Zerstörtes Haus nach Luftangriff in Rafah
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Amnesty-Report

„Rechtswidrige Angriffe“ Israels in Gaza

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) spricht von „neuen Beweisen für tödliche, rechtswidrige Angriffe“ im besetzten Gazastreifen. Die Untersuchung von vier Fällen zeige, „wie die israelischen Streitkräfte das humanitäre Völkerrecht missachten“ und „ganze Familien ungestraft auslöschen“, wie es heißt. Amnesty habe vier Angriffe des israelischen Militärs auf Rafah untersucht.

Davon seien drei im Dezember 2023 nach Ende der humanitären Feuerpause und einer im Jänner 2024 verübt worden. Bei diesen Angriffen seien mindestens 95 Zivilistinnen und Zivilisten getötet worden, fast die Hälfte von ihnen Kinder. Amnesty ist der Ansicht, dass alle vier Angriffe wahrscheinlich direkte Angriffe auf Zivilpersonen sowie zivile Objekte seien und daher als Kriegsverbrechen untersucht werden müssten.

Amnesty will zudem herausgefunden haben, dass es bei allen vier Angriffen keinen Hinweis darauf gegeben habe, dass die angegriffenen Wohngebäude als legitime militärische Ziele betrachtet werden könnten oder dass die Menschen in den Gebäuden militärische Ziele waren.

Amnesty: Militär sprach keine wirksamen Warnungen aus

Die gesammelten Beweise deuteten darauf hin, dass das israelische Militär es versäumt habe, vor dem Beginn der Angriffe eine wirksame Warnung auszusprechen – zumindest für die Bewohnerinnen und Bewohner der angegriffenen Orte. Drei der Angriffe seien nachts verübt worden, während sich die Zivilbevölkerung in ihren Häusern und Betten aufhielt.

Zerstörtes Haus nach Luftangriff in Rafah
AP/Hatem Ali
Zerstörtes Haus nach Luftangriff in Rafah – das Foto wurde vor etwa einer Woche aufgenommen

„Ganze Familien wurden bei israelischen Angriffen ausgelöscht, obwohl sie in als sicher eingestuften Gebieten Zuflucht gesucht hatten und von den israelischen Behörden nicht vorgewarnt worden waren. Diese Angriffe zeigen ein anhaltendes Muster, nämlich, dass die israelischen Streitkräfte immer wieder gegen das Völkerrecht verstoßen“, sagte Erika Guevara-Rosas, leitende Direktorin für Forschung, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty.

Die Organisation fühlt sich von der Feststellung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 26. Jänner, dass ein unmittelbares und reales Risiko eines Völkermords bestehe, bestätigt.

Amnesty: Weitere Fälle „rechtswidriger Angriffe“

Zusätzlich zu diesen vier Angriffen habe Amnesty mehrere weitere Fälle dokumentiert, in denen israelische Streitkräfte seit dem 7. Oktober 2023 „rechtswidrige Angriffe“ durchgeführt haben, bei denen Zivilistinnen und Zivilisten getötet und verletzt wurden.

Amnesty kritisierte auch die verschärfte Abriegelung des Gazastreifens, die Verweigerung des Zugangs zu Wasser und Nahrungsmitteln, die zu schwerem Hunger und der steigenden Gefahr einer Hungersnot beigetragen habe, sowie der Zerstörung von Gesundheits- und Bildungseinrichtungen und anderer wichtiger Infrastruktur.

Israel: UNO-Organisationen sollen bei Evakuierung helfen

Unterdessen forderte die israelische Regierung die in der Region tätigen UNO-Organisationen dazu auf, bei der Evakuierung von Zivilisten und Zivilistinnen aus Rafah zu helfen. „Wir fordern die UNO-Organisationen dringend dazu auf, bei den israelischen Bemühungen zur (…) Evakuierung der Zivilisten aus der Kampfzone zu kooperieren“, sagte Regierungssprecher Eilon Levi am Montag.

Grafik zum Gazastreifen
Grafik: APA/ORF; Quelle: CNN/ISW/Warmapper

Israel: Zivilisten als „menschliche Schutzschilde“

Im Krieg gegen die Terrororganisation Hamas bereitet sich Israel derzeit auf eine Militäroffensive in der an Ägypten grenzenden Stadt vor. Zu diesem Zwecke soll das Militär Planungen ausarbeiten, die auch eine Evakuierung von Hunderttausenden Zivilisten vorsehen, die dort auf engstem Raum Schutz suchen. Das geplante Vorhaben in der überfüllten Stadt stößt international auf breite Kritik.

