aufsteigeder Rauch nach Raketeneinschlag in Chan Junis
AP/Mohammed Dahman
Israelische Armee

Haben Chan Junis eingekesselt

Am Tag mit den bisher schwersten israelischen Verlusten hat die Armee nach eigenen Angaben die zweitgrößte Stadt im Gazastreifen, Chan Junis, eingekesselt.

Die Truppen hätten am Montag bei einem umfangreichen Einsatz die im Süden gelegene zweitgrößte Stadt des Gazastreifens eingekreist und den Kampf in der Region intensiviert, teilte das Militär mit. „Das Gebiet ist eine bedeutende Hochburg der Chan-Junis-Brigade der Hamas.“ Bodentruppen seien in Nahkämpfe verwickelt, die Luftstreitkräfte griffen an. „Dutzende Terroristen“ seien dabei „eliminiert“ worden.

Zuvor gab die Armee den bisher größten Verlust an einem Tag seit Kriegsbeginn bekannt: Es fielen insgesamt 24 Soldaten bei Kämpfen in Gaza – 21 davon allein bei einem Raketenangriff der Hamas, der zwei Gebäude, in denen sich die Soldaten aufhielten, zum Einsturz brachte.

Schwere Kämpfe

Im Westen von Chan Junis gab es zuletzt Augenzeugen zufolge heftige Kämpfe zwischen Mitgliedern der Hamas und israelischen Soldaten. Der palästinensische Rote Halbmond sprach von Dutzenden Toten und Verletzten. Die Stadt gilt als Hochburg der Hamas. Israel vermutet in dem Tunnelnetzwerk in der Gegend die Führung der Terrororganisation und auch israelische Geiseln. Bereits am Montag hatte die Armee eine Ausweitung ihrer Offensive im südlichen Gazastreifen verkündet.

Frau kniet vor einer leeren Trage und hält sich die Hände vor das Gesicht
Reuters/Ahmed Zakot
Täglich sterben in Gaza weiter Dutzende Menschen, viele von ihnen Zivilisten

Unklar ist aber, wie die Armee weiter vorgehen will. Eine Vertreibung der Bevölkerung und praktisch völlige Zerstörung der Stadt – ähnlich wie in Gaza-Stadt – ist in Chan Junis nicht möglich. Das würde noch deutlich mehr Leben von Zivilistinnen und Zivilisten kosten. Auch müsste die Armee mit einer hohen Zahl an Gefallenen rechnen. Zudem ist die Stadt wohl zu nahe an der Grenze zu Ägypten, das Israel im Fall von Massenvertreibungen und Zwischenfällen an der Grenze mit Konsequenzen droht.

Druck in Israel steigt

In Israel wächst die Kritik an Regierungschef Benjamin Netanjahu, der sich weiterhin weigert, im Kriegskabinett über eine Strategie für die Zeit nach dem Krieg gegen die Hamas zu beraten, und damit weiter alle Pläne der USA für einen Frieden auf Basis einer Zweistaatenlösung und eine Neustrukturierung der gesamten Region blockiert. Immer mehr ehemalige hochrangige Militärs kritisieren, dass es für die Armee unmöglich ist, erfolgreich einen Krieg ohne definierte strategische Ziele zu führen.

Zudem steigt der Druck der Geiselangehörigen. Nach der Erstürmung einer Ausschusssitzung im Parlament am Montag berichteten befreite Geiseln in einer Sitzung des parlamentarischen Forums gegen Gewalt an Frauen über das Erlittene. Mädchen und junge Frauen würden von den Hamas-Wärtern mit zu kleiner Kleidung angezogen und seien wie deren „Marionetten“, mit denen sie tun könnten, was sie wollten.

Viele würden vergewaltigt, viele hätten keine Regel mehr. Auch der Protest vor Netanjahus Residenz in Jerusalem geht weiter. Dort haben Geiselangehörige vor Tagen Zelte aufgeschlagen und wollen erst wieder abziehen, wenn sich Netanjahu zu einem Deal mit der Hamas bereiterklärt.

Angehörige von Hamas-Geiseln protestieren in Jerusalem
AP/Ohad Zwigenberg
Angehörige mit einem an Netanjahu gerichteten Transparent: „Das Blut der Geiseln ist an deinen Händen“

Laut Medienberichten gibt es seit wenigen Tagen wieder Verhandlungen über einen Geiseldeal. Israel bot den Angaben zufolge eine zweimonatige Feuerpause an, die Hamas fordert allerdings ein Ende des Krieges und lehnt die Exilierung ihrer Führung zudem strikt ab. Katar, einer der Hauptvermittler, zeigte sich am Dienstag trotzdem optimistisch und betonte, viele der Medienberichte seien irreführend – ohne zu sagen, welche damit gemeint sind. Dienstagnachmittag verschärfte Regierungssprecher Eilon Levi die Position: Israel lehne eine Feuerpause ab, solange die Hamas nicht alle Geiseln aus ihrer Gewalt entlassen habe.

Umfrage: Mehrheit in Israel für Zweistaatenlösung

Laut einer am Montag in „Haaretz“ und Times of Israel veröffentlichten Umfrage der für eine Zweistaatenlösung eintretenden Genfer Initiative ist trotz des Rechtsrucks nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober eine knappe Mehrheit von 51,3 Prozent der Befragten für eine Zweistaatenlösung, wenn im Gegenzug alle Geiseln freikommen und es eine Normalisierung der Beziehungen mit Saudi-Arabien gibt. Interessant dabei: Nur 73 Prozent der Mitte- und Links-Wähler sind dafür, doch immerhin auch 39 Prozent der Rechts-Wähler.

Die Punkte fassen im Wesentlichen die Strategie zusammen, die US-Präsident Joe Biden verfolgt – mit der er sich aber bei Netanjahu mehrmals eine Abfuhr holte.

24 israelische Soldaten im Gazastreifen getötet

Bei den Kämpfen im Gazastreifen hat Israel die schwersten Verluste seit Beginn des Krieges gegen die Hamas erlitten. Wie das israelische Militär heute mitteilte, wurden gestern 24 Soldaten getötet. Das ist die höchste Totenzahl aufseiten der israelischen Armee an einem Tag in dem Palästinensergebiet.

Netanjahu ist auf seine rechten und rechtsextremen Koalitionspartner angewiesen, um – vorerst – politisch überleben zu können. Deshalb und auch weil er es selbst aus Überzeugung ablehnt und überzeugt ist, so in die Rolle des einzigen hart verhandelnden Staatsmannes zurückfinden zu können, blockiert Netanjahu eine Zweistaatenlösung. Offenbar selbst um den Preis, damit sein politisches Lebensziel zu torpedieren, nämlich als jener israelische Regierungschef in die Geschichtsbücher einzugehen, der mit Saudi-Arabien Frieden schließt. Sicher ist ihm derzeit nur der Platz als Verantwortlicher für das größte Trauma und die größte Niederlage Israels.