Frau auf Straße in Flüchtlingslager
IMAGO/Xinhua
Krieg in Gaza

Kämpfe treiben Flüchtlinge in Enge

Die heftigen Kämpfe zwischen der israelischen Armee und der radikalislamischen Hamas treiben die Flüchtlinge im Süden Gazas immer mehr in die Enge. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte am Sonntag vor einem völligen Zusammenbruch des Gesundheitssystems, die Hilfsorganisation Oxfam nannte die Lage „apokalyptisch“. Laut Israel ergaben sich erstmals Hamas-Kämpfer in großer Zahl.

Nach Angaben von Generalstabschef Herzi Halevi hat die israelische Armee ihre Offensive im Süden des Gazastreifens „intensiviert“. Aus dem Umfeld der Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad verlautete am Sonntag, Kämpfer beider Gruppen lieferten sich rund um die Stadt Chan Junis im südlichen Gazastreifen „heftige Kämpfe“ mit der israelischen Armee. Die Hamas meldete auch „sehr heftige Luftangriffe“. Zugleich gab es, so wie jeden Tag, in Israel wiederholt Luftalarm wegen Raketenbeschusses aus dem Gazastreifen.

Durch die Kämpfe wurden etwa 1,9 Millionen Menschen im Gazastreifen – etwa 85 Prozent der Bevölkerung – vertrieben. Die meisten von ihnen sind inzwischen Richtung Süden geflohen. Die Region Rafah an der Grenze zu Ägypten ist zu einem riesigen Flüchtlingslager geworden. Die Überfüllung und die schlechten sanitären Bedingungen in den Unterkünften des UNO-Palästinenserhilfswerks (UNRWA) tragen bereits zur Ausbreitung von Krankheiten bei.

UNRWA-Chef Philippe Lazzarini warf Israel am Wochenende vor, Palästinenserinnen und Palästinenser massenhaft nach Ägypten vertreiben zu wollen. Ohne ägyptische Zustimmung ist ein solcher Versuch mehr als unwahrscheinlich, da Israel damit eine Krise mit dem großen Nachbarland riskieren würde. Kairo lehnt eine auch nur zeitweilige Aussiedlung auf den Sinai strikt ab und machte zuletzt klar, dass es die gewaltsame Vertreibung nach Ägypten als „rote Linie“ sieht.

Israel weist Vorwurf scharf zurück

Ein Sprecher des israelischen Verteidigungsministeriums, das auch für die palästinensische Zivilbevölkerung zuständig ist, wies den Vorwurf am Sonntag auch entschieden zurück. „Es gibt, gab und wird nie einen israelischen Plan geben, die Bewohner des Gazastreifens nach Ägypten umzusiedeln. Das ist einfach nicht wahr.“ Israel argumentiert, mit den Aufforderungen an die Bevölkerung in Gaza zu flüchten, wolle man dafür sorgen, dass die Zivilbevölkerung möglichst wenig durch Kampfhandlungen betroffen ist.

Blick auf Zelte von Flüchtligen
APA/AFP/Mahmud Hams
Improvisiertes Lager von Binnenflüchtlingen, die von Chan Junis weiter nach Rafah flüchten mussten

Ein israelischer Regierungssprecher wies am Sonntag auch Vorwürfe des jordanischen Außenministers Aiman Safadi zurück, wonach Israel mit dem Krieg gegen die Hamas eine systematische Politik der Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen betreibe. Die Äußerung sei „unerhört und falsch“.

Gazastreifen in Blöcke unterteilt

Israel entwarf ein Gridsystem, mit dem der Gazastreifen in sichere und unsichere Blöcke aufgeteilt wird. Bei den Aufforderungen – elektronisch und via Flugzettel – wird via QR-Code angegeben, wohin die Bevölkerung jeweils genau flüchten soll. Allerdings ist die Internetverbindung immer wieder unterbrochen, und auch scheinbar sichere Zonen sind vor möglichen Angriffen nicht völlig sicher. Israels Armee begründet das damit, dass es mittlerweile den Verdacht gibt, Hamas-Kämpfer würden sich im Schutz der Zivilistinnen und Zivilisten in sichere Zonen flüchten. In Israels Kommandozentrale und auf den Tablets der Kommandanten im Feld werden die Zonen je nach Anzahl noch verbliebener Bevölkerung in unterschiedlichen Farben angezeigt.

Eindringliche WHO-Warnung

WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus sagte am Sonntag, es gebe besorgniserregende Anzeichen für epidemische Krankheiten im Gazastreifen. Zugleich stehe das Gesundheitssystem im Gazastreifen kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch, warnte Tedros. Von 36 Krankenhäusern seien nur noch 14 teilweise funktionsfähig, davon nur zwei im Norden.

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) gab an, für die notleidende Bevölkerung im Gazastreifen fast keine humanitäre Hilfe mehr leisten zu können. „Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagte Martin Frick, Leiter des Berliner Büros des Programms, am Sonntag in Dubai.

