Beschädigt UNRWA-Schule von außen
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Gazastreifen

Umstrittenes Hilfswerk „ohne Alternative“

Das UNO-Palästinenserhilfswerk (UNRWA) könnte laut jüngsten Angaben bereits Ende Februar gezwungen sein, die Arbeit einzustellen. Wichtige Geberländer hatten wegen schwerer Vorwürfe gegen UNRWA-Mitarbeiter Zahlungen gestoppt. Israel will gar das Ende des UNRWA-Mandats erwirken. Es ist Israel schon lange ein Dorn im Auge. Alternativen zum UNRWA gebe es nicht, sagt hingegen die Nahost-Expertin Bente Scheller zu ORF.at.

Keine andere Organisation sei „so schnell in der Lage“, die Arbeit des Hilfswerkes umzusetzen – vor allem nicht inmitten des Krieges, sagt die Nahost-Expertin der Heinrich-Böll-Stiftung. „Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist wirklich katastrophal und sie verschlechtert sich mit jedem Tag“, betont sie. Die humanitäre Versorgung – und damit das UNRWA – sei von „außerordentlicher Bedeutung“. „Schon vor dem Krieg war es so, dass ein Großteil der Bevölkerung Gazas von der Versorgung durch das Hilfswerk abhängig war. Das hat sich jetzt noch einmal dramatisch zugespitzt.“

Darauf wiesen zuletzt auch diverse UNO-Organisationen in einer Stellungnahme hin: „Dem UNRWA Mittel zu entziehen ist gefährlich und würde zu einem Zusammenbruch des humanitären Systems im Gazastreifen führen.“ Würden die Geldgeber ihre Zahlungen nicht wieder aufnehmen, müsse das UNRWA die Arbeit einstellen, mit „verheerenden Auswirkungen für die Zivilgesellschaft“, sagte Matthias Schmale, der das Hilfswerk bis 2021 leitete, am Mittwoch im Ö1-Interview. Im Raum steht, dass das Hilfswerk seine Arbeit in der gesamten Region Ende Februar einstellen muss.

Auch Österreich stoppte Zahlungen

Der Hintergrund: 13 von insgesamt 13.000 im Gazastreifen tätigen Mitarbeitern des Hilfswerks stehen im Verdacht, in den Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober verstrickt gewesen zu sein. Zehn Prozent aller Mitarbeiter hätten überdies Verbindungen zur Hamas oder dem Islamischen Dschihad, berichtete das „Wall Street Journal“ unter Berufung auf ein israelisches Geheimdienstdossier. Die UNO will die Vorwürfe prüfen.

Mehrere Staaten – darunter Österreich, Deutschland, Großbritannien, Japan, Kanada, Neuseeland und die USA – kündigten als Reaktion an, ihre Zahlungen an das Hilfswerk vorerst zu stoppen. EU-Chefdiplomat Josep Borrell kritisierte das am Donnerstag. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verlangte am Mittwoch gar ein Ende des UNRWA-Mandats. Andere UNO-Behörden müssten die Organisation ersetzen, sagte er. Aktuell scheint das kaum umsetzbar. Viele Palästinenser sind von den UNRWA-Angeboten abhängig. Diese reichen von Bildung über Gesundheitsvorsorge und Sozialdienste bis hin zu humanitärer Hilfe.

Palästinensische Frau bekommt Essensvorrat von UNRWA-Arbeiter
APA/AFP
Von Nothilfe bis Gesundheitsfürsorge: Das UNRWA kümmert sich seit Jahrzehnten um die Belange der Palästinenser

Verhältnis zu Israel seit jeher angespannt

Überraschend ist Israels Haltung nicht – seine Beziehung zu dem UNO-Hilfswerk gilt seit Jahrzehnten als angespannt. Um den Konflikt zu verstehen, muss ein Blick auf die Geschichte des Hilfswerks geworfen werden: Das UNRWA wurde 1949 gegründet. Es kümmert sich um die als Flüchtlinge registrierten Palästinenser und ihre Nachkommen, die aufgrund der israelischen Staatsgründung 1948 und des folgenden ersten arabisch-israelischen Krieges vertrieben wurden oder geflohen sind.

Die in den palästinensischen Gebieten, im Libanon, in Jordanien und in Syrien tätige Organisation hat das Mandat der UNO, den in ihrem Einsatzgebiet offiziell registrierten palästinensischen Flüchtlingen humanitäre Hilfe und Schutz zu gewähren, „bis eine gerechte und dauerhafte Lösung für ihre Situation gefunden ist“.

