Zerstörung in Khan Younis, Gaza
Reuters/Ahmed Zakot
Schwere Kämpfe

Israel meldet Vorstöße in Chan Junis

Nach der Ausweitung der Angriffe auf den südlichen Gazastreifen hat die israelische Armee in der Nacht auf Donnerstag in der Stadt Chan Junis nach eigenen Angaben Kämpfern der radikalislamischen Hamas schwere Gefechte geliefert. Augenzeugen zufolge befänden sich Soldaten, Panzer, Bulldozer und gepanzerte Mannschaftswagen im Zentrum der zweitgrößten Stadt des Küstenstreifens.

Die israelische Armee erklärte, sie habe „die Verteidigungslinien“ der Hamas durchbrochen und mehrere „Terroristen eliminiert“. Zudem seien in der Umgebung von Chan Junis „30 Tunneleingänge“ zerstört worden. Die Hamas teilte über Telegram mit, dass ihr bewaffneter Arm, die Al-Kassam-Brigaden, „gewaltsam gegen die Besatzungstruppen“ vorgehe.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu sagte in einer Videobotschaft, die Armee habe das Haus von Hamas-Anführer Jahja Sinwar in Chan Junis umzingelt. Dieser versteckt sich laut Armeesprecher Daniel Hagari in einem der Tunnel „unter der Erde“. Der 61-jährige Sinwar gilt als einer der Drahtzieher des beispiellosen Überfalls der Hamas auf Israel am 7. Oktober. 23 Jahre seines Lebens verbrachte er in israelischen Gefängnissen.

ORF-Korrespondent zur Offensive in Gaza

Im Süden des Gazastreifens werden schwere Kämpfe gemeldet. ORF-Korrespondent Nikolaus Wildner meldet sich mit einer Einschätzung der aktuellen Lage aus Israel.

Weiters gab die Armee an, dass die Hamas aus einer als „humanitäre Zone“ ausgewiesenen Gegend im Süden mehrere Raketen Richtung Israel abgefeuert habe. In der Nähe der Orte, von denen aus die Angriffe der Islamisten ausgingen, befinden sich Zelte geflüchteter Zivilisten, wie das Militär mitteilte.

Auch Einrichtungen der UNO gebe es in dem Gebiet namens al-Mawasi am Mittelmeer unweit der Grenze zu Ägypten. Nach Angaben der Armee landete ein fehlgeleitetes Geschoß aus al-Mawasi am Mittwoch auch im Gazastreifen selbst. Es habe dort Zivilisten gefährdet. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen.

Dschabalja offenbar von Panzern umzingelt

Unterdessen führt die israelische Armee auch in Nordgaza Operationen durch. Wie die BBC berichtete, wurden am Donnerstag Panzergranaten auf das Flüchtlingslager Dschabalja abgefeuert. Hunderte Panzerfahrzeuge umzingelten laut Zeugenaussagen das dicht besiedelte Gebiet.

Laut Times of Israel habe die Armee einen wichtigen Hamas-Außenposten in dem Gebiet eingenommen und dabei mehrere Kämpfer getötet. In dem Gebiet sollen Tunnel und Waffen gefunden worden sein, wie die Armee behauptete. Laut Hamas befinden sich noch immer etwa 100.000 Menschen in dem über viele Jahre zur Stadt gewachsenen Lager, diese Angabe ist nicht überprüfbar. Seit dem Ende der Waffenpause gibt es keine Hilfslieferungen in den Norden mehr.

Israels Armee: Riesiges Waffenlager im Norden

Bereits am Vortag entdeckte die israelische Armee im Norden des Gazastreifens nach eigenen Angaben ein riesiges Waffenlager „in der Nähe eines Krankenhauses und einer Schule“. Es handle sich um „eines der größten Waffenlager“, die jemals im Gazastreifen entdeckt worden seien. Weiter hieß es, dass drei israelische Soldaten am Mittwoch bei Kämpfen getötet worden seien.

Angesichts der Ausweitung der Kämpfe kommen die in den Süden geflüchteten Bewohnerinnen und Bewohner zunehmend in Bedrängnis. „Wir sind am Boden zerstört und überfordert“, sagte ein Bewohner von Chan Junis: „Wir brauchen jemanden, der eine Lösung für uns findet, damit wir aus dieser Situation herauskommen.“

UNO: 1,9 Millionen Menschen vertrieben

Die israelische Armee hatte ihre Bodenoffensive zunächst auf den Norden des Gazastreifens konzentriert und die dortige Bevölkerung aufgerufen, sich im Süden des Küstenstreifens in Sicherheit zu bringen. Zahlreiche Menschen waren daher nach Chan Junis geflohen. UNO-Angaben zufolge wurden mittlerweile 1,9 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser innerhalb des Gazastreifens vertrieben.

