Der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj
Reuters/Wolfgang Rattay
Sicherheitskonferenz

Selenskyj warnt vor „Katastrophe“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Samstag bei seinem Auftritt vor der Sicherheitskonferenz in München den ukrainischen Rückzug aus der seit Monaten umkämpften Stadt Awdijiwka verteidigt – und gleichzeitig vor einer „Katastrophe“ gewarnt, wenn Russlands Präsident Wladimir Putin nicht gestoppt wird.

Russland habe laut Selenskyj derzeit zwar nur einen „militärischen Vorteil, nämlich die völlige Entwertung menschlichen Lebens“. Die Ukraine habe gleichzeitig aber auch nicht genug Waffensysteme.

„Es gibt keine weitreichenden Waffen. Russland hat sie, wir haben sehr wenige davon. Das ist die ganze Wahrheit. Daher sind unsere Hauptwaffen gerade unsere Kämpfer.“ Derzeit werde das Handeln der Ukraine nur durch fehlende Mittel eingeschränkt, wie Selenskyj kurz vor dem zweiten Jahrestag des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine in München ausführte: „Waffenpakete, Flugabwehrpakete, das ist gerade das, was wir erwarten.“

Sicherheitskonferenz: Selenskyj wirbt um Unterstützung

Die Ukraine ist von bereits zwei Jahren Krieg gezeichnet und von den jüngsten Rückschlägen geschwächt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wirbt daher bei der Münchner Sicherheitskonferenz um Unterstützung.

„Künstliches Waffendefizit“

Selenskyj sprach bei der Sicherheitskonferenz unmittelbar nach dem Auftritt von Deutschlands Kanzler Olaf Scholz. Während sich Scholz in seiner Rede jedoch um Zuversicht bemühte und von einem „Silberstreifen“ am Horizont sprach, warnte Selenskyj vor unkalkulierbaren Folgen infolge des „künstlichen Waffendefizits“ und der „Selbstschwächung“.

„2024 erwartet eine Reaktion von uns allen“, sagte Selenskyj laut offizieller Übersetzung. 724 Tage habe sich die Ukraine nun bereits gegen die russische Bedrohung gestellt. „Unser Widerstand hat die Zerstörung der regelbasierten Welt verhindert.“ Mit Blick auf eine Zukunft ohne Krieg müsse Russland aber der Vergangenheit angehören, weil sich das Land nicht an die Regeln halte. Noch könne der internationalen Gemeinschaft das gelingen, „wenn wir alles tun“. Die Frage sei aber, „wie lange erlaubt die Welt es Russland noch, so zu handeln?“.

Selenskyj dankte für die am Freitag unterzeichneten Sicherheitsvereinbarungen mit Deutschland und Frankreich, die eine Zusage langfristiger Unterstützung und weiterer Waffenlieferungen sind. Er warnte aber auch eindringlich vor den Folgen des Krieges: Je länger dieser dauere, desto größer sei die Gefahr einer Ausweitung sowie einer weiteren Beschädigung der internationalen Ordnung.

„Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es Putin gelingen, die nächsten Jahre zur Katastrophe zu machen“, sagte Selenskyj, der in seiner Rede auch vor Gefahren für andere europäische Länder warnte: „Wir müssen gemeinsam in einem Team agieren. Wenn die Ukraine allein dasteht, dann werden Sie sehen, was passiert: Russland wird uns zerstören, das Baltikum zerstören, Polen zerstören – es ist dazu in der Lage.“

Scholz auf Spuren von Willy Brandt

„Ohne Sicherheit ist alles andere nichts“, betonte zuvor Scholz. Der deutsche Kanzler nahm mit seiner Aussage Anleihe beim früheren deutschen Kanzler Willy Brandt, der am Höhepunkt des Kalten Krieges im Jahr 1981 gesagt hatte: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“

Er werbe mit einigen anderen Europäern „ganz eindringlich“ dafür, dass in allen EU-Hauptstädten die Ukraine-Militärhilfe nun aufgestockt werde, sagte Scholz und verwies auf die deutsche Verdopplung der Militärhilfe für die Ukraine. Russland rüste zwar auf, aber Europa habe eine viel größere Wirtschaftskraft, um in einem Rüstungswettlauf zu bestehen.

