Eine Rauchsäule über dem Gazastreifen nach Bombardements von Israel
AP/Leo Correa
„Unerträgliche Tragödie“

Irrtümliche Tötung von Geiseln erschüttert Israel

Die versehentliche Tötung dreier Geiseln im Gazastreifen durch die israelische Armee hat Erschütterung in Israel ausgelöst. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bezeichnete den Vorfall am Freitag als „unerträgliche Tragödie“ und erklärte: „Der gesamte Staat Israel trauert an diesem Abend.“ Die drei von der radikalislamischen Hamas verschleppten Männer waren von israelischen Soldaten während Kämpfen in Schudschaija in Nordgaza erschossen worden – zum Hergang werden erste Details bekannt.

Die Armee äußerte „tiefstes Bedauern über den tragischen Vorfall“. Dieser werde untersucht, „sofortige Lehren“ seien daraus gezogen und an alle israelischen Einheiten übermittelt worden. „Wir haben unseren Soldaten gesagt, dass sie zusätzliche Vorsicht walten lassen sollen, wenn sie mit Personen in Zivilkleidung konfrontiert werden“, sagte Armeesprecher Jonathan Conricus dem US-Fernsehsender CNN.

Geiseln hielten weißes Stück Stoff in die Höhe

Am Nachmittag gab das israelische Militär dann erste Details zur versehentlichen Tötung bekannt. Die getöteten Männer seien mehrere dutzend Meter entfernt von den Truppen aus einem Gebäude gekommen, sagte ein Vertreter des Militärs. Dabei seien sie ohne Hemd gewesen, einer habe einen Stock mit einem weißen Stück Stoff in der Hand gehalten. Ein Soldat habe sich den Angaben nach bedroht gefühlt und das Feuer eröffnet.

Zwei der Männer seien direkt getötet worden. Ein dritter Mann sei zurück in das Haus geflüchtet. Ein Kommandeur habe zwar angeordnet, das Feuer zu stoppen, doch als der dritte Mann zurück ins Freie getreten sei, sei erneut geschossen worden. Dabei sei auch dieser getötet worden. „Ich möchte sehr deutlich sagen, dass dieses Vorgehen gegen unsere Einsatzregeln war“, sagte der Militärvertreter. Den Angaben nach war auch ein Hilferuf auf Hebräisch zu hören.

Angreifer oft mit „Jeans und Sneakers“

Gleichwohl machte der Militärvertreter deutlich, dass es sich bei dem Gebiet um eine aktive Kampfzone handelte. Truppen seien dort bereits in Hinterhalte gelockt worden. Zudem seien Angreifer oft in „Jeans und Sneakers“ unterwegs.

Untersucht werde derzeit auch, ob es einen Zusammenhang mit einem Haus in der Nähe gebe, auf dem die Buchstaben SOS angebracht waren. Die Truppen im Gazastreifen seien an die Einsatzregeln erinnert worden, um solche tragischen Vorfälle zu vermeiden, hieß es. Die Untersuchung des Vorfalls dauere an. Unklar sei weiter, ob die Männer ihren Entführern entkommen konnten oder bewusst zurückgelassen wurden.

Leichen nach Israel gebracht

Die Leichen der drei Geiseln wurden Armeeangaben zufolge nach Israel gebracht. Die israelischen Streitkräfte identifizierten die versehentlich Getöteten als den 26-jährigen Alon Lulu Schamris und den 28-jährigen Musiker Jotam Haim, die beide aus dem Kibbuz Kfar Asa entführt worden waren, sowie den 25-jährigen Beduinen Samer al-Talalka aus dem Kibbuz Nir Am.

Proteste vor Verteidigungsministerium

Während sich die Nachricht von der versehentlichen Tötung der drei Geiseln verbreitete, versammelten sich Freitagabend vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv Hunderte Demonstrierende. Unter ihnen waren Angehörige von Geiseln. Die Protestierenden forderten ein rasches neues Abkommen zur Freilassung der verbliebenen Geiseln.

