Der israelische Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir
Reuters/Ronen Zvulun
Sanktionen der USA

Jüdische Siedler träumen von „leerem“ Gaza

Erstmals haben die USA Sanktionen gegen mehrere radikale israelische Siedler verhängt. Die Gewalt jüdischer Siedler gegen Palästinenser im Westjordanland hat seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober sprunghaft zugenommen. Und radikale Siedlergruppen versuchen zudem, den seither andauernden Krieg in Gaza zu nutzen, um den schmalen Küstenstreifen wieder dauerhaft unter israelische Kontrolle zu bringen. Die rund zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser sollen zu einer „freiwilligen Abwanderung“ gedrängt werden.

Die Gewalt der Siedler im besetzten Westjordanland habe ein „unerträgliches Ausmaß“ erreicht, begründete US-Präsident Joe Biden am Donnerstag die Maßnahmen gegen zunächst vier Personen. Deren Vermögenswerte in den USA wurden gesperrt und US-Bürgern Finanzgeschäfte mit ihnen untersagt.

Die Sanktionen sind Teil eines Erlasses Bidens, mit dem Personen bestraft werden sollen, denen Angriffe oder „Terrorakte“ vorgeworfen werden oder die „den Frieden, die Stabilität und die Sicherheit“ im Westjordanland untergraben, hieß es. In dem Erlass wird den Siedlern „Zwangsumsiedlung von Menschen und Dörfern und Zerstörung von Eigentum“ vorgeworfen. Mit vier Sanktionierten ist die Maßnahme vorerst ohne große Auswirkungen – hat dafür aber umso größeren symbolischen Wert. Es ist das erste Mal, dass die USA unter solchen Umständen Sanktionen gegen Israelis verhängen.

Zuletzt sorgten die radikalen Siedler vor allem mit der Forderung, die 2005 aufgelassenen jüdischen Siedlungen im Gazastreifen wieder zu errichten, für Aufsehen. Verbunden ist dieses Ziel mit der Forderung, die palästinensische Bevölkerung weitgehend auszusiedeln. Diese Idee der Massenvertreibung sorgt in Europa, aber auch in den USA für scharfe Kritik und Sorgenfalten.

„Freiwillige Abwanderung“

Schon kurz nach dem Überfall der Terrororganisation Hamas mit mindestens 1.200 Toten und Hunderten Entführten sowie dem dadurch ausgelösten Einmarsch Israels in Gaza hatten erste Vertreter der rechts-religiösen und radikalnationalistischen Siedlerbewegung Vergeltungsmaßnahmen gefordert. Ihrer Ansicht nach lässt sich der Dauerkonflikt um Land nur durch ein Entweder-oder lösen. Sie fordern daher ganz offen die „freiwillige Abwanderung“ der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen.

Arabische Staaten und Europa sollten die Menschen – es leben rund zwei Millionen in Gaza – aufnehmen. So wie Europa die syrischen Flüchtlinge aufgenommen habe, solle es nun die Palästinenser aufnehmen. Dabei wird provokant-zynisch darauf verwiesen, wenn Europa von Israel schon die Einhaltung der Menschenrechte einfordere, solle es doch selbst mit gutem Beispiel vorangehen.

Versammlung israelischer Siedler
Reuters/Ronen Zvulun
Siedlerinnen und Siedler bei einer Veranstaltung, in der zum Neubau von Siedlungen in Gaza aufgerufen wurde

Ruf nach Rückkehr der Siedler nach Gaza

Zuletzt wurde diese Forderung bei einem Treffen Tausender Siedler in Jerusalem ganz offen erhoben – und zwar von prominenten Regierungsmitgliedern, allen voran Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir. „Wenn wir keinen weiteren 7. Oktober wollen, müssen wir das Gebiet kontrollieren“, betonte er und forderte die Neuerrichtung jüdischer Siedlungen in Gaza. Auch die Gewalt jüdischer Siedler gegen Palästinenser in der besetzten Westbank nahm seit dem 7. Oktober deutlich zu, wie etwa die israelische NGO B’Tselem noch im selben Monat monierte.

Das Gros der Palästinenser solle freiwillig abgesiedelt werden. Die Pläne sind bar jeder Realität, wie so eine massenhafte Ausweisung funktionieren soll, ist völlig unklar. Und es dürfte Israel im anhängigen Genozidverfahren beim Internationalen Gerichtshof der UNO in Den Haag schaden.