Terroristen der Hamas würden die palästinensischen Zivilisten in Rafah als „menschliche Schutzschilde“ missbrauchen wollen, sagte Levi. Deshalb müssten sie in Sicherheit gebracht werden. An die UNO-Organisationen gewandt, deren Mithilfe Israel einfordere, sagte er: „Sagen Sie nicht, dass es nicht getan werden kann. Arbeiten Sie mit uns und finden Sie es heraus!“

Die Vereinten Nationen zeigten sich skeptisch. Alles, was im südlichen Teil der Region an der Grenze zu Ägypten passiere, müsse unter voller Achtung des Schutzes der Zivilbevölkerung stattfinden, sagte UNO-Sprecher Stephane Dujarric am Montag in New York. „Wir werden uns nicht an der Vertreibung von Menschen beteiligen.“

Israelischer Armeesprecher zu den Plänen Israels

Armeesprecher Arye Shalicar äußert sich zu den Vorwürfen, Israel agiere im Gazastreifen unverhältnismäßig. Schuld an menschlichem Leid sei „einzig und allein“ die palästinensische Führung im Gazastreifen.

UNO-Hochkommissar Türk: Lage in Gaza „schrecklich“

Die Beziehungen zwischen der UNO und Israel haben sich seit Beginn des Krieges gegen die Hamas deutlich verschlechtert. Besonders das UNO-Palästinenserhilfswerk (UNRWA) war zuletzt Anlass für Streit. Kürzlich entdeckte die israelische Armee in der Stadt Gaza einen Tunnel der Hamas, der unter dem UNRWA-Hauptquartier verlaufen soll. Auch sind gegen UNRWA-Mitarbeiter schwere Vorwürfe bekanntgeworden: Zwölf Mitarbeiter des Hilfswerks stehen im Verdacht, in den beispiellosen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober verstrickt gewesen zu sein.

UNRWA-Chef Lazzarini lehnt Rücktritt ab

Der Chef der UNRWA, Philippe Lazzarini, lehnte einen von Israel geforderten Rücktritt am Montag ab. „Nein, ich habe nicht die Absicht, zurückzutreten“, sagte Lazzarini auf einer Pressekonferenz nach einem Treffen der EU-Entwicklungsminister in Brüssel.

Die UNO sei zum Spielball in dem Konflikt geworden, sagte UNO-Menschenrechtskommissar Volker Türk zum ORF Brüssel. Die UNO sei nicht Teil des Krieges, werde aber manchmal in diese Rolle gedrängt. Die UNRWA sei für die Menschen in Gaza unentbehrlich, so der Diplomat.

Die Lage der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza sei „schrecklich, mir fallen eigentlich keine Worte mehr ein“, so Türk zum ORF. Alarmiert und bestürzt sei er vor allem wegen der israelischen Ankündigung, den Krieg gegen die Hamas auf Rafah im Süden Gazas auszudehnen.

Israels Vorgehen „nicht verhältnismäßig“

Der Ort an der Grenze zu Ägypten hatte vor dem Krieg keine 300.000 Einwohner, inzwischen haben 1,4 Millionen Palästinenser vor den Angriffen der Israelis dort Zuflucht gesucht – laut Türk ohne „zureichende Ernährung, ohne zureichende humanitäre Unterstützung“.

Türk sah auch klare Hinweise auf israelische Kriegsverbrechen. Gefragt nach der Kriegsführung Israels, meinte er, die Zahlen sprächen für sich: 100.000 Menschen seien schwer betroffen, 27.000 tot, zwei Drittel von ihnen Frauen und Kinder. Dazu gebe es 60.000 bis 70.000 Verletzte. Die enormen Zerstörungen, die Hälfte der Häuser, große landwirtschaftliche Flächen, und die andauernde Abkoppelung von humanitärer Hilfe sprächen für „kollektive Bestrafung“. Das sei eine Verletzung des humanitären Völkerrechts. „Als ‚verhältnismäßig‘ sehe ich das Vorgehen Israels nicht“, so Türk, der Israel vor einer Militäraktion im Rafah warnte.

Zwei Geiseln befreit

Zuvor hatte die israelische Armee zwei Geiseln aus den Händen der Hamas befreit, während die Verhandlungen über einen weiteren Geiseldeal weitergehen. Die Kommandoaktion in Rafah soll nach israelischem Kalkül die Hamas weiter unter Druck setzen und zu Zugeständnissen führen. Die Terrororganisation äußerte sich zum israelischen Einsatz bisher nicht.

Die USA arbeiten nach Angaben von US-Präsident Joe Biden an einer „mindestens sechswöchigen“ Feuerpause. Seine Regierung arbeite an einem „Geiselabkommen zwischen Israel und der Hamas, das eine sofortige und anhaltende Ruhephase für den Gazastreifen“ bringen werde, sagte Biden am Montag in Washington bei einem Treffen mit dem jordanischen König Abdullah II.