Grenzpolizei mit Hund bewacht den Grenzzaun an der Bulgarischen Grenze
APA/AFP/Nikolay Doychinov
Pushback-Ermittlungen

Bulgarien als „blinder Fleck“ in EU

Beim EU-Innenministertreffen in Brüssel Anfang der Woche rückt der Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens wieder in den Fokus. Österreich lehnte diesen wegen irregulärer Migration über die Balkan-Route bisher ab. Im Schatten der Debatte gibt es erneut Berichte über Todesfälle, Pushbacks und Gewalt an der türkisch-bulgarischen Grenze. Frontex bestätigte ORF.at, dass intern aktuell zu möglichen Grundrechtsverletzungen ermittelt werde. Ärzte ohne Grenzen (MSF) ortet einen „blinden Fleck“ an den EU-Außengrenzen.

In puncto Bulgarien wurde der Grundrechtsbeauftragte der EU-Grenzschutzbehörde Frontex heuer (Stand: 1. Dezember) in insgesamt sieben intern gemeldeten Fällen zu möglichen Verletzungen der Grundrechte aktiv, teilte die Behörde auf ORF.at-Anfrage mit. Alle Fälle betreffen Pushback-Vorwürfe von Bulgarien in die Türkei, teilte eine Frontex-Sprecherin mit. Vier Fälle würden aktuell noch untersucht. Genauere Angaben machte die Behörde auf Nachfrage nicht.

Die Ermittlungen basieren auf Serious Incident Reports (SIR) durch Frontex-Beamtinnen und -Beamte. Die Berichte dienen der Behörde zur Feststellung von Fehlverhalten und sind in mehrere Kategorien unterteilt. Bei möglichen Verletzungen der Grundrechte wird das Büro des Grundrechtsbeauftragten benachrichtigt, der folglich eine Untersuchung einleitet.

Pushback-Vorwürfe reißen nicht ab

Über Gewalt durch Schlepper, aber auch die Polizei sowie über Pushbacks von Bulgarien in die Türkei hatten in der Vergangenheit bereits mehrere internationale Medien, darunter der ORF im Juli, berichtet. Dokumentiert wurden die Vorwürfe unter anderem von bulgarischen NGOs wie Mission Wings und Bulgarian Helsinki Committee (BHC).

Auch an die NGO Ärzte ohne Grenzen wurden Berichte über Pushbacks und Gewalt an der türkisch-bulgarischen Grenze herangetragen. MSF entschied sich angesichts dessen, ein Projekt in Bulgarien in die Wege zu leiten, erzählt Marcus Bachmann von MSF gegenüber ORF.at.

mit unserer Eine Ärztin, die eine syrische Patientin in Harmanli in der Klinik von Ärzte ohne Grenzen behandelt
Ghada Saafan/MSF
MSF unterstützt Geflüchtete in Harmanli seit dem Sommer medizinisch und psychologisch

Seit dem Sommer ist die NGO in Harmanli in der Nähe der bulgarisch-türkischen Grenze, wo sich ein Aufnahme- und Registrierungszentrum befindet, im Einsatz. Bachmann hatte das Zentrum Mitte November besucht. Die NGO unterstützt Geflüchtete sowohl medizinisch als auch psychologisch.

Grenzpolizei wies Vorwürfe zurück

„Viele Flüchtende berichteten mir, dass sie auf bulgarischem Territorium oder sogar beim Versuch, Bulgarien Richtung Westbalkan zu verlassen, aufgegriffen worden sind und dann (in die Türkei, Anm.) zurückgeführt wurden, also Pushbacks unterworfen waren“, sagte Bachmann zu ORF.at. Auf eine Anfrage zu Pushbacks reagierte das bulgarische Innenministerium nicht.