Engelmayer (ORF) zur Sicherheitskonferenz

ORF-Korrespondentin Maresi Engelmayer berichtet über die Sicherheitskonferenz in München. Sie spricht unter anderem über mögliche Unterstützung für die Ukraine und die Reaktionen zu Nawalnys Tod.

Scholz wies aber darauf hin, dass die russischen Streitkräfte nach zwei Kriegsjahren trotz enormer Verluste intakt seien. „Russland hat seine Armee seit vielen Jahren auf diesen Krieg vorbereitet und auf allen Ebenen neue, gefährliche Waffensysteme entwickelt. Die russische Volkswirtschaft arbeitet längst im Kriegsmodus.“ Putin schicke immer mehr Soldaten an die Front. Hingegen müsse man sich im Westen fragen, ob genug getan werde, um Putin zu signalisieren, dass man für eine lange Krisenzeit bereit sei. Scholz forderte in diesem Zusammenhang mehr Unterstützung vonseiten Europas: „Schließlich reden wir über die größte Sicherheitsbedrohung auf unserem Kontinent.“

Wolodymyr Selenskyj und Kamala Harris
Reuters/Wolfgang Rattay
Selenskyj und Harris beim gemeinsamen Auftritt in München

Harris: Es gibt „nur einen Plan A“

US-Vizepräsidentin Kamala Harris forderte in München unterdessen auch die Menschen in ihrem Land zu einer „standhaften“ Unterstützung der Ukraine auf. „Wir können keine politischen Spielchen spielen“, sagte Harris auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Selenskyj mit Blick auf das Tauziehen um ein 60 Milliarden Dollar (rund 56 Mrd. Euro) schweres Hilfspaket in Washington.

Derlei sollte „keine Rolle“ im Kampf gegen Russland spielen, betonte sie weiter. In Washington wird das Ukraine-Hilfspaket auf Geheiß des früheren US-Präsidenten Donald Trump, der im November erneut zur Wahl antreten will, seit Monaten von den oppositionellen Republikanern blockiert.

Die Unterstützung der Ukraine habe nichts mit Wahlterminen zu tun, sagte Harris. Es gebe „nur einen Plan A: Die Ukraine bekommt, was sie braucht“. Die Vizepräsidentin zeigte sich von der überparteilichen Unterstützung für das Hilfspaket überzeugt: Sie glaube fest daran, „wenn das Gesetz heute zur Abstimmung im Repräsentantenhaus gelangt, wird es verabschiedet“.

Selenskyj: Bereit, mit Trump an Front zu gehen

Selenskyj sagte dazu, sein Land zähle auf die „positive Entscheidung“ des US-Kongresses. Für die Ukraine sei das Hilfspaket „sehr wichtig“ und könnte zum Vorankommen auf dem Schlachtfeld beitragen. „Entscheidungsträger müssen wissen, wie der Krieg in Realität ist, und nicht nur, wie er auf Instagram ist“, sagte Selenskyj zudem Richtung Trump samt Einladung, die Ukraine zu besuchen. „Wenn Trump kommt, bin ich bereit, mit ihm an die Front zu gehen“, wie Selenskyj sagte.

Stoltenberg appelliert an US-Abgeordnete

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg appellierte eindringlich an das US-Repräsentantenhaus, die geplanten Militärhilfen für die Ukraine zu bewilligen. „Jede Woche, die wir warten, bedeutet, dass in der Ukraine mehr Menschen an der Front getötet werden“, sagte der Norweger bei der Sicherheitskonferenz.

Die USA müssten unbedingt das Hilfspaket für die Ukraine beschließen. Das Land müsse halten, was es versprochen habe. Der republikanische Senator Pete Ricketts zeigte sich bei der Podiumsdiskussion überzeugt, dass seine Partei die US-Hilfen im Repräsentantenhaus nicht langfristig blockieren wird. Zugleich verteidigte er die bisherige Blockade und verwies darauf, dass „jedes Land seine eigene Politik und seine eigenen Prioritäten“ habe, sagte er mit Blick auf das Drängen der Republikaner auf mehr Mittel zum Schutz der US-Südgrenze.

Die 60. Münchner Sicherheitskonferenz wurde am Freitag von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres eröffnet. Insgesamt nehmen rund 50 Staats- und Regierungschefs aus aller Welt an der Konferenz teil. Überschattet wurde der Auftakt der Konferenz am Freitag von Berichten über den Tod von Kreml-Kritiker Alexej Nawalny in einem russischen Gefängnis.