Politisierung eines Traumas

Viele in Israel weisen all das nicht nur inhaltlich zurück, sondern finden diese Politisierung des nationalen Traumas, das der 7. Oktober darstellt, zudem abstoßend. Doch wenige Wochen nach der Tragödie und mitten im andauernden Mehrfrontenkrieg sind in Israel die tiefen gesellschaftspolitischen Gräben wieder allgegenwärtig. Bei vielen Palästinensern lösen der Krieg und solche Zukunftsszenarien wie jene der Siedler endgültig die Angst vor einer neuen „Nakba“ (Katastrophe, der palästinensische Name für die Flucht und Vertreibung aus arabischen Siedlungen 1948 im heutigen Israel, Anm.) aus.

Zerstörte Gebäude im Gazastreifen
Reuters/Amir Cohen
Laut BBC-Analyse sind bereits mehr als die Hälfte aller Gebäude in Gaza zerstört oder beschädigt

Migration als rechtspopulistische Sollbruchstelle

Nicht zuletzt gefährden die Extremnationalisten damit eine über Jahre von Regierungschef Benjamin Netanjahu aufgebaute Brücke zu konservativen und rechten Parteien in Europa. Es war eine stückweise, aber radikale Abkehr von der bis dahin geltenden israelischen Politik, die bei Antisemitismus und Verstößen gegen Menschenrechte – aufgrund der eigenen Geschichte und der Ermordung von Millionen Juden im Holocaust – oft als Mahnerin und Kritikerin auftrat.

Netanjahu dagegen erklärte den Kampf gegen Islamismus und islamistischen Terror zum gemeinsamen Nenner und verzichtete weitgehend auf die Rolle Israels als moralisches Gewissen. Er schloss mehr oder weniger unausgesprochene Deals mit Rechtspopulisten wie Viktor Orban: Solange diese seine Politik unterstützten und etwa innerhalb der EU stärkeren Druck auf Israel im Konflikt mit den Palästinensern verhinderten, bekamen sie von Netanjahu de facto eine Art „Freibrief“ ausgestellt.

Auch beim „heißen Eisen“ Migration fand Netanjahu einen gemeinsamen Nenner mit Rechtsregierungen in Europa. Dieses Bündnis, aus dem beide Seiten bisher Legitimation bezogen haben, würde sich aber wohl schlagartig in Luft auflösen, wenn tatsächlich Palästinenser in größerer Zahl in Richtung Europa flüchten würden.

Jüdische Siedlungen in der Westbank
Reuters/Ammar Awad
Die Siedlung Ofra in der Westbank nahe Ramallah

Scharfe Kritik aus Europa und den USA

Aus den USA und europäischen Ländern kam umgehend scharfe Kritik. Berlin nannte die „Überlegungen zur Vertreibung“ „völlig inakzeptabel“. Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates im Weißen Haus, John Kirby, nannte sie „unverantwortlich, rücksichtslos, aufrührerisch“.

Israels Verteidigungsminister Joav Galant versicherte laut US-Medienberichten der Regierung in Washington bereits, er und das Militär würden eine Wiederbesiedlung von Gaza durch Israelis verhindern. Eine geplante Pufferzone im Gazastreifen werde vorübergehender Natur sein und nur Sicherheitszwecken dienen.

Grafik zu israelischen Siedlungen im Westjordanland
Grafik: APA/ORF; Quelle: Peacenow/OCHA

Abbau der Siedlungen folgte Hamas-Machtübernahme

Israel hatte den Gazastreifen sowie das Westjordanland und Ostjerusalem seit dem Sechstagekrieg 1967 besetzt. Etwa 400.000 Israelis leben heute im Westjordanland in Siedlungen, die von der UNO als völkerrechtswidrig eingestuft werden. Im Jahr 2005 hatte sich Israel vollständig aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Wahlen ein Jahr später ging die Hamas als stärkste Fraktion hervor. Nach längerem Machtkampf riss die Hamas in Gaza die Macht an sich und herrscht dort de facto in Alleinherrschaft seit 2007.

Netanjahu bezeichnete eine Rückkehr israelischer Siedler nach Gaza als „unrealistisch“. Aber auch in seiner rechtskonservativen Partei Likud gibt es zunehmend Stimmen, die sich keine Gedanken über die Beilegung des Landkonflikts mit den Palästinensern machen und stattdessen für eine Ausweitung der Grenzen Israels eintreten.