88.000 Personen seien Schätzungen des BHC zufolge allein 2022 von Pushbacks betroffen gewesen. Die Zurückweisungen von Asylsuchenden an den Außengrenzen sind nach internationalem Recht in fast allen Fällen illegal. Die bulgarische Grenzpolizei hatte die Anschuldigungen bisher zurückgewiesen.

Marcus Bachmann
Sasa Sretenovic/MSF
Marcus Bachmann, Ärzte ohne Grenzen

Berichte über Todesfälle entlang der Grenze

Besorgt zeigt sich MSF auch angesichts des bevorstehenden Wintereinbruchs. Erst am Montag meldeten die bulgarischen Behörden den Todesfall eines Geflüchteten in der Hauptstadt Sofia. Ein Kältetod gelte als wahrscheinlich, hieß es. Der Mann gehörte zu einer zehnköpfigen Gruppe von Geflüchteten, die laut einem Bericht des staatlichen Fernsehens am Stadtrand im Freien entdeckt worden war. Zwei Männer wurden ins Spital gebracht.

Nicht selten bleiben derartige Vorfälle aber verborgen, heißt es von NGOs. MSF verwies gegenüber ORF.at auch auf Schilderungen von September über Todesfälle entlang der türkisch-bulgarischen Grenze. Das bulgarische Innenministerium ließ auch dazu eine Anfrage von ORF.at bisher unbeantwortet.

„Allein in den vergangenen zwei Jahren starben mindestens 93 Menschen auf ihrem Weg durch Bulgarien“, berichtete ARD in Kooperation mit Lighthouse Reports, dem Spiegel, RFE/RL, Solomon und inews am Freitag. Auf bulgarischen Friedhöfen gebe es inzwischen viele anonyme Gräber mit toten Migranten.

Prekäre Lage im Aufnahmezentrum Harmanli

„Bulgarien ist ein gefährlicher, blinder Fleck, was vor allem die Sicherheit und natürlich auch das Wohlergehen – sprich: das Recht der Menschen auf körperliche und psychische Unversehrtheit – betrifft“, sagte der MSF-Vertreter weiter. Über die Nichteinhaltung der EU-Grundrechtecharta und der universellen Erklärung der Menschenrechte zeigte er sich „schockiert“.

Sinnbildlich dafür scheinen auch die über Bulgariens Grenzen hinweg kaum bekannten Zustände im größten Registrier- und Aufnahmezentrum des Landes in Harmanli zu sein. Zum Zeitpunkt von Bachmanns Besuch seien beinahe alle 1.500 Plätze des Zentrums belegt gewesen. Zwischen 100 und 250 Menschen müssten sich eine Nasszelle teilen, 40 Prozent der Menschen litten unter der Krätze, schildert er. Es gebe Küchenschaben und Bettwanzen. Zudem würden viele Fensterscheiben fehlen. Die NGO kümmert sich deshalb um Winterkits.

Eine Zunahme an Rückführungen aus anderen EU-Ländern – darunter Österreich – führe dazu, dass in dem Lager zunehmend auch die Grundausstattung knapp werde. „Die Rahmenbedingungen sind aus medizinischer und auch natürlich aus psychologischer Sicht wirklich besorgniserregend“, sagte Bachmann. „Unter den Bedingungen können Menschen weder physisch, also körperlich, noch psychisch gesund bleiben“, so der MSF-Mitarbeiter. Seitens der Behörden habe es zuletzt aber Bemühungen gegeben, um Ausstattung und Betreuung zu verbessern.

Ein Syrischer Mann sitzt auf einem Bett bei seinem Kleinkind
IMAGO/Guido Koppes
Vater und Kind im Aufnahmezentrum Harmanli im Jahr 2021: An den aktuellen Zuständen im Lager gibt es Kritik

Österreich sieht Bulgarien als wichtigen „Einreisestaat“

Welche Rolle Migration über Bulgarien für Österreich – das in den vergangenen Monaten einen Rückgang bei Asylanträgen feststellte – konkret spielt, ist unklar. Eine Beurteilung darüber sei der Migrationsforscherin Judith Kohlenberger zufolge schwierig. Es gebe keine Möglichkeit, Angaben der unterschiedlichen Länder und Behörden zu verifizieren, sagte sie.

