Grenzzaun zwischen Gaza und Ägypten
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Angriff auf Rafah

Ägyptens Dilemma

Die Ankündigung Israels, als letzte große Stadt im Gazastreifen auch Rafah anzugreifen, versetzt seit Tagen die rund 1,4 Millionen dort zusammengepferchten Menschen in Sorge und Panik. Israels Pläne bringen zudem das benachbarte Ägypten in ein Dilemma. Eine Entscheidung zeichnet sich allerdings ab – eine Wende könnte eine rasche Einigung auf einen weiteren Geiseldeal bringen.

Trotz international lauter werdender Empörung und Sorge bezüglich einer israelischen Bodenoffensive in der direkt an der Grenze zu Ägypten gelegenen Stadt dürfte diese unweigerlich näherrücken. Aus israelischer Sicht kann nur durch eine Eroberung Rafahs und des gesamten Grenzstreifens zwischen Gaza und Ägypten die Terrororganisation Hamas entscheidend geschlagen werden. In Rafah vermutet Israel mehrere noch intakte Kampfverbände der Hamas und die 134 Geiseln. Außerdem will Israel die Schmugglertunnel unter der Grenze zerstören.

Die UNO und viele Staaten, darunter enge Verbündete Israels, warnen dagegen vor einer weiteren humanitären Katastrophe. Als Zeichen für die schwer gestörten Beziehungen teilten UNO-Vertreter auch öffentlich mit, dass man bei einer Verlagerung der Bevölkerung aus Rafah nicht mitmachen werde. Man werde sich nicht an einer „Vertreibung“ beteiligen, so etwa Juliette Touma, eine UNRWA-Sprecherin.

Palästinensische Flüchtlinge am Grenzzaun zu Ägypten
AP/Hatem Ali
Bereits jetzt leben viele Binnenflüchtlinge in Zelten entlang der Grenze zu Ägypten

Warnung, aber kein Nein der USA

Die USA machten indirekt klar, dass sie Israel nicht an der Offensive hindern werden, fordern als Vorbedingung aber, dass die Zivilbevölkerung – darunter viele bereits mehrfach Geflüchtete – zuvor in Sicherheit gebracht wird. Die USA sind eines der wenigen Länder, die Israels Regierung von dem Angriff auf Rafah abbringen könnten – etwa durch die Androhung, Waffenlieferungen einzustellen.

Ägypten als zweiter wichtiger Player

Das zweite Land im konkreten Fall ist Ägypten. Es ist das Land, das 1977 als erstes arabisches Land ein Friedensabkommen mit Israel schloss. Zuletzt drohte Kairo Israel öffentlich sogar mit einer Aufkündigung des Friedensvertrags – was Israel nicht riskieren kann. Ägypten will um jeden Preis verhindern, dass Gaza-Bewohnerinnen und -Bewohner massenhaft ins eigene Land flüchten. Entsprechend nervös reagierte Kairo zuletzt auf die Ankündigung Israels, nun auch direkt an der Grenze mit voller militärischer Wucht anzugreifen.

Präsident Abdel Fattah al-Sisi kämpfte jahrelang – auch mit israelischer Geheimdienstunterstützung – letztlich erfolgreich gegen mit dem Islamischen Staat verbundenen Terrorgruppen auf der Sinai-Halbinsel. Diese haben teils auch Verbindungen zur Hamas und schmuggeln für diese etwa Waffen. Eine massenhafte Migration würde die mit großem Aufwand beruhigte Lage am Sinai gefährden. Außerdem befürchtet Kairo, dass Israel eine Rückkehr verhindern könnte.

El Gawahry (ORF) zur geplanten Offensive

Schon seit einiger Zeit greift Israel die Stadt aus der Luft an, auch gab es erste Bodeneinsätze. Dabei wurden in der Nacht auf Montag zwei von der Hamas verschleppte Geiseln befreit. Israel verteidigt sein Vorgehen, ist jedoch zunehmend der Kritik von China, den USA und anderer ausgesetzt. ORF-Korrespondent Karim El Gawhary meldet sich mit einer Einschätzung der aktuellen Lage.