Demonstrationen in Tel Aviv nach der irrtümlichen Tötung dreier Geiseln durch das israelische Militär
Reuters/Violeta Santos Moura
Nach Bekanntwerden des tragischen Vorfalls gab es Proteste in Tel Aviv

In der Menge wurden israelische Flaggen geschwenkt und Plakate mit Porträts von Geiseln in die Höhe gehalten. „Jeden Tag stirbt eine Geisel“ stand auf einem der Plakate. „Wir sind nach einem niederschmetternden Abend hier versammelt, und ich sterbe vor Angst“, sagte der Demonstrant Merav Svirsky, dessen Bruder als Geisel in den Gazastreifen verschleppt wurde. „Wir fordern, dass es jetzt ein Abkommen gibt.“

Israel: Demos für Freilassung der Geiseln

Hunderte Menschen haben in Israel für die sofortige Freilassung der Geiseln demonstriert, die noch von der Hamas gefangen gehalten werden. Das israelische Militär hat beim Kampf gegen die Hamas versehentlich drei israelische Geiseln getötet.

„WSJ“: Israel und Katar sprechen über Geiselfreilassung

Unterdessen wollen in Norwegen Vertreter Israels und Katars am Samstag einen Neustart der Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln in der Gewalt der Hamas beginnen. Das berichtete das „Wall Street Journal“ ohne Angaben von Quellen.

Unter der Vermittlung des Emirates Katar waren Ende November mehrere Dutzend Geiseln freigekommen, im Austausch für palästinensische Gefangene. Unter ihnen waren auch die Frau und die Kinder des israelisch-österreichischen Doppelstaatsbürgers Tal Schoham, der sich offenbar immer noch in der Gewalt der Terroristen befindet. Nachdem eine Vereinbarung über eine Verlängerung des Deals scheiterte, nahm Israel seine Militäraktion zur Vernichtung der Terrororganisation Hamas wieder auf.

US-Regierung: Vorfall „herzzerreißend“

Die US-Regierung nannte den Tod der drei Geiseln „herzzerreißend“ und „tragisch“. „Natürlich ist das kein Ergebnis, das sich irgendjemand gewünscht hat“, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, am Freitag. Er gehe davon aus, dass die Israelis sich den Vorfall genau ansehen würden, um herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Der Fall eigne sich aber nicht, um ein allgemeines Urteil darüber zu fällen, ob das israelische Militär in der Lage sei, im Gazastreifen präzise vorzugehen, sagte Kirby weiter.

Aufklärung zu Tod von Kameramann gefordert

Unterdessen berichtete der Nachrichtensender al-Jazeera, dass einer seiner Kameraleute im südlichen Gazastreifen getötet wurde. Der Videojournalist Samer Abu Dakka wurde zusammen mit einem Kollegen verletzt, als er über den Beschuss einer Schule berichtete, teilte der Sender am Freitagabend mit.

Der Verband der Auslandspresse (FPA) forderte das israelische Militär zu einer Untersuchung auf. „Wir halten das für einen schweren Schlag gegen die bereits eingeschränkte Pressefreiheit in Gaza und fordern die Armee zu einer sofortigen Untersuchung und Erklärung auf“, teilte der Verband mit, der Auslandsjournalisten in Israel und den palästinensischen Gebieten vertritt.

Israel hatte seine Militäroffensive im Gazastreifen am Freitag trotz internationaler Rufe zur Zurückhaltung fortgesetzt. Im Norden des Gebiets stiegen Rauchwolken auf, in Chan Junis im Süden gab es nach Angaben des von der islamistischen Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums „Dutzende Getötete und Verletzte“. Der israelische Militärsprecher Daniel Hagari sagte, Truppen seien am Donnerstagabend in Kämpfe mit Militanten in zwei Distrikten der Stadt Gaza verwickelt gewesen. Es werde in den kommenden Tagen „noch mehr harte Schlachten“ geben.

Appell an Israel, Siedlergewalt zu beenden

Zuvor hatten die EU, Großbritannien, die Schweiz, Norwegen, Kanada und Australien Israel zu einem Ende der Siedlergewalt gegen Palästinenser aufgerufen. Israel müsse „konkrete Maßnahmen ergreifen, um die beispiellose Gewalt israelischer Siedler im besetzten Westjordanland zu stoppen“, hieß es in einer am Freitag in Paris veröffentlichten gemeinsamen Erklärung. Auf dem EU-Gipfel jedoch konnte man sich nicht auf eine gemeinsame Erklärung zum Nahost-Konflikt einigen.