Ein Sprecher des Innenministeriums sagte gegenüber ORF.at: „Bei Bulgarien sehen wir, dass es eine zunehmende Bedeutung als Einreisestaat in die Balkan-Region bekommt.“ Der bulgarische Finanzminister Assen Wassilew betonte in einem Interview mit der „Welt“ hingegen, dass weniger als drei Prozent der Migranten über Bulgarien in die EU gelangen.

In einer Aussendung beschrieb die bulgarische Grenzpolizei das Migrationsgeschehen heuer als „dynamisch“. Der größte Druck wird vor allem an der Grenze zur Türkei vernommen. Konkret teilte die Grenzpolizei mit, dass sie von Jänner bis Ende Oktober 16.336 Geflüchtete aufgegriffen habe. Insgesamt hätten die Behörden 170.000 irreguläre Grenzübertritte an der bulgarisch-türkischen Grenze verhindert. Von Bulgarien ziehen viele Menschen weiter in Richtung Serbien. Die Balkan-Route ist nach dem zentralen Mittelmeer die am meisten frequentierte Route, wie Frontex-Daten nahelegen.

Expertin: „Nicht das richtige Instrument“

Bei der „Bekämpfung“ von irregulärer Migration sei „Schengen nicht das richtige Instrument“, hielt Kohlenberger fest. Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums hätten bisher nicht funktioniert. Sie gab zudem zu bedenken, dass ein gemeinsamer Schengen-Raum „Ressourcen freistellen würde, um diese Außengrenze stärker monitoren zu können, weil man sich nicht mehr auf die einzelnen Innengrenzen fokussieren muss“. Abgesehen davon gebe es ökonomische Effekte, die für einen Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens sprächen, sagte sie.

Bulgariens Ministerpräsident Nikolaj Denkow sah alle Bedingungen für einen Beitritt erfüllt, wie er vergangene Woche in der ZIB2 betonte. Er verwies unter anderem darauf, dass Grenzkontrollen verstärkt worden seien. Die Bemühungen wurden auch von der EU-Kommission erkannt, die sich für einen Beitritt Rumäniens und Bulgariens aussprach. In einem Bericht lobte die Kommission auch Fortschritte im Zuge von Pilotprojekten für schnelle Asyl- und Rückführungsverfahren.

Wien erwartet „keine Entscheidung“

Ein Einlenken Wiens ist nicht zu erwarten: Bei dem Innenministertreffen in Brüssel könne es „keine Entscheidung“ geben, sagte der Sprecher des österreichischen Innenministeriums unter Verweis auf einen niederländischen Parlamentsbeschluss. Bundeskanzler Karl Nehammer und Innenminister Gerhard Karner (beide ÖVP) lehnten die Erweiterung bisher vehement ab.

„Ich halte es für nicht zielführend, etwas, was nicht funktioniert, zu vergrößern“, so Karner Ende November. Vorwürfe über Pushbacks von Bulgarien in die Türkei seien dem Ministerium nicht bekannt. Pushbacks seien illegal und Vorwürfe sollten untersucht werden, wurde betont.

„Ich bin immer wieder erschüttert, dass auf europäischem Boden solche Verhältnisse, die die Menschenwürde verletzen, die körperliche und psychische Unversehrtheit von Menschen gefährden, stattfinden“, sagte Bachmann von MSF. Bulgarien solle als wirtschaftlich schwächstes EU-Land bei der Versorgung von Geflüchteten von anderen EU-Staaten unterstützt werden. Er appellierte an die österreichische Bundesregierung, sich daran zu erinnern, dass „nicht nur der Schutz der Grenzen entscheidend“ sei, sondern „auch der Schutz der Menschen“.