidenten immer wieder Ambitionen für die Hofburg nachgesagt. In der Zweiten Republik war es bisher nur Heinz Fischer, der sowohl an der Spitze des Parlaments als auch des Staates stand.