Geflohene aus Khan Yunis beim Kochen auf einer Straße in Rafah
APA/AFP/Mohammed Abed
„Kontrolle verloren“

Sorge wegen humanitärer Lage in Gaza

Nach dem US-Veto gegen eine Resolution über eine Waffenruhe im Gazastreifen wächst die Sorge über die dortige humanitäre Lage. Laut dem Welternährungsprogramm (WFP) steht die Versorgung vor dem Kollaps, Spitäler hätten „die Kontrolle verloren“. Israel setzte unterdessen seine Militäroffensive im Süden des Gazastreifens am Samstag fort.

In Chan Junis im Süden des dicht besiedelten Küstengebiets forderten die israelischen Streitkräfte nach Angaben von Bewohnerinnen und Bewohnern dazu auf, einen weiteren Stadtbereich zu verlassen, der westlich von Vierteln liegt, die das Militär erst kürzlich gestürmt hat.

Der Direktor des Nasser-Krankenhauses in Gaza erklärte gegenüber der BBC, man habe angesichts „der großen Zahl von Verletzten, die im Krankenhaus ankamen, die Kontrolle verloren“. Aufgrund der anhaltenden israelischen Bombardements mehrerer Gebiete in Chan Junis sei man gezwungen, „die Verletzten auf dem Boden und in den Korridoren der Abteilungen zu behandeln, da es an medizinischem Material mangelt“.

Nasser und eine weitere Klinik im südlicheren Teil des Gazastreifens, das Aksa-Krankenhaus in Deir al-Ballah, teilten mit, allein in den vergangenen 24 Stunden habe man 133 Tote und 259 Verletzte gezählt. Aus anderen Gegenden des Gazastreifens lagen noch keine neuen Totenzahlen vor. Insgesamt wurden in dem schmalen Küstengebiet nach palästinensischen Angaben mittlerweile etwa 17.500 Menschen getötet, Tausende weitere werden vermisst.

WFP: Hälfte der Bevölkerung hungert

Neun von zehn Menschen in dem palästinensischen Gebiet hätten nicht jeden Tag etwas zu essen, die Hälfte der Bevölkerung hungere, sagte der Vizedirektor des WFP, Carl Skau, gegenüber Reuters. Nichts habe ihn auf die Angst, das Chaos und die Verzweiflung vorbereitet, die er bei seinem Besuch im Gazastreifen erlebt habe.

Da die Kämpfe in dem Gebiet weitergehen würden, könne nur ein Bruchteil der benötigten Lebensmittel angeliefert werden, erklärte Skau. Die Bedingungen an Ort und Stelle würden die Lieferungen fast unmöglich machen.

Die Israelischen Streitkräfte (IDF) erklärten, sie tun „alles, was wir können“, um Hilfsgüter in den Gazastreifen zu bringen. „Wir öffnen mehr Übergänge und lassen mehr Lastwagen in den Gazastreifen fahren“, sagte IDF-Sprecher Richard Hecht der BBC. Alle Lastwagen, die in die Enklave fahren, müssten aber aus Sicherheitsgründen kontrolliert werden.

Scharfe Kritik von Hilfsorganisationen

Auch andere Hilfsorganisationen kritisierten das Scheitern des Resolutionsentwurfs in der Nacht auf Samstag scharf. „Wir sind entsetzt darüber, dass es dem UNO-Sicherheitsrat nicht gelungen ist, eine Resolution zu genehmigen, die einen humanitären Waffenstillstand und die bedingungslose Freilassung der in Gaza festgehaltenen Geiseln fordert“, hieß es in einer Mitteilung von Save the Children, Aktion gegen den Hunger, Care International und anderen Organisationen.

Auch Oxfam übte scharfe Kritik. Das Veto stelle die Glaubwürdigkeit der USA in Sachen Menschenrechte infrage, es sei ein „weiterer Nagel in den Sarg“, erklärte die USA-Chefin der Hilfsorganisation, Abby Maxmann. Ärzte ohne Grenzen nannte die Entscheidung der USA ein „Votum gegen die Menschlichkeit“. Es mache die USA zum „Mitschuldigen am Blutbad in Gaza“, sagte die Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen in den USA, Avril Benoit.

USA unter Druck

Der Iran warnte vor einer „unkontrollierten Explosion“ im Nahen Osten. „Leider wurde die Waffenruhe abgelehnt (…) mit nur Amerikas Stimme dagegen“, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Samstag bei einer Versammlung in Istanbul. „Eine gerechte Welt ist möglich, aber nicht mit Amerika.“

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas verurteilte das US-Veto als „unmoralisch“. Er mache die USA mitverantwortlich „für das Blutvergießen von palästinensischen Kindern, Frauen und älteren Menschen im Gazastreifen durch die israelischen Besatzungstruppen“, wurde Abbas am Samstag von seinem Büro in Ramallah im besetzten Westjordanland zitiert.

USA berufen sich auf diplomatische Bemühungen

13 der 15 Mitglieder des Gremiums hatten Freitagabend in New York für den Resolutionsentwurf gestimmt. Die USA legten ihr Veto ein, Großbritannien enthielt sich. Zuvor waren bereits ähnliche Initiativen am Widerstand Washingtons gescheitert. Die USA hatten sich stets hinter Israel gestellt und angegeben, dass solche Vorstöße per Resolution die laufenden diplomatischen Bemühungen gefährden könnten.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres hatte in einem seltenen Schritt auf eine humanitäre Feuerpause gedrängt. Er berief sich dazu auf Artikel 99 der UNO-Charta, der seit Jahrzehnten von niemandem in dieser Funktion herangezogen worden war. Dem Artikel zufolge kann der UNO-Generalsekretär dem Rat „jede Angelegenheit zur Kenntnis bringen, die seiner Meinung nach die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden könnte“. Israel kritisierte die Initiative von Guterres.

UNO-Resolution gescheitert

Im UNO-Sicherheitsrat ist ein Resolutionsentwurf für einen sofortigen humanitären Waffenstillstand im Gaza-Krieg gescheitert. Die USA legten am Freitag ihr Veto gegen den von den Vereinigten Arabischen Emiraten eingebrachten Entwurf ein.

25-jährige Geisel für tot erklärt

Unterdessen wurden neue Informationen zu den von der Hamas gefangen genommenen Geiseln bekannt. Ein 25-jähriger Israeli wurde laut Informationen der Geiselfamilien in Gefangenschaft im Gazastreifen ermordet.

Das Forum der Geiselfamilien sowie der Ortschaft Kibbuz Beeri, aus der der junge Mann stammte, teilten das am Samstag mit. Der Student war am 7. Oktober von Terroristen aus dem Grenzort in den Gazastreifen verschleppt worden. Auch seine Großmutter und sein Bruder wurden bei dem Massaker der Hamas ermordet, heißt es.

Nach Angaben der israelischen Armee sind derzeit noch 138 Geiseln in der Gewalt der Hamas und anderer extremistischer Gruppen im Gazastreifen. Bei dem beispiellosen Überfall auf Grenzorte in Israel wurden israelischen Angaben zufolge insgesamt rund 240 Menschen entführt.