Einwohner fliehen vor Bodenoffensive in Khan Younis, Gaza
AP/Mohammed Dahman
1,9 Millionen Menschen wurden UNO-Angaben zufolge innerhalb des Gazastreifens vertrieben

Die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) rief die israelischen und ägyptischen Behörden inmitten der Kämpfe dazu auf, den Grenzübergang Rafah für Medienschaffende zu öffnen, damit diese den Übergang in beide Richtungen passieren können.

Israel sagt Gaza mehr Treibstoff zu

Israels Kriegskabinett teilte mit, die Einfuhr von Treibstoff in den Süden des Gazastreifens zu erhöhen. Um einen „humanitären Kollaps“ und den „Ausbruch von Epidemien“ zu verhindern, sei eine „minimale“ Erhöhung der Treibstoffmenge genehmigt worden, erklärte das Büro von Netanjahu auf X (Twitter).

Für die Zivilbevölkerung hat der Treibstoffmangel schwere Folgen: Wie der Palästinensische Rote Halbmond mitteilte, musste der Betrieb von Rettungswagen im Norden am Donnerstag eingestellt werden. „Der Mangel an Treibstoff für Fahrzeuge und die Schließung von Krankenhäusern im nördlichen Sektor machen es unmöglich, Verletzte und Getötete zu evakuieren“, hieß es in einer Mitteilung auf Facebook. 280 Mitarbeiter des Rettungsdienstes wurden bisher getötet, teilte der Dienst der dpa mit.

UNO-Chef mit ungewöhnlichem Appell

Angesichts des Leides der Zivilbevölkerung wächst international die Kritik am Vorgehen der israelischen Armee. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres forderte den Weltsicherheitsrat in einem seltenen Vorgang dringend auf, sich für die Abwendung einer humanitären Katastrophe im Gazastreifen einzusetzen.

In einem Brief an den Sicherheitsrat berief sich der UNO-Chef dazu am Mittwoch erstmals seit seinem Amtsantritt 2017 auf den Artikel 99 der UNO-Charta.

Dieser erlaubt dem Generalsekretär, den Sicherheitsrat auf „jede Angelegenheit hinzuweisen, die seiner Meinung nach die Gewährleistung von internationalem Frieden und Sicherheit gefährden kann“, und ist der UNO zufolge seit Jahrzehnten nicht angewandt worden. Symbolisch verleiht der Generalsekretär seinem Aufruf damit eine größere Bedeutung. Direkte Folgen hat eine Berufung auf Artikel 99 nicht.

UNO-Generalsekretär Guterres
IMAGO/UPI Photo
UNO-Generalsekretär Antonio Guterres drängt auf die Abwendung einer humanitären Katastrophe in Gaza

Scharfe Kritik aus Israel

Israels Außenminister Eli Cohen kritisierte Guterres’ Schritt scharf. „Sein Antrag, Artikel 99 zu aktivieren, und die Forderung nach einem Waffenstillstand in Gaza stellen eine Unterstützung der Terrororganisation Hamas dar“, schrieb Cohen auf X (Twitter). „Jeder, der den Weltfrieden unterstützt, muss die Befreiung Gazas von der Hamas unterstützen.“

Das Verhältnis zwischen Israel und den Vereinten Nationen gilt als sehr belastet. In den UNO-Organen spiegelt sich die Haltung der Länder der Welt, von denen die Mehrheit Israel gegenüber kritisch oder gar feindlich eingestellt ist. Die Vereinigten Arabischen Emirate legten im UNO-Sicherheitsrat inzwischen einen neuen Resolutionsentwurf mit der Forderung nach einem Waffenstillstand vor. Ähnliche Vorstöße waren bisher am Widerstand der USA gescheitert.

Auslöser des Krieges war das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels, das Terroristen der Hamas sowie anderer Terrorgruppen am 7. Oktober in Israel nahe der Grenze zum Gazastreifen verübt hatten. Etwa 1.200 Menschen wurden getötet.

Bei den israelischen Angriffen auf den Gazastreifen sind nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums seitdem mehr als 16.200 Menschen in Gaza getötet worden. Unabhängig lässt sich diese Angabe gegenwärtig nicht überprüfen. Die UNO und Beobachterinnen und Beobachter weisen aber darauf hin, dass sich die Zahlen der Behörde in der Vergangenheit als insgesamt glaubwürdig herausgestellt hätten.