Eine Rolle, die es zu vermeiden gilt

Entsprechend verstärkte Kairo in den letzten Tagen den Grenzschutz mit Dutzenden zusätzlichen Panzern und mehr Personal. Kairo kann und will nicht als Helfershelfer Israels bei einer weiteren Vertreibung der Palästinenser in der muslimischen Welt dastehen.

Wie real die Drohung mit einer Aufkündigung des Friedensvertrags ist, ist schwer einzuschätzen. Aber nicht nur Israel, auch Ägypten hat wohl kein Interesse, dieses seit Jahrzehnten funktionierende Abkommen ernsthaft infrage zu stellen. Dazu kommen die enormen akuten Wirtschaftsprobleme, mit denen das Land zu kämpfen hat, die ein Konflikt mit Israel nur noch verschärfen würde.

Geiseldeal als möglicher Ausweg

In Kairo fand eine weitere hochrangige Runde mit CIA-Chef William Burns, Ägyptens Geheimdienstchef Abbas Kamel und Mossad-Chef David Barnea statt, in der nach einem Deal zur Befreiung der noch in Hamas-Gewalt befindlichen 134 Geiseln gesucht wurde. Ägypten und die USA versuchen offenbar gemeinsam, in der Frage eine Lösung zu finden, und sind eng abgestimmt.

Erst am Montag hatte US-Präsident Joe Biden erneut betont, man arbeite rund um die Uhr an einem Deal, der eine „sofortige und anhaltende“ Waffenruhe für mindestens sechs Wochen in Gaza bringen würde. Das würde eine Waffenruhe mindestens bis zum Ende des Fastenmonats Ramadan bedeuten.

Israelische Delegation reiste aus Kairo ab

Die Gespräche der USA, Ägyptens, Israels und Katars über einen Waffenstillstand verliefen aber bisher ergebnislos. Die ranghohen Vertreter der Länder hätten sich jedoch auf eine Verlängerung der Gespräche um drei Tage verständigt, berichtete die „New York Times“ („NYT“) unter Berufung auf einen ägyptischen Beamten am Dienstag (Ortszeit). Sie sollen von Beamten auf niedrigerer Ebene fortgesetzt werden. Israels Delegation reiste bereits ab. Sie sei bei den Gesprächen „zum Zuhören“ dabei gewesen, hieß es aus dem Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Ein neues Angebot habe man in Kairo nicht unterbreitet.

Der vom „Wall Street Journal“ kolportierte angebliche israelische Plan für Zeltstädte, die von den USA und arabischen Staaten finanziert und von Ägypten verwaltet werden sollen, ist wohl eher als Druckmittel auf die Hamas zu sehen. Diese hat nur noch wenige Tage Zeit, sich zu entscheiden. Für sie geht es um den Erhalt der letzten größeren, funktionierenden Kampfverbände – und eigentlich auch um ein Abwenden der nächsten Katastrophe für die eigene Bevölkerung.

Grafik zum Gazastreifen
Grafik: APA/ORF; Quelle: CNN/ISW/Warmapper

Kairo: „Relativ bedeutende“ Fortschritte

Einem ägyptischen Vertreter zufolge gibt es „relativ bedeutende“ Fortschritte bei den Verhandlungen. Die Menschen in Rafah bangen um ihr Leben und hoffen – so wie es auch UNO-Generalsekretär Antonio Guterres am Dienstag sagte, darauf, dass die Verhandlungen in Kairo „erfolgreich eine Offensive in Rafah verhindern“ können.

Israels Generalstabschef Herzi Halevi schloss Dienstagabend allerdings ein baldiges Ende des Krieges aus: „Unsere militärischen Ergebnisse sind hervorragend.“ Aber es sei „noch ein langer Weg, bis wir die Kriegsziele erreichen können“.