Für Oxfam Lage „apokalyptisch“

Seit Kriegsbeginn sind nach Fricks Angaben insgesamt nur gut 1.800 Lastwagen in den Gazastreifen gelangt. „Zu Friedenszeiten waren das 10.000 pro Monat“, sagte er. Nun fehle im Gazastreifen seit Wochen alles Wesentliche, so Frick weiter: Lebensmittel, Wasser, Medikamente, medizinische Betreuung. Die Hilfsorganisation Oxfam nannte die Lage „apokalyptisch“. Auch Deutschland forderte von Israel einen besseren Schutz und mehr Hilfe für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen.

Israel bestreitet die Verantwortung für die zunehmende humanitäre Krise im umkämpften Gazastreifen. „Die internationalen Organisationen schaffen es nicht, Hilfsgüter in dem Tempo zu verteilen, wie Israel die Lieferungen inspiziert“, sagte Regierungssprecher Eilon Levi am Sonntag. Seit 7. Oktober seien 63.000 Tonnen an Hilfsgütern in den abgeriegelten Küstenstreifen gelangt, darunter 6.500 Tonnen an medizinischem Bedarf.

Israel: Viele Hamas-Kämpfer ergaben sich

Die Armee veröffentlicht seit Tagen Videos und Fotos vom riskanten Häuserkampf gegen die Hamas. In den teils engen Gassen der Orte im Gazastreifen kommt es dabei zu einem Nahkampf von Tür zu Tür mit Maschinenpistolen, Handgranaten und Panzerfäusten. Immer wieder werden dabei auch Eingänge zu Tunneln, die sich angeblich in Schulen oder Wohnhäusern befinden, sowie umfangreiche Waffenfunde gezeigt.

Israels Armee versucht, öffentlich den Eindruck zu vermitteln, dass die Hamas ins Schwanken geraten ist. Armeesprecher Daniel Hagari erklärte, Dutzende Terroristen, die sich zuletzt gemeinsam ergeben haben, hätten ausgesagt, dass sich die Kämpfer in einer „schwierigen Lage“ befänden, sie ohne Kommandanten in Tunneln säßen und die Hamas-Führung unter Hamas-Chef Jahja Sinwar die „Realität leugnet“. Keine dieser Angaben kann von unabhängiger Seite überprüft werden.

Netanjahu: Krieg geht weiter

Premierminister Benjamin Netanjahu begrüßte das US-Veto gegen eine Resolution des UNO-Sicherheitsrats, die einen sofortigen humanitären Waffenstillstand in Gaza forderte.

Unterdessen rief Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die für die Hamas im Gazastreifen Kämpfenden dazu auf, ihre Waffen niederzulegen. „Ergeben Sie sich jetzt“, sagte Netanjahu in einer am Sonntag im Fernsehen übertragenen Ansprache.

Debatte über halbnackte Gefangene

In der Nacht auf Sonntag kursierte ein Video aus dem nördlichen Gazastreifen im Internet, auf dem laut israelischen Medien ein mutmaßlicher Hamas-Kämpfer zu sehen sei. Der Mann tritt aus einer Reihe anderer Männer, die wie er nur mit Unterhose bekleidet sind, mit erhobener Waffe hervor, geht an einem Panzer vorbei und legt diese vor einem israelischen Soldaten nieder. Die Szene zeige, wie sich die Männer den israelischen Truppen ergeben, hieß es in dem Bericht. Ihre Identität konnte jedoch nicht unabhängig überprüft werden.

Die Veröffentlichung von Bildern halbnackter palästinensischer Männer sorgte in sozialen Netzwerken vielfach für Empörung. Der Armee wurde bewusste Erniedrigung vorgeworfen. Israel wies die Kritik zurück und sprach von einer Sicherheitsmaßnahme, um die Verdächtigen auf Sprengstoffwesten und andere Waffen durchsuchen zu können.

Hamas kündigt Fortsetzung der Kämpfe an

Der Sprecher des bewaffneten Arms der Hamas, Abu Obeida, kündigte unterdessen am Sonntag eine Fortsetzung der Kämpfe gegen die israelischen Truppen an. Den Soldaten gelinge es allen Versuchen zum Trotz nicht, den „Widerstand“ der Hamas zu brechen, sagte Obeida im Fernsehen. Er kündigte gleichzeitig an, dass keine Geisel den Gazastreifen lebend verlassen werde, wenn die Forderungen seiner Organisation nicht erfüllt würden.

Zwei Monate Krieg und kein Ende in Sicht

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas war am 7. Oktober durch den Großangriff der Hamas auf Israel ausgelöst worden. Israelischen Angaben zufolge wurden dabei etwa 1.200 Menschen getötet und rund 240 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.

Nach dem Hamas-Überfall begann Israel mit massiven Angriffen auf Ziele im Gazastreifen. Nach Angaben der Hamas, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, seien dort seitdem mindestens 17.700 Menschen getötet worden, die meisten Frauen und Kinder. Israel zufolge umfasse die Zahl nicht nur Zivilisten, sondern auch alle getöteten Hamas-Kämpfer. Laut Israel seien mindestens 7.000 von ihnen bisher getötet worden. Die Angaben beider Seiten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.