Israel kritisiert Sonderstellung

Aufgrund des vererbbaren Flüchtlingsstatus stieg die Zahl der Flüchtlinge von rund 750.000 im Jahr 1948 auf mittlerweile 5,9 Millionen Menschen an. Von den 2,4 Mio. Einwohnern des Gazastreifens sind UNO-Angaben zufolge rund 1,7 Mio. als Flüchtlinge registriert. Viele von ihnen leben in Flüchtlingslagern.

Dass die Palästinenser nicht unter das Mandat des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) fallen, sondern seit Jahrzehnten von einer eigenen UNO-Organisation betreut werden, kritisierte Israel mehrfach. Außerdem wirft es dem UNRWA – dessen Mitarbeiter fast ausschließlich Palästinenserinnen und Palästinenser sind – vor, an keiner Lösung der Flüchtlingsfrage interessiert zu sein.

Vor allem Artikel elf der Resolution 194 der UNO-Generalversammlung von 1948 birgt Konfliktpotenzial. Darin ist festgeschrieben, dass es friedliebenden palästinensischen Flüchtlingen erlaubt sein soll, in ihre Häuser zurückzukehren. In der Resolution zur Gründung des UNRWA wird daran erinnert. Israel lehnt das Recht auf Rückkehr ab, da es dadurch seine Existenz gefährdet sieht. Das UNRWA gab auf seiner Website an, „im Gegensatz zum UNHCR“ keine Befugnis zu haben, „nach dauerhaften Lösungen für Flüchtlinge, einschließlich der Rückkehr in Herkunftsländer, zu suchen“.

„Zu sagen, dass das UNRWA eine Rolle dabei hat, dass der Konflikt sich nicht lösen lässt, das zäumt das Pferd von hinten auf“, sagt Nahost-Expertin Scheller. „Das UNRWA hat gar kein Mandat, eine Lösung des Konflikts herbeizuführen, und damit ist es ihm auch nicht möglich, diesen zu verhindern. Es ist da, um die Flüchtlinge zu versorgen, solange keine politische Lösung gefunden ist.“

UNRWA-Schulen wiederholt in der Kritik

Vor allem der Vorwurf, dass das UNRWA von Hamas-Mitgliedern unterwandert werde, nagt seit Langem an dem Hilfswerk. Schon der einstige UNRWA-Chef Peter Hansen vermutete in einem Interview 2004 Hamas-Mitglieder unter seinen Mitarbeitern und sorgte damit für Empörung. Die UNO verwies seither mehrfach auf den strengen Verhaltenskodex der Organisation. Es sei „naiv, zu glauben, dass man in einem Gebiet wie dem Gazastreifen, das von der Hamas kontrolliert wird, arbeiten kann, ohne Arbeitsbeziehungen zu haben, ohne pragmatische Absprachen zu treffen“, so Ex-UNRWA-Chef Schmale.

In jüngerer Vergangenheit rückten wiederholt auch UNRWA-Schulen in den Fokus der Kritik. Ein Bericht der israelischen NGO Institute for Monitoring Peace and Cultural Tolerance in School Education (IMPACT-se) von Frühling 2023 hielt fest, dass das Hilfswerk es verabsäume, hasserfüllte Inhalte, die den Terrorismus verherrlichen und Israel verteufeln, aus seinen Lehrplänen zu entfernen.

In der Vergangenheit hatte die UNO außerdem eingeräumt, dass die Hamas vereinzelt Schulen des Hilfswerkes als Waffenlager missbrauchte. Die Hilfsgelder gerieten angesichts der Vorwürfe mehrfach ins Stocken. Das UNRWA wird größtenteils aus freiwilligen Zahlungen der UNO-Mitgliedsstaaten finanziert.

Unterricht in palästinensischer UNRWA-Schule
Reuters/Ammar Awad
An den Lehrplänen der UNRWA-Schulen wurde wiederholt Kritik geäußert

Warnung vor Destabilisierung von Libanon und Jordanien

Die Warnungen vor den Folgen der jüngsten Zahlungsstopps reißen indes nicht ab. Diese würden „die lebenswichtige Hilfe für mehr als zwei Millionen Zivilisten beeinflussen, von denen mehr als die Hälfte Kinder sind“, erklärten 21 NGOs, darunter Oxfam, Save the Children und der Norwegische Flüchtlingsrat.

„Wenn man darüber nachdenkt, die Zahlungen an das UNRWA einzustellen, wenn auch nur temporär, würde man auch Jordanien und den Libanon destabilisieren“, fügte Nahost-Expertin Scheller hinzu. Im Libanon führten die Zahlungsstopps nach einem Protestaufruf durch die Hamas diese Woche zu Demonstrationen. UNO-Chef Antonio Guterres will an dem umstrittenen Hilfswerk festhalten. Es sei das „Rückgrat aller humanitären Hilfe in Gaza“.